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Tagesmail

Sonntag, 20. Mai 2012 – Illusionäre Autonomie

Hello, Freunde Venezuelas,

eine Genossenschaft ohne Chefs? Mit einem Umsatz von 100 Millionen Dollar jährlich? Ist das ein Traum?

Der Traum lebt in Venezuela, wo auch die außerordentliche Idee verwirklicht wurde, den Kindern der Slums mit Musik eine Perspektive zu bieten. Wer jemals das Jugendorchester Simón Bolívar Youth Orchestra“ erlebt hat, wo Jugendliche, die vorher nie eine Geige oder ein Horn aus der Nähe sahen, sich ihren Instrumenten mit einer Hingabe widmen, wie man es noch nicht gesehen hat, der entdeckt, was Kultur sein kann.

Bei uns ist Kultur zum arbeitsteiligen, in Routine verflachten und ruhmsüchtigen Gewerbe verkommen.

Zur obigen Genossenschaft gehören 50 Basisorganisationen mit rund 20 000 Mitgliedern. Vorgesetzte gibt es nicht, Jobrotation ist üblich, Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Von Chavez hält man sich entfernt. Durch Abbau der Leitungshierarchien und Aufbau von Vertrauen sei die kollektive Energie geradezu explodiert.

Typische Männer- oder Frauenarbeit gibt es nicht, Männer und Frauen wechseln sich ab beim Kloputzen. Kommunikation sehen sie nicht als Arbeit, sondern als Bedürfnis. „Aber wir gehen auch in Parks und machen Liebe, sonst hätten wir keine Kinder.“

Eine Assoziation von Freien und Gleichen mit 10 000en Menschen. Für Hayek eine totalitäre Utopie, in Südamerika eine urdemokratische Realität. Europa muss von anderen lernen.

Zuerst darf er gegen Minderheiten hetzen, streng wissenschaftlich selbstredend, wie es einem deutschen Gentleman aus dem gehobenen SPD-Milieu geziemt. Vor einem Jahr hat Sarrazin, getragen von BILD und SPIEGEL, seine IQ-Thesen über deutsche Minderheiten veröffentlicht: Muslime sind doof und faul, Juden das Gegenteil.

Erst jetzt kommt „der Faktencheck“ seriöser Wissenschaftler, die die Zahlen des soignierten Schnauzbartträgers unter die Lupe nehmen: alles schief, halbgar und falsch.

Warum erst jetzt? Sind die Wissenschaftler nicht durchgedrungen? Haben sie selbst sich nicht zu Worte gemeldet? Im ersten Fall wäre es eine weitere Obszönität unserer Presse, im zweiten die der Wissenschaft, die sich nur noch für Sensationen aus dem Quarkbereich zuständig fühlt, nicht mehr für unspektakuläre Überprüfung sensationsheischender Megaphone.

Nun erscheinen zwei weitere Bücher des Ehepaars Sarrazin. Heute abend darf Herr Sarrazin im Jauch-Forum, im Gespräch mit seinem fröhlich-forschen Parteifreund Steinbrück, für sein Buch trommeln. Vor keiner Prostitution schreckt Millionär und Hobbywinzer Jauch zurück.

 

Innenminister Friedrich ist überzeugt, das christliche Wertesystem werde die Welt überwinden. „Die Werte des Abendlandes haben Hochkonjunktur und wir müssen nicht Angst um sie haben.“

Selbst immaterielle Werte haben inzwischen inflationsbereinigte Wachstumsquoten, sie werden immer schneller, höher, weiter und renditefreudiger. Zu den Werten gehören Freiheit, Verantwortung, Meinungsfreiheit und Nächstenliebe. Gut zu wissen, dass es Meinungsfreiheit nur bei Freiheit geben kann. Möglicherweise wird im Innenministerium schon an börsengestützter Freiheit ohne Meinungsfreiheit gearbeitet.

Offensichtlich hat niemand unter den Gläubigen in Mannheim gegen Friedrichs Missionspredigt protestiert. Denn weder Freiheit noch Verantwortung, geschweige Meinungsfreiheit sind christliche Werte.

Politische Freiheit war für Paulus kein Wert, die Sklaverei hat er abgesegnet. Verantwortung fürs Jammertal trug Gott allein auf seinen schwachen Schultern, Meinungsfreiheit muss vor allem für Frauen gegolten haben, über die es hieß: das Weib schweige in der Gemeinde.

All diese Werte mussten gegen gnadenlosen Widerstand der Kirche von Aufklärern über Jahrhunderte erkämpft werden.

Nächstenliebe als Mittel zur eigenen Seligpreisung – liebe deinen Nächsten, indem du ihm glühende Kohlen auf sein Haupt sammelst und bleibe ungerührt, wenn er in die Hölle kommt: diese Nächstenliebe wurde allerdings vom Christentum erfunden.

Wenn ein Katholikentag griechisch-heidnische Werte als christliche anpreist und verkauft, hat er sich als Lügnertag erwiesen. Mit tätiger Unterstützung des allseits beliebten ersten grünen Ministerpräsidenten, der nebenbei Mitglied im Zentralrat der Katholiken ist.

 

Da Kunst alles darf, nur nicht moralisch sein, soll sie uns vor allem „jede Gewissheit um Gut oder Böse“ rauben. Nichts lieber, als uns diese Gewissheit rauben zu lassen. Vor allem, wenn sie uns schon längere Zeit abhanden gekommen ist.

Die Überschrift der Filmrezension heißt: „Nächstenliebe mit tödlichen Folgen“. Eigentlich wäre die nicht gestellte Frage: Welche Folgen kann Agape haben? damit korrekt beantwortet: haltet euch von der Nächstenliebe fern, sie endet meistens tödlich. Wer seinen Nächsten töten, verhungern oder verderben lassen will, muss ihn nur nächstenlieben, dann darf er alles.

Augustin hat das präzis auf den Punkt gebracht: Liebe und tue was du willst.

Seltsamerweise wissen unsere Kulturfedern nicht mehr, was sie mit der Linken schreiben, denn mit der Rechten schreiben sie das Gegenteil. In dem Film hat jeder fleißig gemacht hat, was er für richtig hielt. Dennoch kommt das Falsche heraus. Da könnte man an seinen hochkonjunkturellen Werten irre werden.

Der feinfühligen Cineastin scheint noch nie aufgefallen zu sein, dass alle Menschen fast alles, was sie täglich tun, für richtig halten – und dennoch ist die Summe aller richtigen Taten ein globales Desaster. Komisch aber auch.

Dass man sich irren kann in der Wahl seiner Mittel, um einen guten Zweck zu erreichen, wissen schon Dreijährige im Kindergarten. Dass man in der Wahl der richtigen Weltanschauung daneben greifen kann, sollte man 70 Jahre nach einer kollektiven Verirrung vielleicht mitgekriegt haben.

Wären Motivation und Handeln identisch, gäbe es gar kein Böses auf der Welt. Das Böse ist nichts anderes als der Widerspruch zwischen gewollter Absicht und getaner Tat. Da man von Wahrheit keine Vorstellungen mehr hat, kann man sie vom Irrtum auch nicht haben.

Wer sich ein wenig irrt, kann doch nicht böse sein. Irren ist harmlos. Lernen durch Versuch und Irrtum, das kann doch jedes Kind. Indeed, Kinder können es. Die Erwachsenen korrigieren Kleinigkeiten, doch in den großen Dingen des Lebens können sie sich nicht geirrt haben. Wäre ihnen das nicht schon längst aufgefallen?

Wie Massenneurose vor Einzelneurose, schützt Kollektivirrtum vor Einzelirrtum. Das Abendland kann sich nicht geirrt haben, wenn es imperialistisch die Welt kujoniert und die Natur in Sack und Asche gelegt hat. Sind die Eroberungen nicht Beweis seiner Überlegenheit?

Klingt die Überschrift des ZEIT-Artikels noch christentumskritisch, ist der Inhalt im Wesentlichen die Verteidigung jedes fundamentalistischen Exorzismus. Bei uns gibt’s Geschrei, wenn Homöopathen und Quacksalber weiße Placebokügelchen verteilen. Wenn‘s um Religion geht, ist alles erlaubt.

Nicht mal die Frage wird gestellt, ob Religion per se unheilvolle Wirkungen haben kann. Wenn Religion die Anbetung einer verkehrten Welt ist, muss sie verkehrte Wirkungen in dieser Welt haben, sonst wäre die Definition falsch.

Doch die Autorin ist sensible Filmversteherin, keine Theologin. Man muss doch nichts vom Heiligen wissen, um das Heilige zu verstehen. Alle Religionen sind Liebesreligionen, sollte es mal anders ausschaun, kann es nur ein lässlicher Irrtum sein.

 

Wird durch Neuigkeitswahn jede Erfahrung verdächtigt, von vorgestern zu sein, wird sie nun auch benutzt, um die Autonomie des Menschen vom Tisch zu wischen. Schmidt-Salomon, Chef-Atheist, behauptet, das „autonome Selbst“ sei eine Illusion.

Autonom zu sein war das Extrakt der griechischen Philosophie und aller abendländischen Aufklärungen. Man konnte nur autonom sein, wenn man sich von heteronomen Instanzen wie Göttern, unfehlbaren Priestern und mächtigen Despoten befreit hatte.

Autonomie bedeutet, ich spreche in meinem Namen, befolge unkritisch keine Weisung und Weisheit anderer, die glauben, per Amt, Würde oder Alter etwas automatisch besser zu wissen. Wenn das eine Illusion ist, hat Atheist Schmidt-Salomon die Religionskritik von Feuerbach bis Freud zur Illusion erklärt.

Nicht der Glaube an einen Allmächtigen ist Illusion, sondern der Glaube an die Fähigkeit des Einzelnen, sich selbst ein Urteil über Gott und die Welt zu bilden. Da ist dem Gottlosen wohl die Muffe gegangen, als er feststellte, dass er ohne seinen lieben Vater im Himmel plötzlich ganz mutterseelenallein auf der Welt war und nicht mehr wusste, wo‘s lang geht. Schnell vollzog er eine Reaktionsbildung und machte die Autonomie zur Illusion, dass es den Selbstdenkern nicht zu wohl wird, wenn sie aufs Eis gehen. Welchen heteronomen Weisungen der desillusionierte Atheist folgt, verrät der SPIEGEL-Artikel nicht. Vielleicht dem allmächtigen Gehirn und der allwissenden Gehirnforschung?

Freiheit als Gegensatz zu Erfahrung und erworbenen Einsichten zu definieren, ist die genaue Wiederholung des mittelalterlichen Streits um die Eigenschaften des Gottes. Kann Gott allmächtig sein, wenn er sich den Gesetzen der Vernunft und der Natur unterordnen muss?

Erfahrungen können nur durch Einsichten der Vernunft erworben werden – wozu auch die Gefühle gehören. Wenn Gott sich – wie die Voluntaristen behaupteten – seine Freiheit durch nichts einschränken lassen will, weder durch Wissen, noch durch Einsicht, kann er nur die Welt in Trümmer hauen, um seine Freiheit in Szene zu setzen.

Diese voluntaristische Will-Kür, die alles Sinnvolle, Regelhafte und Einsichtige als Beschränkung ihrer grenzenlosen Freiheit empfindet, muss das Unbegrenzte als Testfeld ihrer Barbarei betrachten.

Der Atheist verschlingt sich in der Falle scholastischer Gottesdisputationen. Während die deutschen Frommen sich brüsten, eine intime Liaison mit der Vernunft geschlossen zu haben, gefällt sich der Kritiker der Frommen darin, dem Spuk einer illusionären Autonomie den Garaus zu machen.

Die Absage an einen illusionären Gott endet in der Absage an eine illusionäre Aufklärung. Die Deutschen waren schon immer ein gründlich denkendes Volk. Wenn sie denn eine These meucheln, meucheln sie aus paritätischen Gerechtigkeitsgründen gleich die Antithese. Obsiegt die Synthese aus zwei Leichen: die empirische Gehirnforschung.