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Sonntag, 22. Juli 2012 – Koalition der Verlierer

Hello, Freunde der Morgenröte,

die Morde in Aurora wären zu verhindern gewesen, wenn alle Besucher das Kino mit Waffen hätten betreten dürfen – sagt ein Waffenlobbyist. So hätten sie sich wirksam zur Wehr setzen können.

Amerika ist das einzige Land der Welt, in dem es mehr Waffen als Menschen gibt. Es ist das Land mit dem größten Ehrgeiz, den Abstand zwischen Sein und Schein zu negieren und mit seinen Fiktionen zur Einheit zu verschmelzen.

Nun wissen wir, was cineastische Ästhetik ist: kein Abklatsch der schnöden Realität durch Zelluloid. Sondern die perfekte Nachahmung des Zelluloids durch die Realität.

Was das Publikum im Film sah, erlebte es synchron in Raum und Zeit. Ein außerordentlicher Triumph für die Alptraumfabrik Hollywood: die Welt wird von ihr neu erschaffen. Im Blut ihrer Zuschauer, die nicht länger passive Beobachter, sondern aktive Tote sein dürfen.

Die beiden Kandidaten schweigen. Sie brauchen die Gelder Hollywoods und der Waffenindustrie zur Finanzierung ihres Wahlkampfs. Laut Hörensagen plant die Filmindustrie schon den nächsten Film mit Realitätsgarantie: die

Ermordung eines dunkelhäutigen Präsidentschaftskandidaten während der Wahlkampagne. An ihren Darstellungen der Apokalypse müssen die Zauberer der Welt 2.0 noch arbeiten.

 

Lang genug hatten die Wächter des medialen Seins Geduld geübt. Nun kracht es in den Gazetten. Das Publikum will nicht mehr so, wie die Platzhirsche des Wortes gern wollten. Die Reedukation der deutschen Täternation zeigt ihre Früchte.

Die Deutschen verteidigen die weltliche Demokratie und weichen keinen Millimeter vor dem Ansturm der Religionen, welche Sonderrechte und Ausnahmegesetze für sich fordern und den ehernen Grundsatz jeder Polis durchlöchern wollen: vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich.

Mit einer Ausnahme: die politischen und medialen Eliten liegen schamlos auf dem Bauch und unterstützen die Fragmentierung der Gesellschaft in Parallelgesellschaften und hierarchische Wertigkeiten.

Schon immer standen die Geistesaristokraten in Deutschland auf der Seite der Demokratiegegner. Fast die gesamte intellektuelle Elite der Weimarer Demokratie war sich einig, dass der Aufstand der Masse, die Dominanz des Mannes auf der Straße gestoppt werden muss und unterstützte die erleuchteten Minderheiten in SA- und SS-Stiefeln.

Die Eliten sind lernunfähig und beratungsresistent. Da sie Minoritäten sind, muss die Mehrheit in einen ungeschlachten Zyklopen verwandelt werden, der von der kleinen, aber feinen Minderheit gelenkt werden muss. „In der Minderheit verbirgt sich die Seele der Demokratie“, erklärte Walter Muschg und sprach der Seele in Redaktionsstuben, Denkfabriken und elitären Zirkeln voll aus dem Herzen.

Die Deutschen sind geborene Platoniker. Platon hat der Demokratie nie verziehen, dass sie in seiner Akademie nicht mindestens 10 bis 15 Jahre Mathematik und Philosophie studiert hat, um sich freudig den weisen Königen unterzuordnen. Wie kann ein unerleuchteter Menschenhaufen sich erkühnen, per Mehrheitsentscheidungen sich selbst zu regieren?

Was im vollendeten Staat Philosophenkönige waren, sind heute Tagesschreiber und Kommentaristen, die über die Macht des Wortes gebieten, um der seelenlosen Mehrheit zu zeigen, wohin die Reise gehen soll.

 

„Es ist gut“, sagt Daniel Bax von der einst basisdemokratischen TAZ, „dass sich die Politik jetzt bei dem sensiblen Thema fast geschlossen gegen die Mehrheitsmeinung gestellt und für den Schutz der zwei größten religiösen Minderheiten eingesetzt hat.“

Es zeuge von Selbstgerechtigkeit und Paternalismus, religiösen Minderheiten vorschreiben zu wollen, wie sie ihre Religion zu leben hätten. Es zeuge von Populismus, solchen Stimmen nachzugeben. Hätten die Deutschen nicht oft genug bewiesen, dass sie zur Toleranz fremder Bräuche nicht fähig seien?

Ist der Brauch der Beschneidung hierzulande „nicht schon seit Jahr und Tag vielfach praktiziert worden? Eine Reform dieser jahrhundertealten Bräuche könne nur von den Gläubigen selbst kommen und dürfe nicht verordnet werden.

„Lust an der Zwangsbekehrung“, überschreibt Bax seinen Artikel, der vor Toleranz nur so strotzt – gegenüber der Verletzung des demokratischen Grundgesetzes.

Alte Bräuche sind wieder durch ihre Patina vor Kritik geschützt. Früher war es religiöser Brauch, die Kinder halb tot zu schlagen, damit sie in den Himmel kommen. Wen Gott liebt, den züchtigt er.

Früher war es Brauch, verdächtige Frauen zu ihrem Besten im Feuer zu grillen, damit das Land nicht länger von ihnen verhext werde. Wenn schon ihr sündiger Leib ein wenig Schaden nehme, sollte wenigstens die Seele unbeschädigt ins Himmelreich kommen.

Über Nacht ist in Deutschland die Macht der Tradition und des heiligen Brauchtums zurückgekehrt. Eine angebliche Animosität gegen das „Fremde“ muss herhalten, um die intolerante Idolisierung des Eigenen und Eigentümlichen zu demonstrieren. Doch die Sonderbehandlung des Religiösen ist in diesem unserem Lande uralter Brauch und mitnichten fremd.

Ist es nicht Bax selbst, der die „Religionskritiker“ darauf hinweist, dass es hierzulande christliche Privilegien gebe, die auch mal ausgemistet werden müssten? Äußerst einleuchtend, den einen die Privilegien wegzunehmen, den andern aber zuzuschanzen.

Oder geht es um Privilegien erlesener Minderheiten gegen Privilegien vulgärer Mehrheiten? Dann wäre es an der Zeit für die vulgären christlichen Mehrheitskirchen, sich schnellstens auf edles Minderheitenniveau gesundzuschrumpfen, damit sie ihre alten Brauchtümer und Vorrechte behalten dürfen.

Wo Bax Recht hat, hat er Recht. Natürlich müssen unverschämte Sondergesetze für christliche Caritas- und Diakonie-Angestellte, die heute noch fließenden Reparationszahlungen für die Säkularisation, das Recht, bei universitären Berufungen unliebsame Bewerber madig zu machen, die Sonderalimente für Bischöfe, das Beschnüffeln der Sex-Moral ihrer Lohnabhängigen, sofort abgestellt werden.

Warum delegiert Bax diese Forderungen an Religionskritiker, als ob er nicht in dieser Gesellschaft lebte? Überhaupt sollte man die Verteidigung des Rechtsstaats nicht auf Religionskritiker beschränken, sonst müsste nachgefragt werden, aus welcher rechtsfernen Loge denn die TAZ das politische Geschehen zu beobachten gedenkt.

Das gleiche Recht für alle müsste noch immer von allen Gleichen verteidigt werden. Sonst wäre einmal nach dem mangelhaften Rechtsverständnis der edlen Minoritäten zu fragen.

Wer will hier denn Religionen erneuern oder Religiöse bekehren? Besitzen denn die Handvoll Religionskritiker dieses Landes die absolute Macht, dass sie zwangsbeglücken könnten? Ist Zwangsbeglückung nicht das deutsche Wort für Faschismus? Da müssen sich die Religionskritiker in Acht nehmen, dass man sie nicht dem Verfassungschutz unterstellt und den Rechtsradikalen zuordnet.

Sollte der Begriff allerdings die Radikalität der Verteidigung des Rechts andeuten, wäre er ein Ehrentitel.

Bax müsste sich mal die amerikanische Praxis im Umfeld der Unabhängigkeitserklärung anschauen. Da würde er schnell bemerken, dass in einem freien Land das Recht der freien Religionsausübung des einen am Recht der freien Religionsausübung des andern endet. Der Kinder zum Beispiel oder der Vertreter des Rechtsstaates.

Denken und Glauben kann man alles, Handeln aber nicht. Gedanken sind frei, in einer Mediengesellschaft müssen sie nicht mal erraten werden. Taten aber nicht. Das ist uralter Brauch der Demokratie, wurde von Deutschen leider nicht erfunden, weil sie bei Demokratie immer noch die Nase rümpfen.

Es geht weder um Bekämpfung der Religion, noch um ihre Rundumerneuerung. Das alles geht den Rest der Gesellschaft nichts an – sofern die Taten der Religion sich nicht über das Recht stellen. Es geht um Einzäunung der Taten einer imperialen Religion auf das Revier bloßer Rechtsstaatlichkeit.

Die gescholtenen Atheisten, Agnostiker und das sonstige gottlose Gesindel sind bei diesem Konflikt – die Verteidiger des Rechtsstaates. Die medialen Alphatiere gehören nicht dazu. Sie haben alle Hände voll zu tun, ihre privilegierten Machtinteressen zu verteidigen, indem sie gönnerhaft die privilegierten Dreistigkeiten der Religion unterstützen.

Ein Deutscher fühlt sich am lautersten, wenn er nicht seine eigenen Interessen, sondern uneigennützig die der Kleinen und Schwachen vertritt. Ein nobler Standpunkt, wenn er nur nicht die Kleinigkeit übersähe, dass die schwachen Frommen mehr Macht besitzen als alle Religionskritiker der Welt zusammengenommen. Bei dieser uneigennützigen Parteinahme kann man seine eigenen verdeckten Interessen leicht aus dem Auge verlieren.

Seit jeher war es eine beliebte Strategie, sich als David zu gerieren, um seinen Kampf gegen den Goliath zum Heldenepos zu stilisieren. Was in biblischen Zeiten die Überlegenheit der technischen Steinschleuder, ist heute die Macht der Medien, auf Gegner einzuschlagen, die sie niemals an gleichberechtigter Stelle abdrucken. Die Leser könnten sich ja ihren eigenen Reim bilden. Insofern sind die Alphatiere medialer Sonderrechte echte Vorbilder unserer Demokratie.

(Daniel Bax in der TAZ: Lust an der Zwangsbekehrung)

 

Nun kommen wir zum Aufschrei des BZ-Rechtskommentators Bommarius, der offensichtlich im Rausch der Geistesabwesenheit all seine sonst so soliden §§-Kenntnisse im Orkus versenkte oder aber eine Satire schrieb, die niemand als solche erkennen sollte. Während Prantl das Sorgerecht der Eltern auf die Seligkeit im Himmel ausdehnt, ist Bommarius unter die Religionsstifter gegangen.

Es ist eine ganz neue, uralte Religion der Eltern. Am ehesten zu vergleichen dem Recht des himmlischen Vaters – bei Bommarius darf die Mutter schon mitentscheiden –, der die eigenen Kreaturen aus rein pädagogischen Gründen quälen darf. Was der allmächtige Vater in der Bibel, ist bei Bommarius das allmächtige Elternpaar.

Bommarius leugnet gar nicht, dass Beschneidung eine Körperverletzung ist. Diese sei aber gerechtfertigt, wenn sie der Gesundheit und der sinnvollen Entwicklung des Kindes diene. Wer entscheidet über das Kindeswohl? Die allwissenden, allmächtigen und irrtumslosen Eltern.

Tag für Tag würden Kinder die Opfer von Körperverletzungen, die jedoch gerechtfertigt wären, weil Eltern immer nur das Beste für ihre Kinder wollten. Wenn Eltern medizinische, ästhetische oder materielle Gründe für die Verletzung angeben würden, gäb‘s keinen Aufschrei in der Gesellschaft. Nur bei religiösen Gründen würde man plötzlich von Barbarei reden.

Genau das wäre ein Hinweis auf die verborgene Motivation der Beschneidungsgegner. Unter dem Deckmantel einer juristischen Frage würden antiislamische und antisemitische Affekte erkennbar, die für das gesellschaftliche Zusammenleben viel gefährlicher wären als jede „religiös motivierte Zirkumzision.“ Insofern begrüßt Bommarius die Resolution des Bundestages, die zum „Vernünftigsten“ zähle, was in dieser Debatte bisher vorgetragen sei.

Nun hat man sich schon daran gewöhnt, dass, wenn sich sonst keine Argumente einstellen, man mit dem Vorschlaghammer des Antisemitismus kommt. Bax hat sich mit der Intoleranz gegen alles Fremde begnügt.

Ob eine bestimmte Maßnahme dem Kindeswohl entspreche, das hätten nicht Juristen zu entscheiden, sondern die Eltern. Was aber sei Kindeswohl? „In erster Linie das, was die Eltern darunter verstehen.“

Kein Mensch käme auf die Idee, Eltern den Vorwurf zu machen, wenn sie „irreversible Gesundheitsschäden“ bei ihren Kindern durch sportliche Betätigungen riskieren würden. Und keine Eltern müssten sich vor Gericht verantworten, wenn sie nicht „wüssten“, ob eine Impfung Fluch oder Segen für ihr Kind bedeute.

Man fragt sich verzweifelt, ob Bommarius, der Jurist, noch nie von Rechten des Kindes gehört hat, die nicht nach Belieben durch gottähnliche Eltern unterlaufen werden dürfen?

Eltern wollen nur das Beste für ihre Kinder – also ist es auch automatisch das Beste? Sind alle Debatten der pädagogischen und therapeutischen Bewegungen in den letzten 50 Jahren spurlos an Bommarius vorübergegangen?

Wenn die bewussten guten Motive der Eltern eine Garantie sein sollen für die Güte ihrer Handlungen, woher dann das ganze psychische Elend unter Jugendlichen, um von ausgesonderten, kriminellen und süchtigen Jugendlichen gar nicht zu reden?

Das ist ein Rückfall in die steinzeitliche Adenauerzeit, wo alle Eltern sich gegen ihre aufmüpfigen Kinder mit dem Satz zur Wehr setzten: Wir wollten doch nur euer Bestes. Wir wollten, dass ihr es besser habt als wir. Unbestritten, dass sie das wollten. Doch das Gute wollen und das Gute erreichen – sind zwei Paar Stiefel.

Die meisten Politiker, ja die meisten Ökonomen und Börsenzocker wollen immer nur das Beste für Mensch und Wirtschaft. Selbst Faschisten wollen die Menschheit beglücken, wenn nicht anders, dann mit Gewalt.

Kann es sein, dass Eltern lernen müssen, ihre eigenen Motivationen zu befragen, um ihre Beschädigungen nicht hinter dem Deckmantel der guten Absicht an ihren Nachwuchs weiterzugeben?

Kann es sein, dass sie bei Krankheiten Mediziner konsultieren müssen, um das Beste für die Gesundheit ihrer Kinder zu erreichen? Kann jeder Sektierer seinem Kinde eine lebensrettende Operation verweigern, nur weil seine religiöse Motivation alles medizinische Fachwissen für Teufelszeug hält?

Können Frömmler ihre Kinder nach Belieben zu Hause unterrichten, nur, um sie von bösen Einflüssen einer weltlichen Schule fernzuhalten? Können muslimische Mädchen Schwimmunterricht und Klassenausflug versäumen, nur weil ihre Eltern sie vor Sünden bewahren wollen?

Können pubertierende Mädchen mit ihren Cousins zwangsverheiratet werden, nur weil es seit Jahrhunderten Brauch ist in muslimischen Ländern?

Können junge Mädchen sich ästhetischen Operationen unterziehen, nur weil ehrgeizige Mütter sie bei Schönheitswettbewerben paradieren sehen wollen?

Müssten gute Freunde nicht jene Eltern kritisieren, die ihre Kinder rücksichtslos zu sportlichen oder musikalischen Karrieren antreiben?

Nicht alles kann man gesetzlich regeln. Noch gilt der Grundsatz, eine demokratische Gesellschaft soll mit Argumenten die Menschen zu überzeugen versuchen. Und nicht gleich mit dem Kadi drohen, sonst landen wir schnell in einem Polizeistaat.

Die kritiklose Verherrlichung des Elternwillens bei Bommarius ist nicht zu fassen. Der Wille der Kinder selbst kommt bei ihm gar nicht vor. Kinder sind bloße Verfügungsmasse des elterlichen Willens. Was soll aus dir werden, wenn du nicht aus der Menge herausragst?

(Christian Bommarius in der FR: Das Recht zur Beschneidung)

 

Was wir bei Bax, Prantl und Bommarius erleben, hat die deutsche Geschichte beim Übergang der Aufklärung in die Zeit der klerikalen Romantiker schon einmal erlebt. Novalis sehnte sich zurück in die Ordo des Mittelalters, Bommarius in die Biedermeierzeit gottebenbildlicher Eltern.

Die medialen Großschreiber verlieren allmählich die Kontrolle über das öffentliche Forum. Die Basis macht sich selbständig und verständigt sich untereinander. Es kommt Bewegung in die Mediokratie. Mündige Bürger sind die Bevormundung der Schreiberkaste allmählich leid, lassen sich nicht länger von den Basta-Tönen ihrer Vordenker und Vorschreiber ins Bockhorn jagen.

Die Eliten fühlen, dass ihnen die Macht über den Großen Lümmel entgleitet. Sie rotten sich zusammen, um in der Koalition der Verlierer zu retten, was nicht mehr zu retten ist.

Dass es auch ganz andere Stimmen zur Beschneidungsproblematik geben kann, zeigt der blitzgescheite Artikel von Bettina Röhl im SPIEGEL.