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Sonntag, 16. September 2012 – Zweite Aufklärung

Hello, Freunde der Erde,

Natur wird von hinten bewegt, wir reden von Kausalität: das Frühere bestimmt das Spätere. Der Mensch wird von vorne bewegt, wir reden von Glauben: das Spätere bewegt das Frühere. Das Spätere existiert zuerst in Gedanken. Erst wenn der Gedanke tätig wird, kann er Berge versetzen.

Mit dem Satz: das Sein bestimmt das Bewusstsein, hat Marx die Naturkausalität auf die menschliche Geschichte übertragen. Das ist so hirnrissig, dass man es erst verstehen muss.

Marx war durch Feuerbach endgültig zum Atheisten geworden. Er wollte das menschliche Tun dem göttlichen Gedanken entziehen. Der göttliche Gedanke war Geist. Der Geist des Menschen war göttlich, denn der Mensch war Abbild Gottes. Wenn Marx das menschliche Tun dem Gedanken entzog, wollte er den Menschen von Gott loslösen und auf die eigenen Füße stellen.

Doch er schüttete das Kind mit dem Bade aus und machte den Menschen zum geistlosen Naturding, das von Naturgesetzen determiniert ist. Ob Natur nur kausal oder teleologisch bewegt wird, überlassen wir den Naturwissenschaftlern, die das auch nicht wissen.

Der Mensch hat Geist und Gedanken, die er von Mutter Natur und nicht von Vater Gott zum Geschenk erhielt. Es sind keine göttlichen Gedanken, sondern natürliche und menschliche.

Wie viele Hitzköpfe und Revolutionäre beging Marx eine typische Reaktionsbewegung mit gespaltenem Ergebnis: der Mensch war zwar Teil der Natur geworden, doch

  zum Preis erneuter Entmündigung. Nun wurde er nicht mehr von Gott, dafür aber von der Materie dominiert, die sich wirtschaftlich entfaltete und sich nach unverrückbarem Plan einem vorherbestimmten Ziel näherte.

Die neue Mutter Materie ähnelte dem alten Vater Geist wie ein siamesischer Zwilling dem andern, weshalb Marxisten und die meisten Linken in der Wolle gefärbte Christen sind. Das ganze Sein entwickelt sich von einem perfekten, aber unvollendeten Anfangspunkt über einen Sündenfall zu einem perfekt-vollendeten Finale, dem zweiten Paradies oder dem Reich der Freiheit.

Durch Kampf und Leid zum Sieg, durch Kreuz zur Krone. Hitlers „Mein Kampf“ entspricht demselben Schema. Heilsgeschichte ist die Mutter aller modernen Fortschrittsgeschichte, aller Geschichte überhaupt.

Natur kennt keine Geschichte, jedenfalls keine menschliche. Marx wollte, dass der Mensch seine Geschichte selber mache. Doch als er die Materie zur obersten Schicksalsbehörde ernannte, wurde Bewusstsein zum Knecht des Seins wie der Gläubige zum Knecht Gottes.

Unausweichlich musste diese Seins-Despotie zur leninistisch-marxistischen Nomenklatura-Despotie führen. Bei allen Theorien, die ohne allmächtige Instanz nicht auskommen, erklären sich clevere Funktionäre in Ledermänteln und Soutanen zu Repräsentanten, Mundstücken und Stellvertretern dieser Instanz.

Rationaler Glaube als projektive Vorwegnahme einer erwünschten Zukunft ist Denken und Denken ist Probehandeln. Verwandle ich Denken in Tun, wird mein Denken zur selbsterfüllenden Prophezeiung.

Will der Glaube rational sein, ist der Mensch selber zuständig für die Erfüllung der Zukunftsprojektion. Ist er irrationaler Glaube, übernimmt der Himmel.

Gibt es keinen Himmel, vollbringt der Mensch die Arbeit, aber so, als tue nicht er sie, sondern der Himmel. Gelingt die selbsterfüllende Prophetie, ist es das Verdienst des Himmels, misslingt sie, die Schuld des Menschen. Gott ist causa aller guten Dinge, der Mensch die aller schlechten. Durch Erfindung eines Gottes, der am Schlechten keine Schuld, am Guten alle Verdienste hat, gelingt es dem Menschen, sich selbst zu erniedrigen und durch Erfolg nicht hinzuzulernen.

In welchem Maß der christliche Glaube die Erde in einen Himmel für Erwählte und eine Hölle für Verworfene verwandelt, zeigen die folgenden Beispiele.

„Wie die Hölle lärmt und in sich selber wütet und wie die Teufel sich mit den Seelen prügeln und wie sie sieden und braten und wie sie schwimmen und waten in Gestank und Morast und zwischen dem Gewürm und im Pfuhl und wie sie baden in Pech und Schwefel, das können weder sie selbst noch irgendein Geschöpf jemals angemessen wiedergeben. Nachdem es mir Gottes Gnade gewährt hatte, unbeschadet diese Qual zu sehen, wurde mir Armen dann von Gestank und höllischer Hitze so übel, dass ich weder sitzen noch gehen konnte und drei Tage lang meiner Sinne nicht mächtig war.“ Diese anrührende Höllenbeschreibung stammt von Mechthild von Magdeburg.

a) Hitze – Klimakatastrophe.

b) Lärm – Bernd Hontschik in der FR zur Lärmdebatte

c) Gestank – Der SPIEGEL über ein kollabierendes Ökosystem in Kalifornien

Der Planet wird immer gleißender – selbst bei Nacht glüht er wie ein leuchtender Körper und ruiniert den Nacht-Tag-Rhythmus der Lebewesen. Die Erde wird heller, heißer, lärmender und stinkender. Das Ökosystem eines großen Sees in Kalifornien kollabiert.

Die Probleme sind menschengemacht. Vor kurzem galt der See noch als belebtes Vogelgebiet. Das Wasser ist von den Anwohnern heftig umkämpft, der See trocknet aus, der Salzgehalt des Sees steigt kontinuierlich. Wo das Wasser weicht, zeigt sich stinkender Schlamm, dessen Ausdünstungen gesundheitsgefährdend sind. Hohe Konzentrationen an Düngemitteln sorgen für eine reiche Algenblüte, organisches Material sinkt zu Boden, der See verfault, zunehmend entsteht giftiger Schwefelwasserstoff.

Die beiden finalen Pole westlicher Weltpolitik sind Himmel und Hölle auf Erden. Teleologisch: Welt wird in Erwählte und Verworfene gespalten.

Politik und Wirtschaft selektieren und teilen die Welt in zwei unverträgliche Bereiche. Geld, Macht, die schönsten Flecken der Erde für eine winzige Minderheit. Ohnmacht, Armut, Bedeutungslosigkeit, unerträgliches Klima für die große Mehrheit der Weltbevölkerung.

Die drei Erlösungsreligionen haben fast 2000 Jahre Zeit gehabt, um die Welt in einen materiellen Abdruck ihrer wahnwitzigen Finalvorstellungen zu verwandeln.

Die Weltpolitik ist messianisch. Selbst die unchristliche Welt hat per Übernahme naturfeindlicher Technik, Konkurrenz und Wohlstandsgier bewusstseinslos den Glauben des Westens importiert, um ihn in Werken und Taten (nicht durch Bekenntnisse) zu exekutieren.

Die Expansionskraft des sachlich gewordenen Glaubens bedarf keiner Worte mehr. Zu diesem Glauben gibt es keine Alternative mehr. Caspar David Friedrich malte die Gipfel der Berge mit einem triumphierenden Kreuz auf der Bergspitze.

Heute könnte man den ganzen Prozess der Moderne mit einem Kreuze krönen. Die Weltpolitik wird von jener Instanz bestimmt, die über jede Gewalt und Macht und Kraft und Hoheit und jeden Namen, der genannt wird, gesetzt ist. Nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen.

Alles ist dem siegenden Kreuz unterworfen. Das Wort, der Gedanke, der Glaube, ward Fleisch, also technische Zivilisation, militärische Gewalt und Klimaveränderung. Das Christentum ist kein Glaube, dem die Werke fehlen. Im Gegenteil, es strotzt vor Kraft, ist Tat und Werk, Kultur und Zivilisation geworden, die keine Worte mehr benötigen.

Der Glaube hat sich materialisiert, sich von Wörtern gelöst und sich in einen selbständig ablaufenden Prozess verwandelt. Das Wort ward irdisches Fleisch, das Fleisch hat die Gesamtregie übernommen.

Um Marx abzuwandeln: das geistliche Bewusstsein hat das Sein überwältigt, kannibalistisch verschlungen und regiert die Welt in der Maske materiellen Seins.

Wer die Welt auf einen naturfreundlichen Kurs bringen will, dem bleiben zwei Strategien:

a) Naturfeindliche Prozesse müssen von naturfreundlichen abgelöst werden.

b) Religiöser Glaube als Ursache apokalyptischer Verklumpungen und Verkrustungen muss aufgedeckt und transparent werden.

Wir brauchen eine zweite Aufklärung, die nicht nur Dogmen und Worte, sondern zivilisatorische Taten und Werke des Glaubens unter die Lupe nimmt.

Die heutige Ökobewegung, nicht nur in Deutschland, beschränkt sich auf die sachlichen Aspekte von a). Noch hat sie nicht wahrgenommen, dass die Sache einem bestimmten Geist und Bewusstsein entsprungen ist, weshalb sie nicht länger rein naturwissenschaftlich bleiben kann. Die theologischen Wurzeln der naturwissenschaftlichen und technischen Praxis muss sie zur Kenntnis nehmen. Sonst bleibt sie eine Bewegung mit stumpfen Scherenhänden, aber ohne Kopf und Bauch.

Die Ökobewegung muss komplett werden, wenn sie wirksam werden will.

Die erste Aufklärung bekämpfte das geistliche Wort mit der Schärfe der Vernunft.

Die zweite Aufklärung wird Geist und materielle Zivilisation in ihrem kausalen Zusammenhang aufdecken und analysieren.

 

Wenn man Richard Herzinger folgen will, gibt es nur eine Religion, die nach Weltherrschaft strebt – und das ist der „Islamismus“.

Warum Islamismus und nicht Islam? Vermutlich will Herzinger die Verfallsform der muslimischen Religion vom mehr oder minder integren Original abheben. Obgleich er im Text seines WELT-Kommentars zwischen beiden gar keinen Unterschied mehr macht: „Das Ziel der islamistischen Erweckungsbewegung ist nicht bloß die „Befreiung“ islamischen Bodens von fremden Eindringlingen, es ist die Weltherrschaft des Islam, wie sie ihn verstehen: als totalitäre religiöse Diktatur.“

Herzinger hält sich mit theologischen Schriftuntersuchungen nicht auf. Er weiß, dass der Koran eine totalitäre Schrift ist. Oder etwa nicht? Sind es nur die Anhänger des Korans, die wieder einmal die Religion instrumentalisieren? Herzinger stellt und beantwortet keine Fragen.

In einem Punkt ist dem Autor unbedingt zuzustimmen. Im Kampf der Mächte geht es nicht um Kulturkreise – Huntingtons „Kampf der Kulturen“ war eine Augenwischerei –, es geht ums Eingemachte: um Kampf der Religionen.

Hoppla, der Religionen? Herzinger scheint nur eine satanische Religion zu kennen: die islamische. Christen- und Judentum hingegen scheinen pazifistische Friedensfeiern zu sein.

Haben fundamentalistische Amerikaner nicht längst im Namen des Herrn die Weltherrschaft erobert, die sie mit Raketen und Drohnen, Gebeten und Chorälen verteidigen?

Glauben jüdische Ultras nicht ebenfalls an einen Messias, der Jerusalem zur Machtzentrale der Welt ausrufen will? Das sei nur ihr Glaube, nicht ihre Politik? War es nicht auch ihr Glaube, die Etablierung eines neuen Israel dem Messias zu überlassen und vor menschlichem Tun zu warnen? Haben sie diesen Glauben nicht längst in selbsterfüllende Taten umgewandelt?

Wer glaubt, kann gar nicht anders, als in die Tat umzusetzen, was er glaubt.

Herzingers Artikel fällt unter die Reihe der selbstgerechten, hasserfüllten Fremdattacken, die am Islam kritisieren, was sie am Juden- und Christentum ebenfalls kritisieren müssten.

Der Autor unterscheidet nicht zwischen der Doktrin und jenen Gläubigen, die sich von der Doktrin entfernen, ihre Entfernung aber noch immer als Glaubensgehorsam missverstehen.

Sie wissen nicht, dass sie vernünftiger sind, als die Doktrin erlaubt. Sie wissen nicht, dass Vernunft und Doktrin unvereinbar sind. Sie wissen nicht, dass sich theologische Deutungen nur unter dem Druck der Aufklärung ein wenig humanisiert haben – aber nicht die Folgerichtigkeit besaßen, ihre heiligen Schriften radikalen Korrekturen zu unterziehen, die nicht im trügerischen Gewand der Deutung daherkommen. Der Text blieb der alte. Jederzeit kann er wieder benutzt werden, um den klerikal-faschistischen Ursinn zu reaktivieren.

Mit anderen Worten, die überwiegenden Mehrheiten der Frommen haben ihre Religionen längst überwunden, dürfen aber nicht wissen, dass sie sie überwunden haben. Dürfen auch nicht wissen, dass sie intuitiv der Spur der Vernunft folgen.

Sie wissen nicht und sollen auch nicht wissen, welche Alternativen es gibt zum alleinseligmachenden Glauben. Theologen belügen sich und die Welt mit der dreisten Auskunft, der neue und humanere Sinn ihrer modernistischen Deutungen sei deckungsgleich mit ihren uralten Texten.

Dabei hat der Galiläer das notwendige Prinzip bereits in aller Deutlichkeit auf den Begriff gebracht. „Man füllt nicht neuen Wein in alte Schläuche, sonst zerreißen die Schläuche und der Wein wird verschüttet und die Schläuche gehen zugrunde. Sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche.“

Weg mit den alten Schläuchen religiöser Menschenfeindlichkeit. Her mit den neuen Schläuchen eines unbestechlichen Menschenverstandes, der auf dem Planeten die Natur walten lässt.