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Tagesmail

Sonntag, 23. September 2012 – Rückkehr der Religion

Hello, Freunde der arabischen Welt,

früher war sie arabia felix, das glückliche Arabien, Inbegriff orientalischen Sinnenglücks. Heute ist die arabische Welt zum Hexenkessel geworden, vor dem sich der hochstehende Westen bekreuzigt.

Araber beneiden und hassen uns um unserer Freiheit und unseres Wohlstands willen. Im Gegensatz zu uns sind sie blindwütend unduldsam. Im Gegensatz zum christlichen Dogma haben sie eine Epigonenreligion, die sie vom Alten Testament abgeleitet haben.

In Wirklichkeit hat ihre überlegene Zivilisation, Wissenschaft und Gelehrsamkeit Europas Entwicklung im Hochmittelalter erst angestoßen. Sie haben den griechischen Geist studiert, bewahrt und an uns weitergegeben. Sie hatten die Unverschämtheit, uns in allen Dingen überlegen zu sein. Dafür sollen sie heute noch büßen.

Hat es Sinn, ihnen Demokratie zu bringen, die sie mit Selbstbestimmung nichts anzufangen wissen? Hat es Sinn, ihnen Toleranz zu predigen, wenn sie dem Prinzip folgen: extra ecclesiam nulla salus, außerhalb der Kirche kein Heil? Oh, pardon, in die falsche Rille geraten, oder doch in die richtige? Ist es möglich, dass Moschee, Kirche und Synagoge auf denselben unduldsamen Fundamenten ruhen?

In unterschiedlichem Maße haben alle drei Erlösungsreligionen den Geist der griechischen Aufklärung aufnehmen müssen. Im christlich-jüdischen Europa ist die Freiheit der demokratischen Polis am weitesten vorgedrungen. Die arabische Welt war nach ihrem frühen kulturellen Hochstand der Macht der Imame anheim gefallen und

in Lethargie versunken.

Es genügt nicht, wenn nur gelehrte Elitenschichten der Vernunft folgen und die Völker der Unwissenheit und dem Terror der Religion überlassen werden. Auch die europäische Aufklärung war ein Elitenprojekt, das mit der Religion der Majorität kollidierte und erst allmählich in die unteren Volksschichten vordringen konnte.

Solange Aufklärung nur eine Angelegenheit des privilegierten Gehirns und nicht des universellen Magens ist, solange es noch Menschen gibt, die entrechtet und von Hunger geschwächt sind, dass sie gar nicht zum Denken kommen, solange wird die Sehnsucht nach fremder und allmächtiger Hilfe kein Ende finden.

Eliten wenden mit Erfolg den Trick an, ihre Errungenschaften als Errungenschaften aller Schichten zu definieren, um jene daran zu hindern, ihre Defizite zu beklagen und energisch Abhilfe zu fordern. Leben die Privilegierten herrlich und in Freuden, verbieten sie den Zukurzgekommenen, ihre Freuden auszumalen und visionär zu entwickeln.

Utopien sind im Neoliberalismus verboten. Kein Wunder, die Reichen haben sie für sich realisiert. Die andern sollen nicht begehrlich sein und sich begnügen mit den Brosamen vom Tisch der Satten und Zufriedenen.

Freiheit für alle ist im Neoliberalismus verboten, denn die Cleveren haben sie längst für sich verwirklicht. Wollen die Massen frei werden, betrachten die Oberen dies als Angriff auf ihre Freiheit, die nur eine Freiheit der Wenigen und Starken sein darf. Kann ein Starker frei sein, wenn er wie jeder Schwache an der Ampel warten muss?

Freiheit ist die Freiheit überlegener Stärke, nicht die der Einsicht und des rechten Tuns. Haben die Starken ihr Leben wunschgemäß eingerichtet, wird den Wünschen aller ein Riegel vorgeschoben. Wir sind doch alle aufgeklärt, uns geht’s doch allen gut, wir sind doch alle frei: sagen die 10% der upper class, um die Begehrlichkeiten der Vielzuvielen zu boykottieren.

Wer zu spät an den Futternapf kommt, für den ist die Küche geschlossen. Sogleich wird das Ende der Geschichte und der Konflikte ausgerufen, auch wenn im Rest der Welt noch Millionen verhungern und verderben.

In Deutschland wurde – von Müntefering und seiner Proletenpartei!! – das Ende der Klassenkämpfe dekretiert. In Deutschland gebe es keine Klassen mehr. Also Ende der Aufklärung – für andere. Ende des Gut- und Bessergehens – für andere. Schluss mit der Freiheit – für andere.

Das trügerische Wir wird zum Wir der erschlichenen Generalisierung. Haben wir schon alles – sagt die winzige Minderheit der Eliten – haben andere keine Nachholbedürfnisse mehr zu haben. Sind wir satt, haben alle satt zu sein. Sind wir frei, sind wir stellvertretend frei pro nobis. Wie der Herr für alle starb, sind sie für alle frei und fidel.

Kommt die Flut des Reichtums, winken die Passagiere der Kreuzfahrtschiffe den Ertrinkenden zu: Was schreit ihr denn um Hilfe – wir sind doch in Sicherheit.

Als in der Französischen Revolution der dritte Stand, die Bourgeoisie, den Kampf gewann und Klerus und Adel ihre Vorrechte verloren, hatte sie sich Zutritt in die oberen Etagen erkämpft. Das genügte den Stehkragen der Besitzenden. Der vierte Stand, der nachdrängende Pöbel, wozu auch das Weib an sich gehörte, wurde im Regen stehen gelassen.

Dort stehen Weib und Pöbel im Grunde noch heute. Man lese nur die Empörung unseres nationalen Hauptpastors über das Gejammere derer, die sich hierzulande für arm halten und die Unverschämtheit besitzen, nicht zu verhungern.

Es gibt Leute, die im Zweifel links sind und es gibt Hirten des Herrn, die ohne Zweifel immer auf der rechten Seite derer sind, die bereits alles haben, damit sie jene zusammenstauchen können, die unter den Trebern der Schweine herumkriechen. Ist es im Schweinestall nicht schön warm und behaglich?

Menschen erhoffen von allmächtigen Göttern, was Kinder von allmächtigen Eltern erwarten: die Lösung aller Probleme und den Einzug ins Land, wo Milch und Honig fließen. Die Religion kennt die Gesetze der Häutung, Mauserung, des modischen Maskierens, des strategischen Mitlaufens, des Draufhauens und Demütigens, des Totstellens und der zähen Wiederauferstehung. Solange Menschen den Eindruck haben, sich selbst nicht helfen zu können, solange wird es Erlösungsreligionen geben.

Nicht zu verwechseln mit Naturreligionen, die ihre vitale Lebenskunst mythologisch mit der Natur verflechten, die keine Lebewesen erniedrigt, sondern als selbstbewusste Geschöpfe anerkennt.

Kein Zweifel, nach ihrem außerordentlichen Höhenflug in den Anfängen ihrer Geschichte sind die arabischen Staaten nicht nur stehengeblieben, sondern zurückgefallen auf den theokratischen Grund ihrer heiligen Schrift. Dies festzustellen, ist keine eurozentrische Blasiertheit. Jeder frei denkende arabische Mensch wird diesen Satz unterschreiben und den Europäern ins Stammbuch schreiben: wenn ihr eure Freiheiten nicht verteidigt, werden wir unsere Freiheiten nie erringen.

Europa hat Arabien unendlich viel zu verdanken. Nun könnte es sich dankbar erweisen und den Freiheitskampf von arabia infelix mit allen Kräften unterstützen.

Doch wie sieht es in der Realität aus? Der Islamwissenschaftler Guido Steinberg beschreibt in der TAZ die Lage der arabischen Nationen, in denen ein großer Zorn gegen den Westen herrscht. Das dümmliche Filmchen war nicht der Grund der Proteste, sondern nur der Anlass. Die wirkliche Ursache ist „eine weit verbreitete Wahrnehmung, dass man es mit einem religiös-kulturellen Angriff auf den Islam zu tun habe, der seitens der USA und der Europäer geführt wird.“

Diese Grundstimmung sei schon seit mehreren Jahrzehnten vorhanden und werde von Extremisten ausgenützt. Solange der Westen seine Politik des doppelten Standards in Nahost weiter betreibt, werden dortige Demokraten es außerordentlich schwer haben, trotz des miserablen westlichen Vorbilds ihre eigenen freiheitlichen Ziele zu verfolgen. (TAZ-Interview von Raphael Sartorius mit Guido Steinberg)

Carlo Strenger ist Psychologe aus Tel Aviv und hat in der TAZ die Niederlage der israelischen Linken bekannt gegeben. Die Linke mit ihrem Glauben an eine Zweitstaatenlösung sei endgültig gescheitert. Es gebe keine Hoffnung mehr für die Palästinenser, einen eigenen, selbständigen Staat zu erhalten. Das bisherige Sätzchen der Hoffnung hatte gelautet: „Jeder weiß, wie die Sache ausgehen wird.“ Jeder dachte an das friedliche Nebeneinander zweier gleichberechtigter Staaten. Strenger: „Es ist an der Zeit, einen kalten harten Blick auf die Realität zu werfen: Wir haben verloren.“ (Carlo Strenger in der TAZ: Wir haben verloren)

Interessiert das jemanden in Deutschland? Wo ist die Phalanx der Judenfreunde, der Philosemiten, die stets am Wohlergehen Israels interessiert sein wollen? Gehören die Linken nicht zum authentischen Judentum? Sind sie eine Minderheit, die man ignorieren kann – wie hierzulande die Minderheit jener Juden vom Tisch gefegt werden, die nicht zur Fraktion der Beschneider gehören.

Was geschieht indessen bei uns? Bösewicht Broder beleidigt mit bekannten Methoden Jakob Augstein – und niemanden interessiert‘s. Kein Streitgespräch, keine Auseinandersetzung. Augstein lässt den Angriff kaltlächelnd an sich abtropfen und sammelt glühende Kohlen auf Broders Haupt. Jagdszenen aus Niederdeutschland.

Im TAGESSPIEGEL schreibt Michael Wolffsohn einen ungewöhnlich deutschenfreundlichen Artikel – „Danke Deutschland“ – und verwirft die Ansicht, aus Beschneidungsgründen müssten hier lebende Juden massenhaft das Land verlassen. Das Gegenteil sei richtig, Deutschland sei zum Lieblingsland auswanderungswilliger Juden geworden.

Wen interessierts? Wer antwortet? Da streckt ein deutscher Jude die Hand aus zum notwendigen Dialog – und niemand ergreift sie.

(Michael Wolffsohn im TAGRSSPIEGEL: Danke, Deutschland!)

Strengers Blick auf sein Land ist desolat. Zwar sei die Zweistaatenlösung politisch und moralisch nach wie vor richtig. Aber sie werde mit Bestimmtheit nicht kommen. Als im letzten Jahr der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh die Ansicht vertrat, die Juden seien durch ihre Geschichte so traumatisiert, dass sie die Westbank niemals aufgeben würden, wollte Strenger auf keinen Fall zustimmen. Doch jetzt habe er kapituliert.

Die Linke habe keine Chance mehr, an die Macht zu kommen. Die Israelis seien geradezu allergisch gegen den Begriff Frieden geworden. Sie glauben, sich in schlechter Gesellschaft zu befinden und den Nachbarn nicht übern Weg trauen zu können. Und das hieße ständige militante Wachsamkeit. Auch der arabische Frühling werde mit skeptischer Besorgnis beäugt.

Wer sich bedroht fühle, so der Psychologe, tendiere dazu, nach rechts zu rücken. Welche Lösung gibt’s dann noch? Wenn es keine Chancen mehr auf die beste Lösung gebe, müsse man eben die zweitbeste anstreben. Und das sei die Koalition der Linken mit liberalen Rechten, die zwar auch die Westbank annektieren, aber den Palästinensern die vollen Bürgerrechte verleihen wollten. Doch dann würden erst die Probleme beginnen.

Wie können zwei Völker, die im Hass miteinander verstrickt sind, zusammen einen Staat lenken? Der Konflikt der „weiblichen Gebärmutter“ würde überhand nehmen. Welche Volksgruppe wird mehr Kinder gebären, um die demoskopische Vorherrschaft in der Gesellschaft zu erringen? Schon jetzt gäbe es einen Gebärwettbewerb zwischen religiösen und säkularen Juden. Mit demografischen Mitteln wollten die Ultras den Staat langfristig in eine Theokratie verwandeln. Das wäre ein Ajatollahstaat auf jüdisch.

An allen Ecken und Enden brennen die roten Lampen in Erez Israel. Strengers bitterer Offenbarungseid ist ein Hilferuf an alle, die sich der jüdischen Sache verbunden fühlen.

Bei uns keinerlei Reaktionen. In Israel wird die Bibel immer wörtlicher exekutiert: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde, wahlweise das heilige Land. Die Rechtsextremen triumphieren bei uns, die professionellen Philosemiten verhalten sich wie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen.

Die Deutschen ignorieren das Land, mit dem sie befreundet sein wollen. In der BRD würde sich niemand trauen, Juden als traumatisiert zu bezeichnen. Ein Trauma ist eine erhebliche seelische Verwundung, die den Verwundeten realitätsuntauglich machen kann. Wer dies in einer deutschen Gazette schriebe, müsste sich mit Broder duellieren.

Wer traumatisiert ist, kann keine rationale Politik machen. Doch seine politische Unfähigkeit darf er auch nicht zugestehen, sonst muss er fürchten, endgültig von der Weltöffentlichkeit abgelehnt zu werden. Bleibt nur die Flucht nach rechts ins religiöse Lager. Wenn niemand mehr einen Ausweg kennt: In der Not verlässt Gott nicht die Seinen.

Im christlichen Westen, in arabischen Ländern, in Israel, überall sehen wir die Rückkehr der Religionen. Bei uns hingegen herrscht der nassforsche Aufkläricht, mit Religion hätten weltpolitische Probleme nichts zu tun. (Jakob Augstein)

Können wir sagen: Den Teufel spürt das Völkchen nie und wenn er sie am Kragen hätte? Das wäre folkloristisch. Trefflicher wäre: den omnipotenten Gott spürt das Völkchen sehr wohl, weil er sie am Kragen hat.

Wenn das Bedürfnis nach Religion übermächtig wird, schrillen die Kriegsglocken. Krieg ist die robuste Zeit der Gottesbeweise, das lustbetonte Fingerhakeln monotheistischer Schöpfer und Vernichter.

Als sich 9/11 ereignete, kommentierte Scholl-Latour bündig, die Epoche des Fun sei vorüber. Doch die Abwesenheit von Freude scheint noch nicht genug. Die Luft muss bleihaltiger werden. Allzu lange hat der Westen im Moder des Friedens gelebt.

Zeit zum kathartischen Remmidemmi. Denn Krieg ist, nach Thomas Mann die „ungeheure Hoffnung“ auf „Reinigung, Befreiung“, um der „grässlichen Welt des Friedens“ zu entfliehen. „Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation?“

Das war 1917, als Europa den duldsamsten und barmherzigsten Gott der Nationen ermittelte.