Kategorien
Tagesmail

Sonntag, 28. Oktober 2012 – Zwei Naturrechte

Hello, Freunde der Extremsportler-Menschheit,

Felix Baumgartner muss ein Teufelskerl sein. Also eine wahre Lichtgestalt. Man sollte ihm eine planetarische Skulptur widmen, höher als die Christusstatue von Rio. Was die Menschheit beseelt, wovon sie getrieben, hat Felix der Glückliche erahnt, gewusst, gut geheißen und atemberaubend in Szene gesetzt. Nicht als mickrige Erdenkunst, sondern als alles bis dahin Dagewesene sprengende Weltraumkunst.

Er überschritt alle Grenzen, riskierte seinen Tod, hat vor dem Sprung prophylaktisch sein Testament gemacht und seine Todesanzeige abgesegnet. Die Kameras, die seinen Sprung ins Nichts übertragen sollten, wären im Falle des Falles dezent abgeschaltet worden. Sein Helden-Fall hat Adams Fall getilgt. Weil er dem Tode ins Auge schaute, wurde er neugeboren. Des Heilands Höllenfahrt hat ein österreichischer Teufelskerl (wieder einmal) in den Schatten gestellt. Seine Wiederauferstehung kann nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Die Menschheit durfte mit eigenen Augen schauen, was sie bislang nur geglaubt.

Baumgartner will allen Menschen, vor allem Kindern ein Exempel sein. „Die Jugend braucht Vorbilder. Die Kinder müssen wieder nach draußen in die Natur.“

Kinder, ab nach draußen – in den Orbit. Also lasset die Kindlein zu ihm kommen, damit sie die Botschaft weiter tragen: wer nicht sein Risiko auf sich nimmt um der Menschheit willen, der soll das Reich der Zukunft nicht gewinnen.

Baumgartner repräsentiert nicht die Menschheit, er ist die Menschheit. Die nun alles daran setzen sollte,

dem Erlöser nachzueifern. Menschheit, fahr zur Hölle. Doch vorher mach dein Testament und verkündige allen Lebewesen prophylaktisch deinen Tod – für den unvorstellbaren Fall, dass deine Auferstehung missglücken wird. Fahr dahin und Friede deiner Asche. Du extreme Närrin der Evolution. Kameras aus!

(Die besten Textvorschläge zu einer würdigen Todesanzeige der Menschheit werden von der Redaktion prämiiert).

Hunderttausende Senioren können sich ihre Altenpflege nicht mehr leisten. Die Krankenkassen haben nun eine nobelpreisverdächtige Idee entwickelt, um das aussichtslos scheinende Problem elegant zu lösen. Alle bettlägerigen Alten, Alzheimersimulanten und sonstige Überflüssige einer expansiven Gesellschaft müssen exportiert, der Menschenabfall in kostengünstigere Südländer abgeschoben werden. Im Gegenzug wird intelligentes, belastungsfähiges, junges Menschenmaterial importiert, um unsere wirtschaftlich-vorbildliche Sonderrolle zu unterstützen.

Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass soziale Intelligenz – die wir uns binnenwirtschaftlich nicht mehr leisten können – bei unterentwickelten Völkern noch eine kurze Zeit höher ausgeprägt sein wird als bei uns. Bis zum vollen Einbruch des asozialen Konkurrenzgeistes in jenen primitiven Ländern sollten wir das kurzfristig offen stehende Zeitfenster umgehend für uns nutzen.

Was ist der genaue Unterschied zwischen Republikanern und Demokraten? Der in Berlin lebende amerikanische Philosoph Dean Moyar hat zu dieser Frage in der TAZ einen Artikel geschrieben. (Dean Moyar in der TAZ: „Wahl zwischen zwei Visionen“)

Für Demokraten sei die Regierung ein egalitäres moralisches Projekt.

Die Republikaner hingegen überließen moralisches Tun dem Einzelnen und den Kirchen. Die Regierung solle nichts anderes tun, als die jetzigen Reichtumsverhältnisse zu gewährleisten und zu stabilisieren.

Ist stabilisieren das richtige Wort? Immerhin wollen die Reichen noch reicher werden. Auch zwischen ihnen gibt’s Wettbewerb: wer am Ende der Geschichte der Reichste sein wird.

Das Vorbild steht im Gleichnis von den zehn Jungfrauen. Die Hälfte von ihnen schlief beim Warten auf den wiederkommenden Herrn. Die anderen wachten und machten unermüdlich in Money. Zu den Pennerinnen sagte der Herr: Ich kenne euch nicht. Darum wachet, wuchert und verdient. Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde. Die Wachsten werden die Reichsten sein, die mit dem Bräutigam Hochzeit feiern dürfen. „Und die Türe wurde verschlossen.“ ( Neues Testament > Matthäus 25,1 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/25/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/25/“>Matth. 25,1 ff)

Genauer müsste man sagen, Politik ist für Demokraten auch angewandte Moral, keine reine Anwendung moralfreier Ökonomiegesetze. Republikaner nutzen die objektiven und unveränderbaren Wirtschaftsregeln am cleversten. Von ihrem fair gewonnenen Reichtum geben sie freiwillig Almosen an die Armen – damit sie beim Bücheraufschlagen im Jüngsten Gericht am besten davonkommen. Ihre Charity ist bestens angelegte Investition zur Gewinnung der eigenen Seligkeit.

Mit Nächstenliebe lässt es sich am besten wuchern. Wer mit seinen Pfunden am effektivsten zockt, gewinnt die Endausscheidung. Miserable Wucherer hingegen werden hinaus in die Finsternis gestoßen, wo Heulen und Zähneknirschen sein wird. ( Neues Testament > Matthäus 25,14 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/25/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/25/“>Matth. 25,14 ff)

Demokraten sind zwiespältige Wesen. Zum Teil bejahen sie die Gesetze des anarchischen Marktes, korrigieren aber im Nachhinein ihre Ergebnisse, nehmen den Reichen, um es den Armen zu geben. Diese Zweideutigkeit schwächt die Position der Demokraten (bei uns mit Sozialdemokraten und Linken vergleichbar), zumal die Position in sich widersprüchlich ist.

Metaphorisch könnte man sagen, sie schauen zu, wie Räuber das Anwesen plündern. Anschließend fordern sie einen kleinen Teil der widerrechtlichen Beute zum sozialen Ausgleich. Das ist Politik der Mafia, die überall kriminell abschöpft, der armen Bevölkerung aber Gutes zukommen lässt, aus der sie ihre Bandenmitglieder rekrutiert.

Die Sozialdemokraten drücken sich vor der Frage: Sind die normalen Regeln des Kapitalismus fair? Wenn ja, gäbe es keinen moralischen Grund, die Reichen abzuschöpfen. Wenn nein, müssten die Regeln subito geändert werden. Es genügt nicht, den unfairen Profit gegen Zahlung von Ablass an Ärmere abzusegnen.

Amerikanische Demokraten mögen ein gutes Gewissen beim Kapitalismus haben, deutsche Linke hingegen müssen ihren postmarxistischen Wunsch nach Systemveränderung ständig verdrängen. Sie laufen mit schlechtem Gewissen herum, das sie mit moralischen Kraftsprüchen übertönen müssen. Kapitalismus ist für sie ein Übel, das eingedämmt werden muss, das man aber nicht abschaffen kann.

Es ist klar, dass gespaltene Demokraten nicht so überzeugend auftreten können wie gusseiserne Republikaner, die die reale Ökonomie vollständig akzeptieren. Die unbeantwortete Frage im Hintergrund lautet: Gibt es einen fairen Kapitalismus? Und nach welchen Regeln müsste er funktionieren?

Deutschlands scharfsinnigster Ökonom ist weder Ludwig Erhard noch Steinbrück, weder Lafontaine und Wagenknecht zusammen. Er heißt Alexander von Rüstow und ist so gut wie unbekannt. Seine im türkischen Exil geschriebenen drei Bände „Ortsbestimmung der Gegenwart“ sind höchstens mit Poppers beiden Bänden „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ zu vergleichen.

Der Sohn eines linken Preußenoffiziers war ein fulminanter Religionskritiker und hatte in der religiösen Restauration der Adenauerepoche keine Chance, sein Hauptwerk unter die Menschen zu bringen.

Er stand den Freiburger Ordoliberalen nahe, die sich jedoch eher als Ableger der katholischen Soziallehre verstanden, als sich mit grundsätzlicher Kapitalismuskritik zu beschäftigen. Ihre Soziallehre war mehr ein Almosengeben denn eine politisch durchdachte Tat – was sie eher mit Konservativen verbindet als mit linken Wirtschaftskritikern.

Geißlers „linke“ CDU-Haltung steht mehr auf dem schwankenden, karitativen Boden des Vatikans als auf fundamentaler Analyse der Ökonomie. Fälschlicherweise schlägt er Rüstow, den er offenbar kaum kennt, den frommen Freiburgern zu.

Rüstows Vorstellung einer humanen Wirtschaft ähnelt frühen Schweizer Verhältnissen: viele selbständige und selbstbewusste freie Handwerker und Bauern, keine riesigen Industriekomplexe und Monopole, schon gar keine internationalen Machtkomplexe, die – too big to fail – nicht mehr kontrolliert werden können und ein supranationales Eigenleben führen, welches die Weltwirtschaft nach Belieben dominiert.

Wirtschaft ist nur vordergründig eine Ansammlung von Geld, genau genommen ist sie Ansammlung von Macht. Macht kann nur durch gleichstarke Gegenmacht in Schach gehalten werden. Was Montesquieu in seiner Gewaltenteilung staatstheoretisch dachte, überträgt Rüstow auf die Ökonomie.

Das sind Gedanken, die in keiner deutschen Gazette auftauchen. Auch die Linken halten es für richtig, sich mit Marx – nicht kritisch zu beschäftigen, sondern ihn als anonymen Heiligen im Hintergrund anzubeten.

Was die Linken besonders schwächt, ist ihre passive Haltung zur Geschichte und ihre Ablehnung einer autonomen Moral, die sie als blauäugigen Idealismus schmähen. Sie können sich nicht durchringen, den Menschen zum allein verantwortlichen Subjekt seines Schicksals zu erklären. Ständig schwirren christlich-marxistische Vorstellungen bei ihnen im Kopf herum. Die Geschichte müsse ihnen „entgegenkommen“ (so Salonmarxist Habermas), damit sie endlich den Hintern hochkriegen. Sie verharren in einer unerquicklichen Mischung aus scheinrevolutionärer und passiver Haltung.

Das Plädoyer Rüstows für kategorische Selbstbestimmung nehmen sie weder zur Kenntnis, noch sind sie in der Lage, es zu verstehen, weil sie zu sehr mit heilsgeschichtlicher Assistenz rechnen, ohne die sie sich wie Hänsel und Gretel allein und verlassen im Walde vorkommen.

„Wir unsererseits haben leider keinen Weltgeist, der uns garantiert, dass irgendein Ziel bestimmt erreicht werden wird, sondern wir wissen ganz genau, dass es eine höchst prekäre Sache ist und dass es an uns liegt, was wir dafür tun und ob wir es erreichen werden.“ (Rüstow in „Rede und Antwort“)

Wenn die Deutschen sich leisten, ihre besten Köpfe zu ignorieren, brauchen sie sich über die verheerende Dominanz von Hayek, Milton Friedman nicht zu wundern – mit denen Rüstow nach vielen Debatten in der MPS (Mont Pèlerin Society) aus Gründen der Unüberbrückbarkeit brach.

Was die Haltung der kryptomarxistischen Linken zusätzlich schwächt, ist ihre gedankliche Nähe zu den Republikanern. Auch Marx wollte objektive Gesetze der Geschichte entdeckt haben. Moral war für ihn eine utopisch-frühsozialistische Illusion. Seine Geschichte tickt im Grunde nicht anders als die Heilsgeschichte biblizistischer Amerikaner: alles geht zwangsläufig einem göttlich-kapitalistischen Paradies oder einem sozialistischen Reich der Freiheit entgegen. Inhalte mögen verschieden sein, der Glaube an eine selbständige, den Menschen dominierende Geschichte aber macht Neoliberale und Sozialisten zu siamesischen Zwillingen.

Über all diese Hintergründe sprechen weder Gabriel noch Gysi, sie sind ihnen unbekannt.

Es gibt nur eine einzige Systemveränderung, die den momentanen Kapitalismus ersetzen kann und das ist die Abschaffung des „Systems“ überhaupt und die Etablierung der autonomen Moral des mündigen Menschen.

Es gibt kein System. Alles wird von Menschen entschieden, die sich aber hinter Systemen verstecken, damit sie nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Wie sich Gläubige auf Gottes Willen berufen, berufen sich moderne Manager und Ökonomen auf angeblich unveränderliche Gesetze des Mammons, den sie als Gott anbeten.

Einen Gott Mammon gibt es so wenig wie einen Gott der Geschichte. Der Mensch hat‘s nur mit Menschen zu tun. Gott, Staat, Geschichte, Systeme, Institutionen – all diese zu eigenständigen Akteuren hochgepuschten Abstrakta sind Götzenbildungen der Sprache.

Moyar will die Unterschiede zwischen beiden Politparteien anhand unterschiedlicher Interpretationen des Gesellschaftsvertrags genauer erläutern. Zuerst gab es den Naturzustand, in dem jeder tun und machen konnte, was ihm beliebte. Das hatte Vor- und Nachteile. Zwar war man frei wie ein Vogel, gleichzeitig aber potentielles Opfer anderer Vogelfreier, die den stärkeren Bizeps besaßen.

Also tat man sich zusammen, stellte moralische und politische Gesetze auf, erfand die Polizei, um sich gegen die Goliaths und Zyklopen zu wehren. „Man gibt die Macht ab, seine naturgegeben Rechte durchzusetzen, indem man sich bereit erklärt, sich an öffentliche Regeln und Gesetze zu halten.“

Man hat gewonnen? Wer ist Man? Es gibt kein allgemeines man. Die einen fühlen sich durch vertragliche Gesetze gestärkt, die andern geschwächt. Die ersten sind die Kleinen und Schwachen, die sich aufs Gesetz berufen können, um sich gegen die Übergriffe der Starken zu wehren. Die zweiten sind die Starken, die sich durch die neuen Gesetze gebunden fühlen wie Gulliver durch die Liliputaner.

Vom Gesellschaftsvertrag profitieren die Kleinen. Die Großen hassen denselben, weil sie nicht mehr unkontrolliert herumwüten können. Da die einen vom Gesetz profitieren, die andern sich aber geschädigt fühlen, gibt’s kein generelles Man.

Die Gesellschaft spaltet sich in zwei dauerhafte Klassen: die Starken, die die neuen Rechtszustände verwünschen und zurückwollen in die Epoche anarchischer Gewalt. Und die anderen, die alles tun, um den Gesetzen Einfluss zu verschaffen, die ihnen Recht und Gerechtigkeit sichern.

Nicht mehr Starke und Einzelne bestimmen, was rechtens ist, sondern die ganze Polis, die zum ersten Mal in der Geschichte alle Menschen für gleich erklärt. Nicht mehr soll willkürliche Gewalt obsiegen, sondern das, was die Agora Vernunft nannte: vor dem Recht sind alle Menschen gleich.

Kein Wunder, dass heute die Vernunft von den Starken – plus allen Medien, die im Dienste der Starken arbeiten – rücksichtslos bekämpft werden muss, damit die Rückkehr in den Naturzustand privilegierter Stärke beschleunigt werden kann. Doch die Vernunft ist immer auf der Seite der Schwachen und setzt sich energisch dafür ein, dass alle Menschen gleichberechtigte Menschen sind.

Um ihre Position der Stärke plausibel aussehen zu lassen, benutzen die Republikaner den Trick, die anarchische Zügellosigkeit vorpolitischer Zeiten als Freiheit zu bezeichnen. Freiheit ist, wenn ich absolut machen kann, was ich will. Das setzt absolute Macht voraus. Damit sind wir beim omnipotenten Gott gelandet.

Im Mittelalter ist das ganze Problem mit Neoliberalismus und linkem Rationalismus bereits in theologischen Vokabeln durchdekliniert worden. Muss der Allmächtige sich den Gesetzen seiner Vernunft unterwerfen – oder wäre das ein Zeichen mangelnder Allmacht? Muss er also Naturgesetze beachten oder kann er sie nach Lust und Laune über den Haufen werfen und ergo Wunder vollbringen, welche die Naturgesetze durchlöchern?

Die „Neoliberalen“ von damals argumentierten wie die heutigen: Gott muss frei sein und darf von Gesetzen nicht gefesselt werden. Wäre er durch Gesetze gebunden, wäre er unfrei. Freiheit ist frei sein von Gesetzen.

Die Gegner hingegen argumentierten: Freiheit ist Einsicht in die Wahrheit. Sind gerechte Gesetze wahr, kommt der Mensch erst zur Freiheit, wenn er die Gesetze einhält. Wer moralisch handelt, weil Moral dem Menschen nützt – der ist frei.

Es gibt also zwei völlig unterschiedliche Definitionen von Freiheit, die in der heutigen (Nicht-)Debatte nirgendwo erwähnt werden.

Die Freiheitsdefinition der „Voluntaristen“ – so hießen die Neoliberalen von damals – hat sich in der Moderne durchgesetzt und beherrscht alle politischen und ökonomischen Debatten. Voluntaristen hießen die deshalb, weil voluntas der Wille heißt. Gott kann nur frei sein, wenn sein Wille von Gesetzen nicht eingeschränkt wird – nicht mal von den selbst erlassenen.

Mit anderen Worten: die Neoliberalen definieren sich wie der Gott der Voluntaristen. Sie sind die gottähnlichsten Wesen auf der Welt. Der Rest der Menschheit ist Zwergobst, Pöbel, der sich wichtig macht und sich zusammenrottet, um die starken Löwen an die Kette zu legen. So die Thesen jener Philosophen, die sich der Sache der Starken angenommen haben. Vom griechischen Thrasymachos bis zu den Sozialdarwinisten der Neuzeit und zu Nietzsche.

Ihre Gegner sind Sokrates, die Kyniker und Stoiker, die die allgemeinen Menschenrechte aus der Taufe hoben. Nicht die Christen, deren himmlisches Recht auf ungleicher Auswahl und Scheidung der Menschen in Erwählte und Verworfene beruht.

Eigenartig, dass unser amerikanischer Philosoph nicht das Naturrecht nennt. Genauer die beiden Naturrechte: das Naturrecht der Starken und das Naturrecht der Schwachen, identisch mit den universellen Menschenrechten.

Der Zustand vor dem Gesellschaftsvertrag entspricht nämlich dem Naturrecht der Starken. Erst durch den Gesellschaftsvertrag mit Einführung des Vernunftgesetzes wird das Naturrecht der Starken durch das Naturrecht der Schwachen ersetzt, das man auch Vernunftrecht nennen könnte.

Starke legen kein Wert auf Vernunft, mit der man sie zur Raison rufen kann. Sie wollen unbegrenzten Freilauf. Alles was nach Moral und Vernunft riecht, ist für sie Eingriff in ihren gottähnlichen Voluntarismus.

Da der „Staat“ die Gesetze zu machen pflegt – vollkommen wird verdrängt, dass in Demokratien nur das Volk mittels gewählter Abgeordneter die Gesetze erlässt –, müssen die Starken Amerikas den Staat angreifen und ihn diffamieren, dass er nichts anderes im Sinn hätte, als die Freiheit der Christenmenschen zu behindern.

Für Starke ist göttliche Freiheit identisch mit dem Recht, unbehindert von Moral und Gesetz sich so viel Besitz, Geld und Macht zu akkumulieren, wie sie nur können. Alles andere ist Majestätsbeleidigung und Gotteslästerung.

Das ist auch der Grund, warum die Armen Amerikas dieselbe Freiheit verteidigen wie diejenigen, die sie mit Hilfe dieser Freiheit in den Abgrund stürzen. Das war die Freiheit aller weißen Gotteskinder, die das Land der Ureinwohner als ihren Besitz betrachteten, weil sie die vom Himmel verliehene Macht besaßen, die Ureinwohner zu verjagen oder zu massakrieren. Gottes eigenes Land für Gottes auserwählte Lieblinge.

Freiheit einschränken heißt für Amerikaner, ihnen den Glauben einzuschränken. Die Gründungsideologie bei Amerikanern ist dieselbe wie bei den immer ultraorthodoxer werdenden Israelis, die sich stets auf die Bibel berufen, um die nächste Siedlung im besetzten Westjordanland aufzubauen.

Der Konflikt zwischen Neoliberalen und linken Sozialisten – wenn sie nicht marxistisch sind – ist der Konflikt zwischen beiden Naturrechten: dem Naturrecht der Starken und dem Naturrecht der Schwachen oder Vernünftigen.

Die Freiheit der einen ist die Freiheit eines omnipotenten Willens, der sich erhaben dünkt über Gesetze und moralische Vorhaltungen. Die Freiheit der anderen ist die Einsicht – nicht in die Notwendigkeit, wie bei Hegel – sondern Einsicht in die Vernunft. (Gaucks Definition der „Freiheit in Verantwortung“ ist republikanisch-theologisch: die ungezügelte Freiheit muss nachträglich „durch Verantwortung“ eingedämmt werden.)

Je vernünftiger ich handle, je freier bin ich. Eine Gesellschaft kann sich nur frei nennen, wenn sie in der Lage ist, sich mit demokratischen Verfahren vernünftige Gesetze zu geben. Der Schmuck einer humanen und freien Gesellschaft ist das Gesetz, das alle BürgerInnen zu gleichberechtigten Wesen erklärt.

Das Gesetz muss die Macht kontrollieren, nicht die Macht das Gesetz. Der Slogan Macht bestimmt das Gesetz, war nach Carl Schmitt die Signatur der NS-Herrschaft. Im Neoliberalismus droht die Variante: wer wirtschaftliche Macht besitzt, bestimmt das Gesetz und definiert willkürlich Freiheit und Besitzverhältnisse.

Die beiden Naturgesetze im westlichen Dauerclinch sind im Grunde der Kampf der rationalen Menschenrechte – mit dem irrationalen Starkenrecht des christlichen Dogmas, in dem der Allmächtige über allen Gesetzen thront und voluntaristisch nur der eigenen Willkür folgt.

In dieser Hinsicht sind Republikaner die Frömmsten der Frommen. Sie sind omnipotent und gottähnlich.