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Sonntag, 19. August 2012 – Bommarius

Hello, Freunde der Versöhnung,

nun haben sie tatsächlich zur Versöhnung aufgerufen, die Popen der russisch-orthodoxen Kirche. Aber nicht mit den eigenen Schwestern der satanischen Kirchenschänderei, sondern mit den anständigen Brüdern aus Polen. Nach Jahrhunderten der Feindschaft zwischen den Gläubigen beider Nationen solle endlich Versöhnung einkehren.

Was nur hat die Liebenden beider Nationen dazu getrieben, sich über so lange Zeiten zu hassen? Gibt es irgendwo im aufgeklärten Europa einen Historiker, der sich für solche Kinderfragen interessiert?

Warum hassen sich Gläubige, wenn sich Regimes hassen? Steht in der Bibel: wenn sich die Obrigkeiten hassen – die allesamt von Gott und tadellosem Leumund sind –, müssen sich die Untertanen ebenfalls an die Gurgel gehen?

Den Verfall einer Zivilisation erkennt man daran, dass keine Kinderfragen mehr gestellt werden und die Mandarine in windschiefen Begriffstürmen ihr Unwesen treiben, die hoch über die Wolken hinausragen, wo die Freiheit der Geistesverwirrung grenzenlos sein muss.

Nun appellieren die vorbildlichen Priester an ihre Schäfchen: „Jeder Pole sollte in jedem Russen, jeder Russe sollte in jedem Polen einen Bruder und Freund sehen.“ Jeder mit jedem, das lässt sich hören und ist ein wahrhaft ehrgeiziges Programm. Allein,

bis alle polnischen Brüder alle russischen kennengelernt haben, erfordert es logistische Fähigkeiten, die selbst von Berliner Behörden nicht so einfach erbracht werden können.

Gleichwohl wäre das Verbrüderungsprogramm noch erweiterbar mit einem allseitigen Verschwesterungsprogramm: jeder Pole sollte in jeder Russin, jede Russin in jeder Polin, jede Polin in jeder Russin, einen Bruder und Freund, eine Schwester und Freundin, eine Geliebte und einen Geliebten sehen.

Man könnte noch weiter gehen. Bevor Fremde geliebt werden, die man ohnehin nie zu Gesicht bekommt, könnte jeder Pole jeden Polen, ja, erst mal sich selbst lieben, damit er andere lieben kann. Und vor allem: wie weit sollte die Liebe zwischen einem Polen und einer Russin gehen?

Delikate Fragen über Fragen. Das Geheimnis der Versöhnung liegt im Beantworten kindlich anspruchsvoller und verschwiegener Fragen.

 

Einhellige Empörung bei den Rechtskommentatoren über Karlsruhe, wo beide Senate zusammengetreten sind – was höchst selten der Fall ist – um fast einstimmig die Grundlagen der Machtteilung zu durchlöchern, die Verfassung zu verletzen und sich widerrechtlich die Rechte der Legislative anzueignen.

Psychologisch war voraussehbar, dass die Judikative, die ständig das Parlament zur Raison rufen muss, irgendwann hochnäsig sich über desolate und entgleiste Abgeordnete erheben wird. Ja, durch willkürliche Deutungskünste das Grundgesetz aus den Angeln hebt.

Nur nebenbei, wenn Theologen in ihrem ganzen Berufsleben nichts anderes tun, als Urtexte der heiligen Schriften zu verfälschen, um ihre eigenen Fündlein hineinzumogeln, kümmert das weder die Judikative noch die Legislative, schon gar nicht die Polizei und die Staatsanwaltschaft.

Das ist ungerecht und kann nur geändert werden, wenn jeder Textverpanscher wie jeder Weinpanscher wegen Buchstabenuntreue und unbefugten Geist- und Weingeistdeliriums mit verschärftem Kerker bedroht wird.

Wenn der Herr und Heiland etwa über jüdische Schriftgelehrte und Pharisäer herzieht, dass einem angst und bange wird, sie verflucht wie kein Kesselflicker fluchen kann: „Ihr Schlangen, ihr Natterngezücht! Wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entrinnen?“ – dann wird bei Versöhnung mit den Juden und wegen Vermeidens antisemitischer Gefühle nicht etwa der Text ein für allemal für ungültig erklärt – indem man vielleicht die giftigen Textstellen grell rot drucken lässt mit Warndreiecken an der Seite: Vorsicht vor diesen tief vergifteten antisemitismus-trächtigen Versen –, nein, man lässt diese Stellen unverändert stehen – man weiß ja nie, wie die Zeiten sich ändern und man dankbar sein wird über wiederverwendbare uralte Wahrheiten –, und sagt nur einmal pro Jahr in der Kirche, der Vatikan hätte die Deutung dieser Texte ins Gegenteil verkehrt.

Ab jetzt hat jeder Fromme dieselben Texte so zu lesen: Jüdische Geschwister und Freunde, wir freuen uns, mit euch zusammen in den Himmel zu kommen. Nicht das gerechte Blut wird über euch kommen, sondern die ungerechte, pardon, die übergerechte Liebe.

 

Christian Bommarius geht mit altmodischer Buchstabenakribie ans Überführungswerk des Karlsruher Urteils. Wenn das Grundgesetz X sagt, sagt es nicht Y. Die Richter haben aus dem § 87 einen Paragraphen mit Vorbehalt gemacht: der Paragraph gilt solange, solange er nicht gilt.

Mit solch eingebauten Sonderrechten brauchen wir überhaupt keine Paragraphen mehr.

Irgendwann musste die Hermeneutik der Gottesgelehrten auch auf die Rechtsgelehrten abfärben. Wenn jeder Jurist unter dem Einfluss irgendeiner spirituellen Erleuchtung aus den stehenden Buchstaben des Gesetzes eine willkürliche Buchstabenflut oder einen wässrigen Deutungssalat macht – mit geschmäcklerischem Dressing aus Vossenkuhls Küche –, dann ist Polen offen.

Zur Illustration hat Bommarius das hübsche Beispiel aus Lewis Carrols „Alice hinter den Spiegeln“ genommen, wo ein Goggelmoggel glaubt, jeden Begriff nach Belieben in einen anderen zu verwandeln. Nach dem Motto monopolistischer Theologen, die das nur können, weil es niemanden gibt, der ihnen auf die geistbegabten Pfoten donnert: „Es fragt sich nur, wer der Stärkere ist, weiter nichts.“

Damit ist Goggelmoggel auf das Niveau von Theologen und Carl Schmitt gesunken, der den darwinistischen Grundsatz in zeitlos-unverrückbare Faschistenprosa gießt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“

(Christian Bommarius in der BZ: Goggelmoggel in Karlsruhe)

Doch Rätsel über Rätsel: welcher deutsche Dämon ist in Bruder Bommarius gefahren, dass er seine eigenen logisch-hermeneutischen Grundsätze, die er so ingrimmig beherrscht, in einem Kommentar zur Beschneidung völlig über den Haufen wirft und den Deutschen, die den Wortlaut des Grundgesetz verteidigen, in philosemitisch geadeltem heiligem Zorn „hochnäsige Geschichtsvergessenheit“, ja partiellen Antisemitismus vorwirft?

Drohend überschreibt er seinen Kommentar mit den Schwergewichten: „Beschneidung und Holocaust.“ Die Hälfte aller Deutschen sei der Ansicht, dass religiöse Beschneidung eine rechtswidrige Körperverletzung sei, gleichzeitig aber so tue, als sei sie bestürzt über die Reaktion der beschneidenden Juden, unter diesen Umständen das Land verlassen zu müssen.

In Wahrheit gibt es auch noch andersdenkende Juden, die als Minderheiten von Graumann zu Nichts erklärt werden. Offensichtlich haben Mehrheiten per se die Wahrheit gepachtet.

Doch woher die Empörung des BZ-Schreibers, wenn die Mehrheit der Deutschen nicht anders denkt – als Bommarius im obigen Fall des § 87? Steht in dem Paragraphen des Verbots der Körperverletzung das Verbot der Körperverletzung oder steht es nicht da?

Halten wir uns nicht mit Trivialitäten auf, dass medizinische Eingriffe nicht nur erlaubt, sondern aus Gesundheitsgründen sogar geboten sind. Und wehe, sie geschehen nicht, dann kann ein Arzt auf unterlassene Hilfeleistung oder Medizinerpfusch verklagt werden.

Was ist der Unterschied zwischen Medizin und Religion? Für deutsche Aristokraten und Geistesriesen gibt’s heute keine Unterschiede mehr. Für den niederen Vernunftpöbel gibt’s noch einige wenige und unscheinbare, die für illuminierte Geister nicht mehr nachzuvollziehen sind.

Medizin ist Wissenschaft, Wissenschaft ist Sache der Vernunft. Vernunft ist das allgemeine Talent aller Menschen, die – horribile dictu – des Glaubens sind, dass Vernunft ein großzügiges Geschenk der Natur und alle Menschen Produkte der Natur sind.

Da die Deutschen beim Essen und Definieren gern alles zu Mus und Brei stampfen, noch einmal den Unterschied zwischen Glauben und Glauben:

Der wissenschaftliche Glaube erweist sich durch Experimente und logische Argumente, die jeder, unabhängig von Rasse, Klasse, Geschlecht und Religion, nachvollziehen kann.

Der religiöse Glaube erschließt sich nur den jeweiligen Gläubigen und fordert von Nichtgläubigen – im Falle eines alleinseligmachen Glaubens – unbedingte Unterwerfung oder letztere müssen mit schrecklichen Folgen rechnen.

Wer sich hingegen der Stimme der Vernunft verweigert, schädigt sich nur selbst oder jene, die von seinen unvernünftigen Entscheidungen abhängen.

Die Sprache der allgemeinen Vernunft hat die Menschheit einander näher gebracht und kann sie immer mehr vereinigen.

Die partikularen Sprachen der intoleranten Erlösungsglauben trennen die Menschheit und stürzen sie in Ablehnung und Hass.

Bommarius vergisst im ereifernden Furor, dass er selbst das Urteil des Gerichts zum Beschneidungsverbot buchstabengetreu und zwingend fand. Soweit die allgemeine vernünftige Ausgangsbasis. Jetzt kommen die Probleme, die Bommarius nicht kühl wie ein Jurist schildert – kühl muss nicht emotionslos sein, selbst Juristen dürfen Gefühle haben –, sondern mit Beispielen aus der NS-Geschichte gravitiert – was völlig in Ordnung, ja oft unvermeidlich ist.

Bevor wir uns im Getümmel verlieren: was schlägt Bommarius als Lösung des Problems vor?

a) Will er – da er das Urteil für korrekt hielt – den Paragraphen der verbotenen Körperverletzung ändern? Dazu sagt er nichts. Wir vermuten: er will nicht.

b) Was bleibt? Eine Rechtssprechung, die sich selbst nicht ernst nimmt und erklärt: eigentlich ist eine religiöse Beschneidung zwar ungesetzlich, aber aus historischen Gründen drücken wir ein Auge zu? Sagt er auch nicht, das wäre der komplette Widerspruch zu seinem Karlsruhe-Kommentar.

Da er nichts sagt, bleibt logischerweise nur b). Also Sonderrecht für Juden, jene Lösung, die für Micha Brumlik der rechtliche und atmosphärische GAU wäre. Brumliks These zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihr auseinander zu setzen, hält Bommarius für überflüssig. Zur kleinen Erinnerung: auch Brumlik ist Jude und könnte sagen: Ich spreche für alle Juden.

Es wäre das erste Mal, dass ein deutscher Kommentator alle relevanten Pro- und Contra-Argumente sammelte und sich an ihnen abarbeitete. Das ist gymnasialer Besinnungsaufsatz oder Sache fleißiger Praktikanten, denen das Genie-Gen fehlt.

Nun wollen wir nicht unterstellen, dass die Verteidiger des Paragraphen zum Verbot der Körperverletzung insgeheim alles verkappte Antisemiten seien, die mit Hilfe korrekter Argumente bösartige Ziele verfolgten. Selbst Graumann lehnt es ab, über antisemitische Verschwörungen zu spekulieren.

Was bleibt, wenn man weder Juden vertreiben noch das Gesetz unterminieren will? Man müsste vielleicht ein Gespräch mit der religiösen Minderheit beginnen? Und gerade nicht Graumanns Verachtung der Minderheiten übernehmen? Man muss auch nicht ins Gegenteil des Adolf Muschg verfallen und die Minderheit zur privilegierten Wahrheitsinstanz verklären.

Kann man mit der jüdischen Minderheit über diesen Punkt in eine Debatte kommen? Nach Graumanns Worten: Nein. Das Ritual der Beschneidung sei zeitlos gültig und nicht verhandelbar. Er sei kein Fundamentalist, aber in diesem Punkt unerbittlich.

Hier spricht der Charme unfehlbarer Religionen, dass sie Argumente der unerleuchteten Vernunft höhnisch abweisen. Selbst bei liberalen Frommen gilt der eherne Grundsatz, soviel Vernunft, wie möglich, im Konfliktfall aber entscheidet das absolut verbindliche Wort des Gottes. Ende der Fahnenstange.

Graumann mag in vieler Hinsicht des täglichen und politischen Lebens alles andere als fundamentalistisch sein: an diesem Punkt des Rituals denkt und handelt er wie ein Ultraorthodoxer – und öffnet, ob gewollt oder nicht, das deutsche Recht dem theokratischen Geist der jüdischen Ultraorthodoxie.

Will er das? Kann er das verantworten? Es ist wie beim Karlsruher Urteil. Wenn einmal dem Verhängnis die Tür ein Spalt breit geöffnet wird, steht sie bald sperrangelweit offen.

Will das Bommarius? Gilt der philosophisch-rechtliche Grundsatz noch: vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, Herr Bommarius? Oder halten Sie den auch für ein vermodertes Requisit aus der Rumpelkammer der „Menschenrechtsfundamentalisten“, das hässlichste Wort, das Sie bislang in die Welt setzten, und das geeignet ist, alle Ihre bisherigen flammenden Plädoyers für Recht, Völker- und Menschenrecht in Schutt und Asche zu legen.

In diesen Fragen spielt es keinerlei Rolle, ob jemand als Jude, Christ, Hindu oder als Aufklärer spricht. Entweder er verteidigt die Humanität oder er verrät sie. Ein Drittes gibt es nicht.

Wenn das fundamentalistischer Humanismus sein soll, dann werden wir ohne diesen Fundamentalismus die Erde nicht humanisieren. Menschenrechtsfundamentalisten aller Länder, vereinigt euch.

Wie lautete der alte Spruch? Sokrates liebe ich, noch mehr aber die Wahrheit. Bei zeitlosen Wahrheiten zählt kein geschichtliches Ereignis. Das Einmaleins ist unabhängig von Kriegen und postmodernen Veränderungen. Gibt es außerhalb der Mathematik zeitlose Wahrheiten?

Ist für Demokraten und Menschenrechtler die menschenrechtliche Demokratie keine zeitlose Wahrheit? Nicht im Sinne des Einmaleins, das unabhängig von menschlichem Tun und Machen ewig wahr sein wird, sondern im Sinn eines politischen Willens, der sie hegt und pflegt, als dürfte sie, solange die Menschheit besteht, nicht untergehen. Ewige Wahrheiten der menschlichen Moral sind Angelegenheiten des Menschen, der sie hochhält, als seien sie ewig.

Wer diese Sätze nicht unterschreibt, hat das Ende der Demokratie und der Humanität unterschrieben. Nur noch das genaue Datum des Verfalls muss er offen lassen.

Keine schlechten geschichtlichen Erfahrungen in Sachen Demokratie widerlegen die leitende Idee der Demokratie. Kein Verbrechen widerlegt das Recht. Kein moralisches Versagen widerlegt die Moral. „Der Eine fragt, was kommt danach? Der Andre fragt nur, ist es recht? Und also unterscheidet sich der Freie von dem Knecht“.

Auch Juden sind nicht unfehlbar und müssen wie andere Menschen kritisiert werden können. Kein vernünftiger Jude wird diesem trivialen Satz widersprechen. Wenn Juden die falschen Konsequenzen aus dem Holocaust ziehen – auch in vielen Fragen der Menschenrechtsverletzungen bei den Palästinensern – muss man ihnen im Namen der Humanität und Freundschaft die Meinung unmissverständlich mitteilen.

Alles andre wäre philosemitische Heuchelei und wahrhaft verkappter Antisemitismus. Freunde warnt man, wenn sie sich und andere schädigen.

Geradezu unfassbar von Bommarius, im Namen des Holocaust die Deutschen daran zu erinnern, sie sollten sich in Fragen der Menschenrechte nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Es gibt nur eine Konsequenz aus dem Völkermord der Deutschen: die bedingungslose Rückkehr zum Maßstab unverbrüchlicher humaner Rechte.

Alain Finkielkrauts Bonmot ist an absurder „Geschichtsvergessenheit“ nicht zu überbieten. Die Antisemiten hassten nicht die beschnittenen Juden, sondern alle Juden, ob beschnitten oder nicht, ob zum Christentum konvertiert oder nicht, ob assimiliert oder nicht.

Es ist Häme, den deutschen Rechtsstaat von heute ohne mit der Wimper zu zucken, mit dem NS-Staat in eins zu setzen. Das kommt ausgerechnet von jenen, die sonst den Deutschen das Zeugnis ausstellen, die weltweit vorbildlichsten Bearbeiter ihrer Vergangenheit zu sein.

Hat nicht selbst die israelische Regierung das heutige Deutschland zu ihrem zweitbesten Freund in der Welt erklärt? Strömen nicht immer mehr junge Israelis nach Berlin? Täten sie dies, wenn hier eine Kopie des NS-Staates ihr Unwesen triebe?

Das ist entweder eine strategisch eingesetzte Erpressungshaltung oder eine Verunglimpfung der exorbitanten Art, die zurückgewiesen werden muss.

Bommarius muss keinen wahren Freund haben, sonst hätte dieser ihm in die Feder fallen müssen, als er ausgerechnet den Hass der Nazis gegen die Menschenrechte als Argument benutzt, um die heutige Achtung der Deutschen vor den Menschenrechten in Grund und Boden zu verdächtigen.

Man kann auch von Juden – nicht den Juden, denn hier gibt’s eine innerjüdische Debatte – sehr wohl verlangen, das demokratische Recht nicht mit religiösen Sonderrechten auszuhöhlen. Das werden demokratische Juden selbst von sich verlangen.

Gerade hier muss gelten: Wehret den Anfängen. Die nächsten Anwärter für Ausnahmen und Sonderrechte stehen bereits Schlange.

Es ist nicht Wolffsohn allein, der die Forderung erhob, das archaische Blutritual in einen spirituellen Prozess zu humanisieren. Die jüdische Religion hat unübersehbare Beweise in der Geschichte geliefert, wie sie den Hassgesängen des Alten Testaments entkommen und bis zum Vernunftglauben eines Spinoza und Moses Mendelssohn fortgeschritten ist.

Als selbsternannter Philosemit muss man von jüdischer Religionsgeschichte keinen Deut verstehen. Bommarius’ blindwütige Attacke ist vom besten Willen beseelt, doch einen guten Willen, gepaart mit absoluter Ignoranz, können wir uns nicht mehr leisten.

Und wenn es denn um kollektive Psychoanalyse eines vermuteten Antisemitismus geht, wäre Bommarius gut beraten, vor der eigenen Türe zu kehren. Warum?

Seine These ist: Dem Buchstaben des Gesetzes gemäß sind Juden schuldig, doch sie dürfen nicht bestraft werden. Genau das war der Ursatz des Mittelalters – [nach der Summa Angelica des Angelus von Chivasso: „Jude sein ist ein Verbrechen, das jedoch von den Christen nicht bestraft werden darf.“] –, mit dem die Christen die Schuld der Juden solange aussetzten, bis deren akkumulierte Schuldenlast überfloss – sodass sie nur noch mit Feuer und Schwefel getilgt werden konnte.

(Christian Bommarius in der BZ: Beschneidung und Holocaust)

Womit fühlen sich Christen den Juden überlegen? Mit der Betonung der Gnade, die besser sei als des Gesetzes Werke. Sola gratia ist das Emblem der Überlegenheit christlicher Agape über das primitive Racheprinzip „Auge um Auge“ und das Beweisenmüssen der eigenen moralischen Tüchtigkeit durch blinde und quantitative Werkgerechtigkeit.

Mit der Beschneidungsdebatte stehen wir erneut an dieser Wegscheide und riskieren die bewusstseinslose Wiederholung unserer mangelhaft aufgearbeiteten Kollektivschuld.

Die Christen in ihrer überlegenen Souveränität lassen den Juden ihre unvergleichliche Gnade und Barmherzigkeit zukommen, beurteilen und bewerten sie zwar als ordinäre Sünder, verzeihen und vergeben ihnen aber – bis zur nächsten radikalen Generalsäuberung.

Die eine Hand reichen sie den Juden zur Versöhnung, die andere notiert unter der Bank die Anzahl ihrer Sünden, die ihnen am Tage der Abrechnung nicht einmal der Heilige Geist vergibt.

Das Spiel der verdeckten und versteckten Konkurrenz zwischen Juden und Christen, welche Religion die wahre und auserwählte ist, beginnt erneut. Mit offenen Karten wurde es am Ende des 19. Jahrhunderts gespielt, als selbst Gegner des damals aufkommenden Antisemitismus wie Mommsen seinen jüdischen Freunden riet, zum moralisch überlegenen Christentum überzuwechseln.

Als die Verstockten auf die Stimmen dieser zweifelhaften Judenfreunde nicht hören mochten, schwoll der Strom des Antisemitismus zur Hasswelle an, die das ganze Volk ergriff.

Schon Luther fühlte sich anfänglich als Freund der Juden und dachte, seine vorbildliche Feindesliebe werde die Glaubensfeinde unwiderstehlich ins Lager des jungen Protestantismus spülen. Als die erhoffte Dankbarkeit ausblieb, verwandelte sich der Reformator in einen der schlimmsten Feinde der Juden aller Zeiten.

Heute formiert sich wieder eine Gemeinde sogenannter Judengönner und Judenbegnadiger. Das emotionale Depot verdrängter Judenfeindschaft beginnt sich sola gratia wieder zu füllen. Soli Deo Gloria.