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Sonntag, 24. Juni 2012 – Kunst und das Böse

Hello, Freunde der Chinesen,

weil er „sprachmächtig und unerschrocken gegen Unterdrückung“ schreibe, erhält der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Die deutsche Kunstkritik ist auf dem Gipfel ihrer Schizophrenie angekommen. Inländische Künstler sollen das Böse bedienen, auf keinen Fall den politisch-moralischen Zeigefinger erheben. Ausländische Künstler werden für demokratische Unerschrockenheit ausgezeichnet.

Im Inland wird Aufklärung von einflussreichen Kultur-Rating-Agenten – sprich Feuilletonisten – auf Ramschware herabgestuft, in China wird eine deutsche Kunstausstellung über die Zeit der Aufklärung gezeigt.

Günter Grass wird wegen eines Friedensgedichtes gesteinigt, Ai Weiwei wegen Eintretens für demokratische Zustände in seiner Heimat gerühmt.

Merke: Künstler als Gutmenschen sind weit hinter den Bergen bei den sieben Zwergen notwendig, wir Superdemokraten und Menschenrechtler par excellence brauchen Kunst zum Auslauf unserer unterdrückten Phantasmagorien. Was Horrorfilme und digitale Massakerspiele für Pubertierende, sind verruchte Kunstwerke für dauerpubertierende Ästheten.

Nicht Baudelaires Gedichte „Die Blumen des Bösen“ verherrlichten als erste

das Charisma des Satanischen. Schon 100 Jahre früher schreibt eine verliebte 17-Jährige an einen Nachwuchsliteraten in England: „William – mein höllisch Angebeteter! Wie herrlich sprechen Sie vom Verbrechen. Von allen Heiligen des Paradieses gäbe es wenige, die Ihrer verführerischen Beredsamkeit sich entziehen könnten, und, als ein neuer Lucifer, würden Sie die Engel verführen, auf ihren himmlischen Aufenthalt zu verzichten, um mit Ihnen in den schwarzen Abgrund der Hölle einzutauchen.“

Der Literat heißt William Beckford und schreibt, im Sog des französischen Marquis de Sade, eine Poesie der Verdammnis, der Lust an der Zerstörung, am Verbrechen, am Bösen. (Friedrich Heer, Die Mutter der Revolutionen). Sein Held Vathek, ein Kalif (das Böse muss exotisiert werden), ist ein Übermensch mit dem Zeichen Lucifers an der Stirn. Satan ist ein schöner junger Mann, adlig sind seine Züge, sanft seine Stimme, von Melancholie umhüllt, dem Motto verpflichtet: Größe ist nur im Bösen.

Erst 100 Jahre später wird der zurückgebliebene deutsche Pfarrersohn Nietzsche den Übermenschen und die Verherrlichung des Bösen entdecken.

Im vorrevolutionären Frankreich schlägt die Anbetung des Gottes als Inbegriff des Guten in die Anbetung des bösen Gottes um. Gott wird zum Satan, das Böse wird heilig gesprochen. Bevor äußerliche Revolutionen stattfinden, müssen sie im Gemüt der Menschen vorbereitet worden sein.

Das ist kein „idealistischer“ Satz, denn Gedanken stehen nicht außerhalb der Natur und der Materie, sie entstammen keinem Reich des Jenseits.

Was war in Europa geschehen?

Für den traditionellen Christenglauben war der Teufel Gegenspieler Gottes, sein Rivale im Kampf um Herrschaft über die Menschen. Doch die Rivalität war mehr Pose als Wirklichkeit. In Wahrheit war der Teufel ein Instrument Gottes, ein agent provocateur im himmlischen Auftrag, um die Verführbarkeit der Menschen zu testen.

Heute gibt es spezialisierte Escort-Dienste, die von misstrauischen Ehefrauen beauftragt werden, um die ehebrecherische Anfälligkeit ihrer Göttergatten auf die Probe zu stellen. „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns vom Bösen“: mit der Bitte des Vaterunsers will der Gläubige von der Testsituation des teuflischen Escortdienstes verschont werden, aus Angst, die Prüfung nicht zu bestehen.

Der Teufel gilt als Betrüger des Menschen, der am Ende von seinem göttlichen Auftraggeber selber betrogen wird. Kein schöner Zug vom Schöpfer aller Dinge. Der Teufel kann die Menschen verführen, doch ihre unsterbliche Seele erhält er am Ende nicht, wie wir bei Hiob und Faust sehen können. Denn kurz vor ihrem Kollaps werden die sündenanfälligen Kandidaten von Gott erleuchtet oder begnadigt. Der Teufel guckt in die Röhre.

Schauen wir uns die Gesamtbilanz der Heilsgeschichte an, ist der Hohn über den betrogenen Betrüger unangebracht. Wenn der Teufel Herr der Hölle ist, muss er mit haushoher Überlegenheit als Gesamtsieger des heilsgeschichtlichen Spektakels ausgerufen werden. Eine Nanominderheit kommt in den Himmel, 99,9% aller Menschen wandern ins höllische Feuer.

Dass Gott sich im Endgericht als alleiniger Herrscher im Universum ausrufen lässt, ist selbst ein Betrug. Gott als Champion können wir nur retten, wenn wir den Teufel nicht als Gegenspieler betrachten, sondern als – die Kehrseite, das andere Gesicht Gottes.

Gott hat ein Janusgesicht. Das eine Gesicht ist der „liebe“, das andere der „böse“ Gott. Das ist Luthers Lösung des Problems. Gott ist beides in einer Person: der offenbare Gott – deus revelatus oder der Gott der Liebe – oder der verborgene Gott – deus absconditus, der böse Gott. Von daher sind Luthers Erläuterungen der 10 Gebote in seinem Großen Katechismus zu verstehen: Wir sollen Gott lieben und fürchten. Einen nur liebenden Gott müsste man nicht fürchten, einen nur bösen Gott könnte man nicht lieben.

Gott ist zweiwertig oder ambivalent. In Luthers Tradition steht die berühmte Formulierung des Religionsphilosophen Rudolf Otto, das Heilige sei Mysterium tremendum und fascinosum, ein Geheimnis, das erschreckt und fasziniert. Nur wenn Gott und Teufel personalidentisch sind, kann der janusköpfige Gott als Gesamtsieger der Heils- und Unheilsgeschichte ausgerufen werden. Er gebietet uneingeschränkt über Himmel und Hölle.

Was geschieht in der Zwischenzeit zwischen Luther und Marquis de Sade? Seit der italienischen Renaissance hat Europa die altgriechische Vernunft entdeckt und gebiert eine Aufklärungswelle nach der andern. Von Italien geht die Reise des Lichts nach Frankreich, Holland, England, von dort wieder zurück nach Frankreich. Am Ende dringt das freie Denken nach Deutschland, das es damals noch nicht gab, sondern nur hunderte zerrissener Fürstentümer und Winkeldespotien.

Unter ihnen war Preußen die führende Macht und der frankophile Friedrich der Große übernahm mit Leidenschaft die Botschaft von der Raison. Dummerweise wollte er absoluter Herrscher bleiben, weshalb man ihn heute einen aufgeklärten Absolutisten nennt. Genau genommen ein Unding. Denn wahre Aufklärung ist raison de la democratie und nicht Bildungsbeilage eines absoluten Herrschers.

Voltaire und die erste Generation der französischen Aufklärer waren noch Monarchisten, erst die zweite Generation näherte sich den Vorstellungen einer athenischen Polis. Rousseau war eine Mischgestalt aus viel persönlicher Freiheit und einem politisch unfreien Gemeinwesen, das er von einem allgemeinen Willen (volonte generale) regieren ließ. Doch der war nur der demokratisch klingende Titel eines „totalitären Sozialismus“ nach spartanischem Vorbild.

Die Aufklärung wollte von rächenden und liebenden göttlichen Alleinherrschern nichts mehr wissen und ersetzte den willkürlich agierenden Schöpfer durch die Vernunft.

Bei Robespierre, dem eifrigsten Rousseauschüler unter den Pariser Revolutionären, besaß die Göttin Vernunft leider noch viele Eigenschaften des alten absolutistischen Rachegottes der Christen. Unter der Herrschaft der mitleidlosen Guillotine verlor jeder seinen Kopf, der auch nur im Geringsten anderer Meinung war als Robespierre oder seinen sinnenfeindlichen Moralkodex nicht akkurat einhielt. Es war, als wäre Calvin unter der wurmstichigen Maske der Vernunft wiederauferstanden und hätte seine Genfer Theokratie auf Paris übertragen.

Womit wir bei dem sexsüchtigen und lasterhaften Marquis de Sade angekommen wären, der ein überaus scharfsinniger Denker – und Aufklärer war. Wie passt das zusammen?

Kein Wunder, dass durch Fanatiker wie Robespierre oder de Sade die Aufklärung bis heute in Verruf geriet. Goyas berühmtes Bild hatte die Inschrift: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ und wird noch immer so gedeutet, als ob die Vernunft selbst die Ungeheuer ausgebrütet hätte.

In Adorno-Horkheimers „Dialektik der Vernunft“ wird Aufklärung totalitär genannt, obgleich beide sich an anderer Stelle selbst als Aufklärer verstehen. Wenn selbst Vernunft inhuman kontaminiert ist, was bleibt uns dann?

Bei Bloch die marxistische Heilsgeschichte, bei Adorno eine verschämte Art der Erleuchtung von oben, nach dem theologischen Motto: hoffen wider alle Hoffnung (sperare contra spem) oder: Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.

Selbst der Nationalsozialismus wird heute als späte Frucht der verrotteten und teuflischen Vernunft interpretiert. Alle Schrecken der Neuzeit rühren vom Abfall des Glaubens und der Absetzung des christlichen Gottes. Der neuzeitlich titanische Mensch habe sich gegen Gott empört, ihn aufs Alterteil geschickt oder sogar getötet.

Dann habe er den leeren Thron des Schöpfers okkupiert und sich selbst zum Gott ausgerufen. Die Folgen würden wir jeden Tag deutlicher erkennen. Auch die Umweltzerstörung sei Folge der modernen Hybris, die sich in den Mittelpunkt allen Geschehens stelle und bedenkenlos die Natur um ihrer kurzsichtigen und eigensüchtigen Vorteile willen opfere. Die Aufklärung habe den Menschen zum Mittelpunkt der Welt geputscht. Nun hätten wir die Misere.

An diesen Schuldzuweisungen frappiert eine Form kausaler Zuschreibung, die im normalen Leben mit Hohnlachen quittiert werden würde. Würde ein mickriges Bürschchen sich mit Napoleon vorstellen, landete er tout à coup in der Klapsmühle. Wenn ein Staubsaugervertreter keinen Staubsauger vorzuweisen hätte, mir stattdessen eine unsinnige Versicherung unterjubeln wollte, würde ich die Polizei verständigen. Wenn ein Heuschnupfenallergiker meinte, er habe Krebs im Endstadium, gälte er als Hypochonder. Jeder normale Mensch würde hier fragen, ist der Hypochonder Mediziner? Experte? Oder redet er von Dingen, von denen er nichts versteht?

Ohne eingehende Untersuchung keine seriöse Diagnose. Bei Christen und Aufklärern gilt das alles nicht. Christ ist, wer sich so nennt. Als Aufklärer gebärden sich heutzutage pfiffige Theologen, naturschändende Technokraten oder menschenfeindliche Zwangsbeglücker. Als Christen definieren sich hochherzige Humanisten ebenso wie inquisitorische Literaten à la Mosebach.

Wenn Bezeichnungen kriterienlos sind, sind sie hohl und beliebig. Erst, wenn ich einen Maßstab besitze, kann ich messen und beurteilen. Doch heutige Maßstäbe in diesen Identifikationen unterliegen dem Gesetz der Gesetzlosigkeit.

Sollte Christ nicht sein, wer dem heiligen Buch der Christenheit folgt? Da dieses Buch aus Werbe- und Verkaufsgründen alle 10 Jahre neu nachmanikürt wird: lasst alle Hoffnung einer eindeutigen Definition fahren.

Allerdings: warum gilt für die Bibel nicht derselbe Maßstab wie für alle Bücher? Warum darf die Schrift nach Belieben verfälscht und die Verfälschung als alleinseligmachende Deutung deklariert werden? Diese grenzenlose Deutungswut gibt es bei keinem anderen Buch.

Wäre doch seltsam, wenn Homer, Sallust oder Thukydides alle 10 Jahre auf den Kopf gestellt würden. Auch bei ihnen kann man sich streiten, doch Maßstab bleibt immer der ursprüngliche Text und die penible wortwörtliche Deutung desselben.

Nur die Theologen beanspruchen, ihren biblischen Text nicht im sensus literalis zu verstehen, sondern – unter Inspiration des heiligen Geistes – alle subjektiven Wunschdeutungen und Zeitgeistphilosophien hineindeuten zu dürfen.

Dieses anarchische Sonderrecht der nie irren könnenden Gottesgelehrten muss gestrichen werden. Was ein Christ ist, bestimmt der unverfälschte Text der Bibel, der, wie jedes andere Buch der Weltgeschichte, wortwörtlich auszulegen ist.

Dadurch schrumpft die Deutungsbreite auf jene grundlegenden Gemeinsamkeiten, die alle Fundamentalisten und Biblizisten teilen, weil sie problemlos den heiligen Texten zu entnehmen sind.

Hinzu kommt das weitere Kriterium: christlich ist, was Christen unter dem Einfluss ihrer wortwörtlichen Texte taten. Texte prägen die Taten, Taten erklären und entlarven die Texte. Ein Kreuzzug war keine momentane Verirrung der Frommen, die Inquisition wird bei Augustin durch Worte des Neuen Testaments begründet.

Was ist mit den Widersprüchen in der Bibel? Was für Moderne ein Widerspruch ist, war es für Urchristen noch lange nicht. Gott und Teufel – ein Widerspruch? Für die Bibel nicht. Liebe und Hass ein Widerspruch? Im Gegenteil, wen Gott liebt, den züchtigt, malträtiert und tötet er.

Der liebende und der rächende Gott sind eins. Nur wer diese göttliche Identität aus Liebe und Hass verstanden hat, kann die hass-liebenden Taten des Mittelalters verstehen.

Bei der Vernunft ist es einfacher. Zwar stritten sich die Griechen in vieler Hinsicht, was Vernunft sei. Dass sie aber im Einklang mit dem Kosmos das Glück der Menschheit herzustellen habe, war der Grundkonsens der meisten Philosophen, die die späteren Aufklärungsbewegungen inspirierten. Und selbst die Gottesgelehrten so weit beeinflussten, dass sie begannen, ihre Bibel im Geist der neuen Vernunft umzudeuten und im humanistischen Sinn zu maniküren.

Die ständig neuen Deutungen haben keinen anderen Sinn, als die Spuren des Grauens in den Schriften nachträglich einzuschwärzen und ungeschehen zu machen. Die kausale Spurensuche der christlichen Schreckensgeschichte soll gelöscht werden.

In einer Kultur mit zwei derartig antagonistischen Grundfaktoren wie der Vernunft und der Offenbarung kann es gar nicht anders sein, als dass es zu seltsamsten, skurrilsten und verwirrendsten Mischbildungen kommt. Denn die Vernunft hat sich erst allmählich, gegen den erbitterten Widerstand der Kirche, durchsetzen können.

Mit anderen Worten: die Aufklärung hat schon sehr viel Vernunftarbeit geleistet, aber sie war noch lange nicht am Ziel. Aufklärer wie Robespierre und de Sade hatten noch viele christliche Intoleranzen hinter den Ohren. Sie waren noch lange nicht vernünftig genug, um demokratische und menschenrechtliche Verhältnisse anzustreben. Denn Vernunft ist demokratischer Einklang mit Mensch und Natur.

De Sade ging vom richtigen Motto der Aufklärung auf, das er bei Seneca gelesen hatte: „Die wahre Freiheit besteht darin, weder Menschen noch Götter zu fürchten.“ Um den christlichen Rache- und Bestrafungsgott nicht mehr zu fürchten, musste dieser radikal beseitigt werden.

Das konnte man am besten, wenn man seinen bisherigen Hauptgegner, den Teufel, auf seinen Thron setzte. Denn wenn Gott der Ursprung der Unfreiheit war, musste sein Widerpart der Inbegriff der Freiheit sein. Das war eine einfache Reaktionsbildung, viel zu mechanisch und reaktionär, um sich tatsächlich vom Gott des Schreckens zu lösen.

Gleichwohl: diese Reaktion war in jener Phase unvermeidlich und notwendig. Die Dämonen der Vergangenheit sind nicht in einem Akt vom Tisch zu wischen. Aufklärung ist ein mühsames und langwieriges Geschäft, schließlich haben wir Jahrtausende heiliger Indoktrination im Blut.

Wenn Gott der Übeltäter ist, muss auch sein gepredigtes Gutes von Übel und das bislang verfemte Böse das Gute sein. Alles wurde von de Sade in mechanischer Wut auf den Kopf gestellt. Die neue Gottheit de Sades war das Böse, identisch mit dem Teufel, der sich am Bösen freut. Sie ist das „Höchste Wesen im Schlechtesten und Verderbtesten“, wie eine Figur in de Sades Büchern erklärt.

Umgekehrt war die Kirche eine wahrhaft satanische Sekte, die den Menschen schändet und vergewaltigt im Namen ihres Götzen, den sie Gott nennt. De Sade beginnt eine Generalattacke gegen den Gott der Christen, gegen Thron und Altar, gegen die Tugend der Kanzelprediger. Das geht bis zur totalen Zerstörung, zum totalen Verbrechen, zur totalen Diktatur. Alles, was bislang gut war, wurde böse; alles, was bislang böse war, wurde zum Heil der Menschen.

De Sade wurde zum schrecklichen Gegenbild des Christentums. Doch was er bekämpfte, davon war er noch selbst bis in die Knochen geprägt. Den Teufel bekämpfte er mit Beelzebub. Genauer: den Gott mit einem Gott, der identisch mit dem Teufel war. Das war das Verhängnis der Gottesbekämpfer von de Sade bis Nietzsche, dass sie noch viel zu viel von jenem Gott in sich hatten, den sie eliminieren wollten.

Die Gegeninstanz zu Gott wurde die Natur, die mit dem bisherigen Teufel zur Einheit verschmolz. „Die Natur hat die Menschen nur geschaffen, damit sie an allem auf der Welt ihr Vergnügen haben. Was kümmern mich die Opfer, es muss welche geben. Nur durch Missetaten erhält sich die Natur und erobert sich die Rechte zurück, die die Tugend ihr genommen hat. Wir gehorchen ihr also, indem wir uns dem Bösen hingeben. Man muss die religiösen Schimären durch den äußersten Terror ersetzen“.

Wenn das Volk die Furcht vor der zukünftigen Hölle verloren hat, muss es die Hölle auf Erden fürchten. „Man muss alles wagen, ohne Furcht. Es gibt nur das Recht des Stärkeren, wenn der Schwache sich wehrt, ist es Unrecht. Reue ist widervernünftig, Mitleid ist die Sünde schlechthin.“

Wer in diesen Sätzen nicht den Vorhall des NS-Regimes hört, wird von Europas Schreckensgeschichte nichts verstehen. „Ich habe Vatermord begangen und Inzest, ich habe gemordet, prostituiert und Sodomie getrieben“, bekennt eine Hauptperson in de Sades Büchern. Die perfekte Exekution des Bösen bleibt nicht privatistisch. „Saint-Fond verrät Juliette seinen Plan, Frankreich zu verwüsten; er will zwei Drittel der Bevölkerung ausrotten, indem er alle Lebensmittel aufkauft.“

Nietzsche wird später in dasselbe Horn stoßen: „ Die Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehen.“ Da das Christentum die Schwachen vertrete, sei es das übelste Laster.

Nietzsche und de Sade hatten allerdings eine falsche Sicht aufs Christentum, dessen Liebesschalmeien sie für das Wesentliche der Frohen Botschaft hielten. Sie realisierten nicht, dass die Schwachen durch Gott die Stärksten waren, die wahren Starken, die wahren Sieger des Heilswettlaufs. Gott ist in den Schwachen mächtig, die Letzten werden die Ersten sein.

Fazit: Seitdem die aufkommende Vernunft das Christentum zwang, den janusköpfigen Gott eindeutig zu machen und zu moralisieren, musste das Böse – bislang Eigenschaft des Gottes – aus dem Begriff des Heiligen und Guten herausoperiert werden. Das ging nur durch Verdrängen ins kollektive Unbewusste.

Der Prozess der kontinuierlichen Aufklärung und Moralisierung musste durch die Verleugnung des unbearbeiteten Bösen bezahlt werden. Je stärker das vernünftige Gute ausgearbeitet wurde, je mehr mussten die satanischen Mächte hinunter in den Bauch des Abendlandes.

Wurde der Druck des Unbewussten zu groß, explodierten die untergründigen Mächte und verwüsteten die politische Oberfläche. Eine der schlimmsten Explosionen waren die Massaker der totalitären Regime, die das unterdrückte Böse der christlichen Erlösungsreligion nach oben kanalisierten und die Erde mit Feuer und Schwert des zwiegesichtigen Gottes & Teufels einer endzeitlichen Generalreinigung unterzogen.

Wüsste die moderne Ästhetik um all diese Vorgänge, wäre ihre Forderung sinnvoll, die Kunst solle das unbewusste Böse unserer Kultur ans Licht holen und kenntlich machen. Wir können uns nicht weiterentwickeln ohne eine solche Selbstprüfung. Solange wir unser verborgenes Böses nicht zur Kenntnis nehmen, werden wir nicht besser, sonder böser werden.

Doch die Kunstkritik hat von all diesen Zusammenhängen keine Ahnung. Nur undeutlich spürt sie etwas Richtiges. Doch Ahnen und Spüren genügen nicht. Sonst verwechselt man eine therapeutische Selbstbesinnung mit der Forderung von de Sade und Nietzsche: nur wenn wir böser werden, werden wir besser werden.

Bislang bezieht sich diese Forderung nur auf die Kunst. Doch morgen schon könnte die untergründige Sucht nach dem Bösen ins Leben überspringen und zur Politik werden. Es wäre nicht das erste Mal in Europa.