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Sonntag, 19. Februar 2012 – Philosophie und Religion

Hello, Freunde Frankreichs,

die deutsch-französische Verständigung stehe auf wackliger Grundlage, sagt der französische Historiker Pierre Nora in der FAZ. Es gebe keinerlei Annäherungen zwischen den kulturellen Eliten.

Die Franzosen lernten immer weniger deutsch, die Deutschen weniger französisch. Die Nachkriegszeit mit viel gutem Willen sei vorbei, die Bildungssysteme drifteten auseinander, in Frankreich kenne man keine deutschen Intellektuellen, in Deutschland keine französischen.

Es habe in ganz Europa eine Renationalisierung stattgefunden, eine gesamteuropäische Öffentlichkeit existiere nicht. Die gemeinsame Zivilisation befinde sich in einer Krise. Die hochgradigen Spezialisten seien immer weniger in der Lage, ihre Erkenntnisse (welche Erkenntnisse?) dem Volk zu vermitteln. (Wenn man etwas verstanden hat, kann man es auch vermitteln.)

Es fehle eine „echte, von der Mehrheit der Europäer geteilte Wertegemeinschaft“. Die humanistische Kultur – Latein, Griechisch, Geschichte, Philosophie, Sprachen – sei am Ende.

Klingt pessimistisch. Doch Humanismus ist eine Haltung, kein Bildungsgehabe. Bei dieser Definition wären die Griechen humanismus-frei gewesen. Sie kannten keine Sprachen, es gab keine

öffentlichen Schulen, nur wenige Sophisten als Wanderlehrer und wenige private Philosophieschulen, wie die platonische Akademie, den Garten Epikurs, die späteren stoischen Zirkel.

Ihre Bildung war ihr allgemeines politisches Temperament, die Lust am Debattieren auf der Agora, ihre Sportstätten, ihre gemeinsame Leidenschaft an Tragödien und Komödien, ihre Lust an der Schönheit, ihre Volksversammlungen und öffentlichen Gerichtsverhandlungen mit geschliffenen Reden und Gegenreden, ihre gelebte Alltagskultur. In einem Wort: ihre Demokratie.

Davon spricht Nora nicht, Demokratie scheint für ihn nicht zum Humanismus und zur Bildung zu gehören. Bei solch elitären Blickverengungen können demokratische Selbstverständlichkeiten nicht festgehalten werden.

Das wahrhaft Trennende zwischen beiden Ländern wird gar nicht erwähnt. Frankreich hat seine stolze Tradition der Revolution mit dem stärksten Laizismus in Europa. Gleichwohl sind die oberen Schichten durchweg katholisch sozialisiert.

Deutschland gibt sich aufgeklärt, aber in inniger Umarmung mit den Kirchen, die ein paralleles, demokratiefeindliches Eigenleben – wenn man will, mit christlicher „Scharia“ – führen. Da die beiden Kirchen die weitaus größten Arbeitgeber in Deutschland sind, ist ein Großteil unseres „öffentlichen“ Lebens mit Kindergärten, Schulen, Internaten, Hochschulen, Diakonie und Caritas in klerikalen Sonderregionen abgeriegelt.

Nicht nur die Wulffis und seine finanzstarken Freunde treffen sich auf allen Partys, auch die Hubers und Zollitschs sind in allen Gremien, Medien und „Ethikräten“ vertreten. In jüngster Zeit waren verstärkte Bemühungen des Klerus zu beobachten, mit Vertretern der obersten Justiz ins Benehmen zu kommen. Beim Besuch des Papstes in Freiburg wurden ihm hohe Richter aus Karlsruhe vorgestellt.

Es wird immer von wirtschaftlichen und politischen Vernetzungen gesprochen. Dass der Klerus nirgendwo fehlt, wo Entscheidungen gefällt werden, wird meist ignoriert.

Der Laizismus ist in Frankreich eine starke Doktrin, doch die von oben gesteuerte Lebensstimmung ist eine seltsame Mischung aus erlesenem Hedonismus und arrogantem Jesuitismus, der nicht als Frömmigkeit, sondern als standesgemäße Abhebung vom niederen Volk zelebriert wird.

In Deutschland hingegen gilt die christliche Doktrin als selbstverständliche Gemeinsamkeit der Mehrheit, weswegen Muslime und Fremde nicht zum gefühlten Kollektiv gehören.

Und dies, obgleich immer mehr die Kirchen verlassen. Die allgemeine Abneigung gegen Kirchen ist für die meisten das Siegel ihrer urevangelischen Gesinnung, die sich über Popen erhaben fühlt, aber ohne deren Segen bei Taufe, Konfirmation, Ehe und Tod nicht auszukommen scheint.

Die Kohäsionskraft des Euro währte solange, solange der Kontinent auf Kosten der unterentwickelten Länder seinen Wohlstand mehren konnte. Die Schwellenländer sind mittlerweilen aufgerückt, China, Indien und Brasilien haben die meisten altkapitalistischen Länder längst abgehängt, nun zerfällt die trügerische Bindekraft der gemeinsamen Währung.

Der Mensch lebt nicht von Zaster allein. Europa müsste sich daran machen, seine geistigen Übereinstimmungen und Unterschiede aufzuarbeiten. Ohne Blick in die Vergangenheit wird das nicht gehen. Immer nach vorne schauen ist das Motto von biografielosen Sehbehinderten.

All dies ist nicht allein das Defizit „ungebildeter Lohnabhängiger“. Die aristokratischen Intellektuellen und Edelschreiber ähneln jenen Sophisten im alten Griechenland, gegen die Sokrates entschieden ankämpfte. Sie prunkten mit Scheinweisheit und behaupteten, etwas zu wissen, obgleich sie nichts wussten. Dem stellte er schroff seinen Satz gegenüber: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Das war kein Programm bescheidener Ignoranz, sondern eine die Verhältnisse zum Tanzen bringende Attacke gegen Talmiwissen und Bildungsdünkel. Erst wenn wir Remedur machen mit unseren eingebildeten Überlegenheiten – die ohnehin nur aus Wirtschaftszahlen bestehen und inzwischen nicht mal das – und gedanklich von vorne beginnen, können wir übergreifende Ähnlichkeiten mit anderen entdecken.

Nicht nur mit Europa. Eine globale Welt kann nur entstehen im tief empfundenen Geist der Gleichheit und Gemeinsamkeit. Völlig unverträglich mit dem herrschenden Zynismus der Absonderung, Zerspaltung und Ungleichheit in alteuropäischen Postmoderne-Cliquen, die durch wirtschaftliche Potenz und profilneurotischen Autismus – Individualismus genannt – sich vom Rest der Welt abzuheben gedenken.

Der liberale Individualismus ist eine vertrackte Kreuzung aus autonomer griechischer Ichstärke und religiösem Heilsegoismus, der in ökonomischen Exzessen seine Auserwähltheit zu beweisen sucht.

Selbstbewusstsein bildet sich aus Differenz und Identität, nicht aus pathologischer Unvergleichlichkeit. Was uns trennt, sind belanglose Geschmackssachen. Was uns vereint: davon wird unsere planetarische Überlebensfähigkeit abhängen.

Was ist der Unterschied zwischen Religion und Philosophie? Für Flachgeister der Unterschied zwischen Dummheit und Wissen.

Nur Naturwissenschaften kennen empirische Wahrheiten, die in Experimenten beliebig überprüfbar sind. Poppers Falsifikation ist die Methode der Widerlegung. Jede Wahrheit gilt vorläufig als wahr – solange sie nicht widerlegt ist. Der Wiener hatte entdeckt, dass das Prinzip der Verifikation – der Bestätigung – allzu oft missbraucht wurde, um mit wissenschaftlichem Getöse die windigsten Thesen abzusichern. („Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe“)

Falsifikation ist nicht das Gegenteil von Verifikation, sondern Verifikation unter schärfsten Bedingungen methodischen Zweifels.

Ein methodischer Zweifel ist kein dogmatisches Anzweifeln von allem bis hin zu jener Überstiegenheit, die sich als Genialität ausgibt: bin Ich überhaupt, gibt es eine Welt, warum ist etwas und nicht vielmehr Nichts? Das ist theologisches Schwurbeln auf erschlichener philosophischer Basis.

Methodischer Zweifel ist auch kein blasierter Skeptizismus, wie er in zungenredenden Feuilletons zelebriert wird, der an allem zweifelt, nur nicht an seinem eigenen Zweifel. Dieser ist bloße Reaktionsbewegung auf die creatio ex nihilo: ich zweifle, also bin ich – nicht.

Würden Ökologen sich der philosophischen Wurzeln des Umweltschutzes bewusst werden, müssten sie diese Skepsis-ins-Nichts als anti-ökologische Grundtatsache Nummer eins auf die rote Liste setzen. Der Schöpfung aus dem Nichts entspricht die skeptische Destruktion ins Nichts, beide bedingen einander. Wenn die Natur von einem omnipotenten Mann aus dem Zylinder gezaubert wurde, kann er sie dort auch wieder verschwinden lassen.

Die wahre Ökoarbeit beginnt im Aufarbeiten der Vergangenheit, in kritischer Durchsicht all jener Mythen, die unsern Alltag prägen, ohne dass wir sie noch bemerkten.

Philosophie ist mehr als empirische Naturwissenschaft, deshalb kann sie nicht nur aus experimentell überprüfbaren Hypothesen bestehen. Ob ich an die Vernunft „glaube“ oder an das irrationale Böse, diese Entscheidung kann mir niemand durch objektive Laborerkenntnisse abnehmen. Das steht in meinem subjektiven Belieben, wofür ich ein Leben lang mit meinem Kopf, ja, mit Leib und Leben einstehen muss.

Die Einheit von Leben und Denken entscheidet über meine Glaubwürdigkeit und Echtheit. Hier müsste der eigentliche Wettstreit um die Wahrheit, sprich um die menschenfreundlichsten Entwürfe stattfinden. Mit welchem Lebensentwurf ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, ein friedliches Dasein der menschlichen Gattung im Kreis aller anderen Lebewesen zu erreichen?

Diese Fragestellung empfinden viele deutsche Grundsatzdenker als Blasphemie, denn „Wahrheit“ würde hier zur Dienerin des guten Lebens, der Lust und Freude erniedrigt. Dafür haben die Experten die abschätzigen Fremdwörter Eudaimonismus, Hedonismus, Pragmatismus, Utilitarismus erfunden: Wahrheit als Dienerin (Hure, Mätresse, Instrument) des Glücks, der Lust oder sonst irgendeines Nutzens.

Den Griechen wäre diese Entgegensetzung von Wahrheit und Glück seltsam vorgekommen. Zwar stritten sie sich heftig über die Frage, worin Glück bestünde, doch über das Ziel allen Denkens und Tuns im Glück, darüber waren sie sich einig.

In der christlich kontaminierten abendländischen Philosophie musste diese Übereinstimmung verworfen werden. Der gestrenge Herr Kant wollte Pflicht nur um ihrer selbst willen zulassen, nicht als hinterlistige Methode, um glücklich zu werden.

Doch alle Deutschen, die eine Sache um ihrer selber willen tun, kriegen irgendwann weiche Knie und schauen auf das selig Ende. So auch Kant, der sogar einen Gottesbeweis bastelte, damit es eine Instanz gebe, die in diesem oder im jenseitigen Leben (das hielt er schlauerweise offen) dem Guten den Lohn ewiger Seligkeit verleiht.

Der Glücks-würdige sollte auch glück-selig werden. Er wusste, dass der Gerechte auf Erden oft viel zu leiden hat, doch ihn für immer leiden zu lassen ohne finalen Ausgleich in Gerechtigkeit, das war für den pietistisch Erzogenen doch zu viel. Ende gut, alles gut.

Der tiefere Grund für den Widerspruch zwischen Glück und Wahrheit liegt bei Paulus, der irdisches Glück und Wahrheit – für ihn identisch mit heidnischer Wahrheit – im Prinzip ausschloss und nur göttliche Wahrheit und ewige Seligkeit anerkannte.

Menschliche Wahrheit ist für Gott ein Ärgernis und eine Torheit. Um menschliche Wahrheitsfähigkeit ad absurdum zu führen, damit nur die seinige anerkannt werde, konstruierte Gott seine himmlische Wahrheit als Absurdität und Skandalon (= Ärgernis) für autonome Denker.

Weshalb ein frommer Kirchenvater den berühmten Satz prägte; credo, quia absurdum; ich glaube, weil es absurd ist. Nicht: obwohl es absurd ist.

Wenn man diesen religiösen Dualismus nicht teilt, hat man keinen Grund, Glück und Wahrheit als feindliche Brüder zu betrachten. Eine Philosophie der Erde sucht Wahrheit, um glücklich zu werden, sucht Glück, um wahr zu sein. Wahrheit und Glück sind wie Mutter und Kind, Yin und Yang, Pat und Patachon: sie gehören zusammen.

Es gibt neuzeitliche Philosophen – vor allem aus dem Wienerkreis um die vorletzte Jahrhundertwende –, die Philosophie auf empirische Naturwissenschaften reduzieren wollten. Die sogenannten Positivisten. Nur positive, also jederzeit experimentell überprüfbare Wahrheiten der Naturwissenschaft, haben Anspruch, als philosophische Wahrheiten anerkannt zu werden.

Alles, was darüber hinausgeht, ist subjektive Poesie, keine ernstzunehmende Philosophie. Also ausgerechnet jene Fragen, auf die ich eine Antwort wissen muss, um mein Leben sinnvoll zu gestalten. Wie will ich leben?

Ist Ökonomie eine moralische Angelegenheit oder eine moralfreie-naturwissenschaftliche? Ist der Mensch ein Hobbes’scher Griesgram und Menschenfeind oder ein Lebewesen à la Adam Smith, der zur Sympathie und Freundschaft fähig ist?

All diese Fragen könne die Philosophie nicht verbindlich beantworten. Konsequent sagte Ludwig Wittgenstein: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ („Tractatus Logico-Philosophicus“) Was bedeuten würde, die Menschen sollten sich in den wichtigsten Fragen des Daseins gegenseitig anschweigen.

Die Einstein’sche Relativitätstheorie wird mir nicht sagen, ob ich mein Kind zum Zeichen der Fürsorge prügeln oder zärtlich in die Arme schließen soll.

Fazit: eine sinnvolle Philosophie kann nicht nur aus empirischen naturwissenschaftlichen Thesen bestehen. Es gibt noch ein ganzes Reich des Plausibeln und Einsehbaren zwischen beliebigen – religiösen und sonstigen – Spekulationen und dem winzigen Bereich knochentrockener Naturwissenschaften. In diesem Bereich entscheiden logische Argumente im Zusammenhang mit ihren Folgen für ein geglücktes Leben.

Was ist der Unterschied zwischen Philosophie und Religion?

Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Religionen. Die einen sind nichts anderes als mit Mythen durchtränkte naive oder intuitive Philosophien, die sogenannten Naturreligionen: autonome Gedankengebilde der Menschen.

Die anderen sind Erlöserreligionen, die das Produkt göttlicher Offenbarungen sein wollen, in denen alles Menschliche zugunsten des Göttlichen verworfen wird.

Der Buddhismus war ursprünglich eine gott-lose Angelegenheit, also eine Philosophie. Religion im Offenbarungs- und Erlösersinn wurde er später.

Man hat den Aufklärern – oft zu Recht – vorgeworfen, Religionen pauschal verhöhnt oder verständnislos verurteilt zu haben. Das war für den anfänglich mörderischen Kampf gegen die Allmacht des Klerus notwendig.

Prinzipiell aber muss man sagen: Religionen sind so mächtige Gebilde in der Entwicklung der Menschheit, dass man sie, gerade wenn man sie für inhuman hält, erst mal verstehen sollte. Der Therapeut kann die Neurose seiner Patienten nicht anders bekämpfen, als dass er sie versteht und sein Verständnis dem Patienten vermittelt. Das gleiche gilt für das Böse in Hitler, das ich mit korrekter Schaumbildung nicht besiegen werde.

Bekämpfen durch Verstehen und Erklären, nicht durch Diffamieren und Dämonisieren. Das wäre gar nicht im Sinne von Feuerbach, der Religionen als Produkte des Menschen betrachtet und Offenbarungen ins Reich der Märchen verweist.

Viele Religionskritiker, die heute ausgestorben sind, haben gegen Religionen gewütet, als müssten sie, wie Jakob, dem Herrn der Heerscharen persönlich die Knochen brechen. Man kann den homo sapiens nicht verstehen ohne den gläubigen Menschen für eine Fehlkonstruktion der Evolution zu halten.

Ohnehin sind Religionen nicht zu widerlegen, wenn man sie nicht besser versteht als sie sich selbst. Offenbarungsreligionen schon überhaupt nicht. Sie glauben nicht aufgrund von Argumenten, sondern weil sie ihr Credo für absurd halten.

Religionen kann man nur überwinden, indem man für humane Verhältnisse sorgt, die das Bedürfnis nach menschenfeindlichen Religionen austrocknen. Wer drogenabhängig ist, wird nur von der Nadel loskommen, wenn seine ganze Existenz so befriedet ist, dass er keine selbstschädigenden, künstlichen Glücksmacher mehr benötigt.

Wir müssen streng unterscheiden zwischen menschen- und naturfeindlichen und menschen- und naturfreundlichen Religionen. Religionen sind nützliche oder schädliche Placebos. Sie unisono zu bekämpfen, wäre absurd. Gleichgültig, ob man ihre mythische Sprache nachvollziehen kann oder nicht.

Mythen sind nicht per se irrational. Wer Astronomen zuhört, darf erstaunt sein über den Anteil ihrer Spekulationen bei schwindend empirischen Fundamenten. Mythen hingegen sind erfahrungsgesättigte Bildergeschichten, die sich niemand aus den Fingern gesogen hat.

Mythen sind nicht Mythen. Der griechische Mythos enthielt in sich jenen kritischen Geist, der ihn zum Logos fortentwickeln und präzisieren konnte. (Wilhelm Nestle: „Vom Mythos zum Logos“) Was ganz anderes sind natur- und menschenfeindliche Erlöserreligionen, die in selbsterfüllenden Prophetien jenen apokalyptischen Untergang herstellen, an den sie glauben.

Jede Religion ist ein selbsterfüllendes Glaubenssystem. Sage mir, was du glaubst und ich sage dir, welche Politik du betreibst. Sage mir, was du tust und ich sage dir, was du glaubst.

Wer mit seiner Politik unzufrieden ist, aber nicht von ihr loskommt, sollte sich überlegen, welches subkutane Glaubenssystem ihn daran hindern mag.

Die westliche Welt betrügt sich, wenn sie sich einredet, christlich zu sein, aber nicht ausreichend christlich zu handeln. Sie handelt, wie sie glaubt, auch wenn sie sich suggestiv einredet, glaubenslos und säkular geworden zu sein. Sage mir, was du tust und ich sage dir, was du glaubst – bewusst oder unbewusst.

Das europäische Unbewusste ist am wenigsten das Reich naturwüchsiger Triebe, sondern das ES des verleugneten kollektiven Glaubens. Freuds Psychoanalyse war ein überfälliger Hinweis auf die Dunkelheiten der menschlichen Psyche, führte aber in die Irre, indem sie das Verdrängte als triebhaftes Produkt einer primären Natur und nicht als Summa einer tausendjährigen Verinnerlichung religiöser Inhalte deklarierte.

Nicht Ödipus und Narziss stehen im Zentrum unserer psychischen und politischen Verwüstungen, sondern Adam und Eva, Judas und Petrus, Christus und der Teufel, durch Kreuz zur Krone, Sehnsucht nach Erlösung und Untergang.

Als die Trauerfeier für 9/11 stattfand, standen die Vertreter aller großen Religionen in bunten Gewändern nebeneinander und taten, als seien sie die Vertreter einer universellen Liebe. Dieses trügerische Selbstbild haben sie sich fast widerstandslos selbst verpassen dürfen.

Jeder Konflikt zwischen religiösen Gruppen gilt im Westen als Konflikt politischer Interessen, der die jeweiligen Glaubenssysteme nur instrumentalisierte. Doch zumeist instrumentalisiert Religion die Politik.

Die meisten Religionen der Hochkulturen sind Mischprodukte und enthalten in nicht geringen Dosierungen inhumane Elemente, die sich – unter dem Alibi der humanen – als besonders giftig erweisen. Die Liebe des christlichen Gottes zu wenigen Erwählten hat zur Kehrseite seinen grenzenlosen Hass auf die sündige Mehrheit, die er für immer in die Hölle schickt.

Zum Schluss das Beispiel der so harmlos daherkommenden Yoga-Religion. Der Hinduismus rechtfertigt genauso jede Untat im Namen des Krishna wie ein antinomistischer Kriegspriester im Namen des christlichen Gottes. Himmler habe ständig ein Exemplar der Bhagavad Gita mit sich herumgetragen.

Die Rigveden feierten den Rassismus der nach Indien eingewanderten Arier, das Töten und Vertreiben der als minderwertig geltenden Gegner. Yoga wirkte tief in den Nationalsozialismus hinein. Krishna lehrte, sich von den Folgen seines mörderischen Tuns zu befreien, für höhere Zwecke dürfe man alle Mittel, selbst Völkermord, bedenkenlos einsetzen.

Obgleich Yoga sich heute ein pazifistisches Flair zugelegt hat, gebe es Yoga-Lehrer, die der Meinung seien, die Menschheit brauche wieder einen Krishna, der ihnen die Notwendigkeit von Kriegen erkläre.

Wer dieses Thema vertiefen will, lese das Buch „Hitler, Buddha, Krishna, Eine unheilige Allianz vom Dritten Reich bis heute“ von Viktor und Viktoria Trimondi.