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Sonntag, 27. Mai 2012 – Grass und Grünbein

Hello, Freunde des Liedes,

vor zwei Generationen führten die Europäer noch Krieg gegeneinander. Heute veranstalten sie einen gemeinsamen Sängerwettstreit, der in die ganze Welt übertragen wird.

Doch was, wenn das Geschehen in einem Land stattfindet, in dem politisch Andersdenkende im Gefängnis sitzen, Lesben und Schwule sich nicht blicken lassen dürfen, Demonstrationen verboten und Demonstranten verhaftet werden? Wie hier, wenige Stunden vor der Veranstaltung.

Das Festival sollte nicht boykottiert werden, hatten auch die Dissidenten in Baku gefordert. Doch jeder westliche Gast sollte vor Ort Position beziehen, um ihren Kampf gegen Unterdrückung zu unterstützen. Auch die Künstler. Was ist davon übrig geblieben?

Jan Feddersen von der TAZ verhöhnte die Kritiker von Amnesty International als „Menschenrechtisten“ und „Spaßbremsen“. Sonst passierte nix, notierte der SPIEGEL, keine politische Demonstration auf weiter Flur.

Mit einer angeblichen Ausnahme. Sie dauerte nur wenige Sekunden und „war so charmant vorgetragen, dass sie die heitere Stimmung nicht zum Kippen brachte.“ Als Anke Engelke die deutsche Punktvergabe übermittelte, sprach sie auf Englisch: „Heute Abend konnte niemand für sein eigenes Land abstimmen, aber es ist gut, wählen zu können. Und es ist gut, eine Wahl zu haben. Viel Glück auf deiner Reise, Aserbeidschan! Europa beobachtet dich.“ Was der SPIEGEL verschweigt: waren

das privat eingeschmuggelte Worte der Anke Engelke? Waren sie mit der ARD abgesprochen und von allen deutschen Ausrichtern gewollt?

Soll das die wirkmächtige westliche Kundgebung für Freiheit und Menschenrechte gewesen sein? Was wäre passiert, wenn alle Künstler kurz vor ihrem Auftritt mit wenigen Worten die aserbeidschanische Despotenfamilie zu demokratischen Reformen aufgefordert hätten? Eine Schwalbe, und wenn sie noch so charmant ist, macht noch keinen Frühling.

Europa beobachtet vor allem ökonomische Daten in der Welt, den belanglosen Rest diverser Inhumanitäten interessiert es immer weniger. Die Babuschki kamen übrigens auf den zweiten Platz.

 

In Bagdad finden Gespräche zwischen dem Iran und dem Westen statt, die darüber entscheiden könnten, ob demnächst ein verheerender Krieg im Nahen Osten ausbricht oder ein grundsätzlicher Friedensweg von den Kontrahenten eingeschlagen wird.

Der Iran ist grundsätzlich einverstanden, die Forderungen des Westens zu erfüllen. Fordert allerdings umgekehrt vom Westen, dass er die „uneingeschränkte Nutzung der Technologie zu friedlichen Zwecken einschließlich der Urananreicherung gemäß den Bestimmungen des Atomwaffensperrvertrags ausdrücklich anerkennt.“ Zudem sollten die Sanktionen des Westens gegen den Ölsektor und iranische Banken aufgehoben werden.

Russland, China und die neue Regierung in Frankreich plädieren für Zusagen. Nur Amerika ist strikt dagegen und beharrt auf dem „zweigleisigen Modell von Verhandlungen und Strafmaßnahmen“. Die Hardlinerlinie Washingtons wird von Berlin unterstützt. Irreführend überschreibt Andreas Zumach seinen Artikel: „Niemand will nachgeben“.

Der angeblich so unberechenbare Iran verhält sich professionell rational. Es ist sicherlich eine Verschwörungstheorie, wenn die von der israelischen Lobby bestimmte Obama-Regierung die Iraner entweder diplomatisch niederknüppeln oder die Latte so hochsetzen will, dass nur noch der Präventivschlag erfolgen kann.

 

Schon eine Unverschämtheit, dass es der Springerpresse nicht gelingt, den Israelkritiker Grass endgültig von der Platte zu fegen. Bildet sich der Knurrhahn doch noch immer ein, Dichter zu sein und Gedichte machen zu dürfen – ohne vorher bei Matthias Döpfner um Erlaubnis zu fragen. Jetzt tat er’s schon wieder: um dem Land des Sokrates zu huldigen, dem wir was-noch-mal zu verdanken hatten?

Laut WELT „das trojanische Pferd, die Olympischen Spiele und das kaltgepresste Olivenöl“. Gehören die WELT-Schreiber nicht zufällig zu jenen Theaterläufern und gesalbten Bildungseliten, die das Lesen von Epikur und Thukydides und Aufführen altgriechischer Tragödien als kaltgepressten Unsinn abmeiern?

Vor 200 Jahren waren die Deutschen noch glühende Graecomanen, heute sind sie beißfeste Gräco-hyänen geworden. Das ist ihre zartfühlende Form von Dankbarkeit. Wem sie etwas zu verdanken haben, der sollte schnell in die Wüste fliehen. Bei den Dankbaren wird er seines Lebens nicht mehr froh werden.

Was ist überhaupt ein Gedicht, muss es gereimt daherkommen? Und darf Kunst politisch werden? Spätestens seit dem Dadaismus und Expressionismus lachten die Dichter über Herz und Schmerz, Liebe und Hiebe. Das Gedicht machte sich frei vom Wohlklang ähnlich klingender Endsilben und von vorgeschriebenen Rhythmen.

Über die frühen ungereimten Grass-Gedichte fand Reich-Ranicki noch lobende Worte. Das Israel-Gedicht fand er ab-scheu-lich! Natürlich nicht nur des Inhalts wegen, sondern weil es seinen hohen ästhetischen Kriterien nicht genügt.

Das war schon so bei den Mohammed-Karikaturen. Wer das Christentum schützen wollte, indem er den Islam schützen musste, zu diesem aber keine Meinung abgeben konnte, fand die Zeichnungen schon ästhetisch zum Abwinken.

Deutsche sind immer dann hochkarätige Bilderversteher, wenn sie bei brisanten Inhalten keine Meinung haben und aus Feigheit den Schwanz einziehen. Ihre abschätzige Kritik beginnt dann mit Sätzen wie: „Schon rein ästhetisch ist Kunstwerk X unterirdisch.“ So überwiegend die Kritik an Grassens Israel-Gedicht: Alter! der kann ja nicht mal reimen.

Das Griechenland-Gedicht kennt auch keine Reime, doch mangels brisanten Inhalts kann man es nach kurzem hämischem Blick in den Papierkorb werfen.

Dass unsere Olympier ihre Gedichte über alle weltbewegenden Fragen verfassten, ohne sich vom Zeitgeist zensieren zu lassen, haben unsere Klassikerfreunde offensichtlich vergessen. Auch Schiller machte einst ein Gedicht auf Griechenland mit dem Titel: „Die Götter Griechenlands“, in dem er jener Welt nachtrauert, die durchs Christentum vernichtet wurde:

 … Damals trat kein gräßliches Gerippe / vor das Bett des Sterbenden. Ein Kuß / nahm das lezte Leben von der Lippe, / … und das ernste Schicksal blickte milder / durch den Schleyer sanfter Menschlichkeit. …

… Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder, / holdes Blüthenalter der Natur! / Ach! nur in dem Feenland der Lieder / lebt noch deine goldne Spur. / Ausgestorben trauert das Gefilde, / keine Gottheit zeigt sich meinem Blik. / Ach! von jenem lebenwarmen Bilde / blieb nur das Gerippe mir zurück. …“

Bei den Griechen das Blütenalter der Natur, der Tod als lächelnder Jüngling, die sanfte Menschlichkeit, die ganze schöne Welt. Im Christentum das genaue Gegenteil in allen Dingen, symbolisiert im omnipräsenten Gerippe am Kreuz.            

 

Heute wissen die Neugermanen nicht mal, dass unsere Kultur von zwei Strömungen beherrscht wird, die partout nicht miteinander können, sich abstoßen wie Feuer und Wasser, dennoch tun müssen, als seien sie die besten Kumpels: Griechentum und Christentum.

Der Klerikalismus hat sich ein bisschen Vernunft impfen lassen, schon tritt er auf, als habe er den Logos erfunden. Besonders dreist gibt sich in dieser Hinsicht Athlet und Superdemokrat Geißler, der nach Gefangennahme der Kapitalismuskritik mit Hilfe der katholischen Soziallehre sich jetzt noch die Aufklärung unter den Nagel reißt.

In einer ZDF-Debatte über Aufklärung wurde ihm nicht mal die Frage gestellt, ob Offenbarung und Vernunft kompatibel sind. Das war doch die Hauptleistung der Aufklärer, sich von oberen unfehlbaren Weisungen und Heilsbotschaften abzunabeln und den autonomen moralisch-vernünftigen Menschen auszurufen.

Ausgerechnet von seinen Jesuiten will er freies Denken gelernt haben, die ihm das Wörtchen „unterscheiden“ beigebracht hätten. Wer zu unterscheiden wüsste, der sei schon Kantianer. O heiliges Vaterland.

Unterscheiden heißt biblisch: die Geister unterscheiden, ob sie göttlich oder teuflisch sind: „zur Unterscheidung des Guten und des Bösen.“ „Prüfet die Geister, ob sie von Gott sind.“ ( Neues Testament > 1. Johannes 4,1 / http://www.way2god.org/de/bibel/1_johannes/4/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_johannes/4/“>1.Joh. 4,1) „Prüfet euch selbst, ob ihr im Glauben seid.“ ( Neues Testament > 2. Korinther 13,5 / http://www.way2god.org/de/bibel/2_korinther/13/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/2_korinther/13/“>2.Kor. 13,5) Prüfet, was da sei wohlgefällig dem Herrn.“ ( Neues Testament > Epheser 5,10 / http://www.way2god.org/de/bibel/epheser/5/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/epheser/5/“>Eph. 5,10) Das ist theologisches Unterscheiden und Prüfen: den Gott vom Teufel, den Gläubigen vom Ungläubigen zu sondern. Mit der Unterscheidung von Vernunft und Unvernunft hat das nichts zu tun.

Sokratisches Überprüfen des Menschen ist Prüfen seiner demokratischen Fähigkeiten, seiner schlüssigen Denkkraft und geschieht mit Hilfe der gemeinsamen Vernunft, nicht mit Hilfe über- oder antivernünftiger Erleuchtung. Der Mensch braucht keine Offenbarungen, zur Lebensbewältigung hat er alles, was er braucht.

Wer spricht ihm diese Kompetenzen unter Androhung von Höllenstrafen ab? Die Offenbarung, die den Einzelnen zur elenden Kreatur verstümmelt, um ihre Unentbehrlichkeit zu demonstrieren.

Wenn Geißler – immer in muskulärer Angriffspose, als wolle er die sündigen Probleme dieser Welt in einem persönlichen Ringkampf mit dem Gottseibeiuns austragen – den klerikalen Apparat mit verächtlicher Miene wegwischt, glaubt er, die Autorität des unfehlbaren göttlichen Heilswortes gelöst oder unterlaufen zu haben. Der Vatikan ist aber (noch) nicht der Himmel.

Es ist wie bei der Moderation von Stuttgart 21. Die verschiedenen Positionen sollten auf den Tisch gelegt werden, die Meinung der Opponenten klar zur Sprache und Geltung kommen. Doch am Schluss war das Volk untergepflügt, die latente Neigung Geißlers zur göttlichen Obrigkeit verhalf den Mächtigen zum Sieg auf der ganzen Linie.

Nicht anders bekniet er in seinem neuen Buch den menschlichen Verstand so lange, bis er ihn in den Stall von Betlehem getrieben hat. Geißler mag bewusst ein leidenschaftlicher Demokrat sein. Doch sein jesuitischer Glaube verhindert, dass er wirklich und konsequent kritisch werden kann. Alles bleibt bei scheinradikaler Alibikritik mit dem zumeist ausgeblendeten Hintergrund: wenn alle Menschen gläubig, alle Küchlein unter Jesu Fittichen wären, befänden wir uns bereits hienieden im Garten Eden.

Seine Kohlkritik war halbseiden, seine Kapitalismuskritik muss sich heiliger Zitate bedienen, dass sie nicht in der Luft hängt. Die lau gewordene Attac führte er listig der karitativen katholischen Soziallehre ins Netz. Im Zweifelsfall entscheidet bei ihm der Reflex, sich einer unfehlbaren Vaterinstanz zu unterwerfen, die er sich solange zurechtmodelt, bis sie in seine schein-aufgeklärte Schablone passt.

Nach diesem Schema hatten Thomas von Aquin und seine scholastischen Kollegen den Aristoteles verstümmelt, bis er zum Gewährsmann biblischer Dogmen verfälscht und die Philosophie zur Magd der Theologie erniedrigt worden war.

 

Schiller äußerte sich mit seinen Gedichten zu allen wichtigen Themen seiner Zeit. Kunst hatte alles zu behandeln, Tabus gab es nicht. Im Gegenteil, Kunst war eine Tabubrecherin sui generis. Das Poetische war nicht für privatistische Bespiegelungen und romantischen Blümchensex reserviert.

Diesen Eindruck erweckt Poet Durs Grünbein in seinem FAZ-Artikel, wenn er schreibt, poetische Wirklichkeit sei eine andere als jene, die „uns unter dem Namen Realität immer neu verkauft werden soll.“

Sie lege sich mit dieser Realität auch gar nicht an. Sie sehe nämlich das Fadenscheinige jeder Realität. Die menschlichen Konstruktionen hinter den Realitäten überwinde sie spielend mit Hilfe der Imagination.

(Was hier allmächtige Imagination genannt wird, ist nichts als der christliche Glaube, dem kein Teufel ein Härchen krümmen kann.)

Damit erziehe sie jeden, der für sie empfänglich sei, zum permanenten Widerstand gegen den Fatalismus der Fakten und sei insofern politischer als jede Politik. Deshalb sei Poesie mehr als ein bloßer ästhetischer Akt.

Gleichzeitig aber soll das Überpolitische ein gänzlich einsamer, ja einsiedlerischer Akt sein, eine Übung in radikaler „Selbsterforschung“. Der Dichter müsse seinem eigenen Daimon folgen, wie Sokrates es vorgelebt habe. (Der sokratische Daimon darf nicht als moderner willkürlicher Subjektivismus aufgefasst werden. Er ist Symbol für die individuell erarbeitete Zustimmung der überindividuellen Vernunft.)

Der Dichter müsse seinen eigenen Traumwirklichkeiten folgen, seiner abgründigen Psyche, immer nonkonform, keiner äußeren oder höheren Macht verpflichtet. (Immer nonkonform, auch wenn die Realität nicht nur schlecht wäre? Das erinnert an Augustins Verdammungsurteil über die vorbildlichen Tugenden der Heiden, dass sie nichts als goldene Laster wären). Auch keinem höheren religiösen oder philosophischen Prinzip.

Dennoch werde er, bei aller Kontaktfreudigkeit, auch dann noch ein „Einsiedler inmitten der Gesellschaft sein, wenn alle Religionen, alle demokratischen Ideale zu kollektiver Routine verkommen sind.“

Jetzt wird’s gefährlich für jede Demokratie, wenn Grünbein seine private Zuflucht so unzerstörbar und abgehoben schildert wie der Christ seine unsterbliche Seele, zu der er im Getümmel des Jammertals fliehen kann, als flöhe er in Gottes weit geöffnete Hände.

Das ist in allen Dingen das Gegenteil von Sokrates, der sein Leben für die Demokratie opferte und kein separiertes ätherisches Reich für sich ersann, in das er, wenn alles zusammenfiele, hätte fliehen können. Der zum Tode Verurteilte hätte leicht in eine fremde Stadt flüchten können. Er lehnte ab, weil er sich den Spielregeln der Gesellschaft unterordnen wollte, auch wenn er die Konsequenzen für falsch und irreparabel hielt.

Damit unterstellte er sich sehr wohl einem „höheren“ philosophischen Prinzip: der denkerischen Gradlinigkeit und demokratischen Glaubwürdigkeit des Logos. „Höher“ nicht im Sinne: von höherer Instanz verabreicht. Sondern selbst erdacht, im denkerischen Wettstreit auf der Agora täglich getestet und für tragfähig befunden.

Bei Durs Grünbein gibt’s keine leidenschaftliche Mäeutik, keine Lust an dialogisch-kämpferischer Wahrheitssuche, keinen sozialen Eros. Er will äußerlichen Kontakt, innerlich löst er sein Schicksal vollständig von der minderwertigen Realität der Gesellschaft.

So schilderte Augustin die unübersteigbare Kluft zwischen unsichtbarer civitas dei und verkommener, wenn auch notwendiger civitas terrena. Mit anderen Worten: Grünbein ist ein augustinischer Mönch, der das Himmelreich in Poesie übersetzt und die Politik in das inkorrigierbare Reich des Teufels.

Auch bei ihm findet sich die demokratiefeindliche Eliten-Pose des nicht Rechthabenmüssens. Walser ist nicht der einzige Edelschreiber, der keine Lust mehr hat, sich sinnlos debattierend mit dem Pöbel zu quälen. Schluss mit dem ewigen Diskursgewäsch.

Es muss Ruh einkehren über den Hütten und Reihenhäusern anonymer Poesiebeauftragter und Wahrheitsbesitzer, die nur noch dem Rat des Kirchenvaters folgen wollen: Wollest in dich gehen, deine eigene Seele erforschen im abgeschiedenen Gespräch mit deinem persönlichen Gott. Nur deine Seele und Gott, sonst zählt nichts in dieser Welt.

Nein lieber Durs, auch du scheinst dem sozialistischen Gemeinschaftszwang mit simpler Reaktionsbewegung in die christlich-kapitalistische Illusion einer unüberwindbaren Privatheit entkommen zu wollen. Das wird dir nicht gelingen.

Spätestens dann, wenn deine poetische Privatidylle (altgriechisch: Idiotenidylle) nicht verhindert hat, dass unsere Demokratie – die du im Stich gelassen hast – zusammengekracht ist, wirst du mit Erschrecken erkennen, dass du hilflos und nackt jedem Nachfolge-Despoten ausgeliefert bist.

Der alte Kämpe Grass ist weiser und demokratischer als du. Als Dichter ist er zoon politicon, als zoon politicon ist er Dichter.