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Sonntag, 22. Januar 2012 – Egal-Demokratie

Hello, Freunde der Gleichheit,

man könnte die politische Geschichte als Kampf zwischen Gleichen und Ungleichen schreiben. Gewannen die Gleichen, kam’s zu Demokratien, gewannen die Ungleichen, kam’s zu Tyranneien, Diktaturen und Erlösungsreligionen.

Die Ersten werden die Letzten sein, die Letzten die Ersten, wer unter euch der Größte sein will, sei euer aller Knecht, stellet euch nicht gleich dieser Welt: Himmel und Hölle sind die finalen Worte über Erwählte und Verdammte.

Religiöse Dualismen sind der Feind aller Demokratien, in denen der Kampf um Gleichberechtigung allerdings auch nie aufhört, denn jeder will besser, leistungsfähiger und würdiger als der andere sein. Die Dominanz eines wirtschaftlichen Leistungssystems untergräbt permanent die erhebende Parole von der Brüderlichkeit und Gleichheit im Namen einer sogenannten Freiheit, die nichts anderes will, als von Brüderlichkeit und Gleichheit frei zu sein.

Hayek und die Neoliberalen schrieben reihenweise scharfsinnige Bücher gegen „Egalitarismus, Gleichschaltung, Nivellierung und Uniformität“ der „Massendemokratie“ und plädierten für absolute Ungleichheit der „Leistungseliten“. Leistung muss sich wieder lohnen, heißt, wer mehr Kohle macht, ist bei Gott, Bankern und Politikern angesehener, als wer Väterchen Staat auf der Tasche liegt.

Die deutschen Geistesriesen von Kant über Goethe, Schiller bis Nietzsche verachteten alle die „durchschnittliche Fabrikware“ des homo spießbürgeriensis, die Philister, das Mittelmaß der Satten, Zufriedenen. Sie waren

die Genialen, die hoch über der Meute der Standardisierten mit den griechischen Göttern auf dem Olymp thronten, der in Deutschland Weimar hieß. Die Abscheu vor dem Mittelmaß, dem momentan gebräuchlichen Codewort für Gleichheit, beginnt heute wieder zu grassieren, besonders in genialen Literatur- und sonstigen Kreativzirkeln. Wie der Artikel des ungleichen Schriftstellers Politycki in der genialen ZEIT zeigt.

Geniereligion war die irdische Umsetzung jenes Erwähltheitsglaubens, dessen einziger Zweck darin besteht, zu worfeln und den Spreu vom Weizen zu trennen. Wer heute genial sein will, nennt sich kreativ und hasst den Rest der dumpfen Menge. Oder er wird Bill Gates und fühlt sich als Gesandter Gottes, zu retten die Kranken und Schwachen dieser Welt. Oder er wird Zocker an der Wallstreet und fühlt sich als Master of Universe, der mit der Weltwirtschaft Domino spielt.

Wenn der arme Bürger Christian Wulff als Bundespräsident sich etwas ungleicher fühlt als die Masse seiner nie gewählten, sondern nur geworfenen Untertanen und den Liebestribut seiner vielen ungleichen Freunde kassiert, ist er unschuldig.

Er wurde in die Falle der Ungleichheit gelockt. Vom deutschen Gesetzgeber. Dort heißt es: der Bundespräsident ist kein normaler Mensch, sondern ein übernormaler. Für ihn gilt der demokratische Grundsatz nicht: vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Wenn er kritisiert wird wie andere Bürger, so gilt für IHN: was der Nummer 1 gebührt, gebührt den Nummern 2 bis X noch lange nicht.

Er darf sich verunglimpft fühlen, wenn andere an ehrenrührige Beleidigungen noch gar nicht denken dürfen. Ganz allein für sich hat er den § 90 des Strafgesetzbuches zum Schutz seiner besonders gefährdeten Sensibilität als Inthronisationstribut erhalten, wonach jede(r) seiner VerunglimpferInnen eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren Haft erhalten kann. 

Freiheitsstrafe ist wörtlich gemeint: man wird zur Freiheit bestraft. Zur Freiheit der äußerlich zwar Unfreien – doch im Innern der Mauern herrscht die unbegrenzte Freiheit der leistungsfähigeren Faust und kreativ-krimineller Energie. Im Gegensatz zu den äußerlich Freien, die in Wahrheit innerlich gehemmt und von skrupulösen Über-Ich-Instanzen geknechtet sind.

Freiheit für Opfer Christian! Von Juristen und Gesetzgebern wurde er in die Ungleichheitsfalle gelockt, wonach IHM zustehen soll, was anderen noch lange nicht zusteht. Das Strafgesetzbuch vor den Kadi! Wenn selbst ein von Genialität weit entfernter, durchschnittlicher Grüner unser aller Vorbild einen Lügner nennen darf, sollte man nicht die NPD – aus deren anständigen Reihen man solche Ungeheuerlichkeiten nie hört –, sondern die Grünen mit einem Parteienverbot überziehen.

Da die Deutschen gern zwischen Amt und Person unterscheiden, könnte Person Christian sich raushalten. Nicht sie klagt, sondern – das Amt. Wir brauchen wieder einen Kaiserersatz à la Hindenburg. Ab jetzt wird High Noon in Bellevue gespielt. 

Mindestens so empört wie BILD war der SPIEGEL über Wulffs Anschlag auf die Presse- und Meinungsfreiheit. Diese Freiheit sei ein hohes Gut, wurde in sakralem Ton auf allen Kanälen verbreitet. Womit wir wieder beim Gut wären, was sicherlich nicht identisch sein kann mit „Gut“ in Gutmensch. Denn jenes Gut ist ein weniger hohes, ja ein niedriges, sogar verabscheuenswertes Gut, noch schlimmer als ein Schlecht. Vielleicht sogar ein auf der offenen Richterskala ganz oben angesiedeltes Bös.

Gutmensch wäre beinahe zum Unwort des Jahres geworden, nur im Nanobereich dem Dönermord unterlegen. Gutmenschen sollte man rigoros ächten, sonst hören die Dönermorde nie auf. Und also lautet der nachmodernisierte Rütlischwur für alle Elitekitas, Grundschüler und Beamtenanwärter: „Schlecht wollen wir sein, ein einig Volk von Gaunern und Betrügern. Wir wollen schlecht sein, wie die Väter waren, eher den Tod als in der Despotie des Guten leben. Wir wollen trauen auf den höchsten Bös und uns nicht fürchten vor der Macht der Guten.“

Und nun das: in der Tiefe der genialen SPIEGEL-Kolumnen finden wir ein unverhülltes Attentat auf das hohe Gut der Meinungsfreiheit. Wo bleiben Dieckmann, Blome und Jakob Augstein, um den Anschlag ans Licht zu zerren, zu decouvrieren, zu dekonstruieren und zu massakrieren?

Sibylle Berg, die sich als umgänglichen Menschen mit guten Zähnen bezeichnet – womit sie in der Gattungsbeschreibung geschickt vorwegnimmt, dass Frauen auch Menschen sind, was selbst Freud noch nicht so klar war – will ab jetzt nur Thesen dulden, Meinungen sind untersagt. Und wenn schon Meinungen, dann keine beleidigt wirkenden. Und wenn schon beleidigt wirkende, dann keine beliebig mäkeligen. Und wenn schon mäkelige, dann keine ernsthaften mit plagiierten Klugscheißersprüchen, die man dem enzyklopädischen Netz per leichtem Knopfdruck entwenden kann. Und überhaupt keine, die immer nur das Eine wollen: Recht haben und alles besser wissen wollen.

Das alles erträgt die beißfeste Sibylle Berg nicht. Und also muss das hohe Gut der Meinungsfreiheit sibyllinisch umgeschrieben werden. Die Massendemokratie hat zu viele Schlaue und Überschlaue hervorgebracht, die sich des demokratischen Privilegs der Freiheit als unwürdig erwiesen und es zur eigenen Rechthaberei und zum Sturm gegen die bisherigen Meinungsbesitzer und brahmanischen Hofschreiber ausgenützt haben.

1. Meinungen der Allzuvielen sind nur zugelassen, wenn sie, wie bisher, pöbelhaft von keiner Kenntnis getrübt und massentauglich doof sind.

2. Meinungen, die Recht haben und etwas besser willen wollen, sind verboten.

3. Meinungen, die das hervorragende Leben der Sibylle Berg mit dem Vorzugsrecht, all ihre kreativen Gedanken der staunenden Öffentlichkeit genialisch hinzublättern, auch nur ein wenig anknurren, sind verboten.

4. Meinungen, die mit Sibylle Bergs Meinungen nicht übereinstimmen, sind nur erlaubt, wenn man sie zuvor, von der Autorin persönlich, auf „verträumte Schmunzeleffekte“ überprüfen ließ.

5. Meinungen, die etwas bewirken wollen und sich dem Gesetz des „Großen Egal“ widersetzen, sind grundsätzlich verboten.

6. Alles, was verboten ist, ist, haha, natürlich erlaubt. Denn es ist

7. eh alles egal.

Bemerken wir noch nebenbei, dass egal von égalité kommt, dann wissen wir, warum egal ein Tiefpunkt demokratischer Selbstauflösung sein muss. Und der Haifisch, der hat Zähne und die trägt er im Gesicht, doch wo trägt Sibylle Berg ihre properen Zähnchen? Sollte sie denn heimlich einen überschlauen, matriarchalisch-feministischen Artikel in Wikipedia mit der Überschrift „Vagina dentata“ gelesen haben? Hier muss jedem verträumten Mann das Schmunzeln vergehen.

Da wir gerade beim Schmunzeln sind, sind wir auch schon zwanglos bei Kir-Royal-Regisseur Dietl und Kabarettist Hildebrandt angelangt. Jeder weiß inzwischen, wer andere Leute zum Lachen bringen will, kann nur miesepetriger Grantler sein.

Dietl schließt nicht aus, Verzweiflung und Depressionen zu lieben, schon lange schluckt er Antidepressiva. Hildebrandt ist Pessimist, der sich mit Gewalt in den Optimismus stürzt. Dietl denkt seit seiner Geburt an den Tod, für Hildebrandt ist das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann: der Glaube an seine Unsterblichkeit.

Auf ihren Grabstein wollen sie unisono den Spruch: Sie haben sich bemüht. Das klingt erfreulich altpreußisch und könnte von Helmut Schmidt stammen, der nach dem Tode über sich hören will: er hat sich Mühe gegeben. Was uns wieder einmal zeigt, dass deutsche Satiriker und Spaßmacher auch nur pflichtbewusste Menschen sind, die das Los ihrer Mitmenschen durch verbissene Heiterkeit verbessern wollen.

Nein, mit der egalistisch-antiegalitären Sibylle Berg hat das nix zu tun, die denkt egoistisch immer nur an das eigene Vergnügen. Doch Moral und Ethik gibt’s auch im neuen Film Dietls nicht, der alten Zeiten nachtrauert, als alles anders und besser war.

Auch Hildebrandt bedauert, dass es den Schlüsselsatz des Anstands: So etwas macht man nicht, nicht mehr gebe. Und hier sehen wir seine unbewusste Nähe zur CSU, die er ein Leben lang satirisch zusammenfaltete und die schon immer der gleichen Meinung war. Das ist merkwürdig in einer Zeit, die sich ständig verändern und neu erfinden will. Warum nicht öfter eine neue Moral?

Die Deutschen sind geübte Wendehalsmoralisten. Vor 80 Jahren gab’s die Moral der Antimoral, nach dem Krieg die wiedergeborene Moral der Hochmoral, dann die Moral der kapitalistischen Leistungsmoral, dann die Moral der neoliberalen Amoral, jetzt beginnt wieder der Anstand, der sich von selbst versteht. Lasst doch diesen recycelten Bürgertand endlich im Schrank. 

Hildebrandt will durch satirisches Übertreiben die Wahrheit sagen, doch auf Wahrheit angesprochen, geht er sofort in die heute vorgeschriebene skeptisch-korrekte Deckung: Keine Wahrheit ohne tiefe Zweifel.

An dieser Stelle beginnen die Berufsgrantler untereinander zu granteln. Der bedeutendste Kabarettist Deutschlands will mit der Macht seiner Satire niemanden schikaniert haben. Doch Dietl: Du verbreitest politische Meinungen, nämlich deine, damit hast du Zeit deines Lebens indoktriniert.

Das sieht Hildebrandt anders, er will nur Vorschläge gemacht haben. Auf keinen Fall soll das jetzt ein Streit gewesen sein. Wer streitet, muss der unverschämten Meinung sein, etwas besser zu wissen und Recht haben zu wollen. Womit die beiden unzufriedenen Grantler sich mit Sibylle Berg zu einem Gruppenbild mit heiter-ausgeglichener Dame komplettieren.

Demokratie, liebe Schwestern und Brüder ist ein Geschenk Gottes an Menschen, die sie nicht verdient haben. Sagte Dabbelju Bush, der auch sonst keine Probleme mit selbstverständlichem Anstand hatte, wenn’s denn nur seiner war. Womit ich unsere kreative Klasse auf keinen Fall in die Nähe eines amerikanischen Expräsidenten schieben will, der weder grantelte noch an geoffenbarten Wahrheiten eine Sekunde lang zweifelte. 

So weit haben wir’s also gebracht: wenn einer in einer Demokratie seine persönliche politische Meinung zu äußern wagt, indoktriniert er. Der neue Film der Beiden muss lustig und garantiert indoktrinierungsfrei sein.