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Sonntag, 15. Juli 2012 – Dem Menschen ein Mensch

Hello, Freunde Algeriens,

der algerische Schriftsteller Boualem Sansal hat als erster arabischer Intellektueller offiziell Israel besucht. In der TAZ hat ihn Reiner Wandler befragt. Sansals Blick ist pessimistisch. In arabischen Ländern habe der Intellektuelle keinen Platz. Es gebe nur die Macht und das Volk. Im Okzident sei der Intellektuelle ein Geschöpf der Aufklärung, das arabische Jahrhundert der Aufklärung stehe noch aus.

(In der Frühzeit der arabischen Philosophie gab es sehr wohl eine Epoche der Aufklärer, Mutaziliten genannt, die vom muslimischen Klerus untergepflügt wurde. So könnte es Europa ergehen.)

Die Intellektuellen würden nie Stellung beziehen und in Schweigen flüchten. Sansal: „Wir müssen uns befreien, von der Macht, der Religion, von der arabo-muslimischen Tradition, die einen Araber dazu zwingt, wie ein Araber zu denken.“

Die arabischen Völker wüssten nicht mehr, woran sie glauben sollen. Sie hätten gesehen, wie westliche Demokratien die Diktaturen unterstützt hätten. Wenn die Völker den Glauben an die Demokratie verlören, könnte das passieren, was in den 30er Jahren in Deutschland geschehen sei, die Faschisten hätten leichtes Spiel.

Was Sansal über die orientalischen Länder sagt, könnte das Zukunftsszenario des Okzidents sein. Der Glaube an Demokratie, Vernunft, Aufklärung sinkt, die Wissenschaft wird zurückgedrängt oder zur

Unterstützerin des Glaubens degradiert. Eine unkontrollierbare faschistoide Wirtschaft hat das Kommando übernommen. (TAZ-Interview mit Boualem Sansal)

 

Indien hat zwar eine Demokratie, das Land wurde wegen seines Wirtschaftswachstums gerühmt, doch im Volk kommt der neue Reichtum nicht an. Es gibt eine Umweltkrise. Die Wasserverschmutzung betrifft alle, die Verwüstung schreitet voran, Flüsse sind vergiftet.

Die Mehrheit der Mittelklasse glaube an eine goldene Zukunft, die arme Mehrheit des Volkss wisse nichts davon, so der indische Linksintellektuelle Praful Bidwai in einem TAZ-Interview mit Georg Blume.

Die Landwirtschaft stecke in einer großen Krise, viele Bauern müssten wegen hoher Bewirtschaftungskosten ihre Felder aufgeben. Es gebe viel Widerstand im Land gegen lokale Probleme, doch die Politik würde den Leuten nicht zuhören.

Was für eine Schlussbemerkung Bidwais: Was freie Wahlen und das demokratische Procedere betreffe, sei alles okay. „Was den Respekt der Menschenrechte und die Teilnahme der Menschen am politischen Entscheidungsprozess betrifft, versagt Indiens Demokratie.“

Eine äußerlich intakte Demokratie, die innerlich morsch ist. Auch in diese Richtung tendiert der kapitalistische Westen. Selbst linke Politologen in Deutschland glauben eher an die Stabilität der Institutionen, als an die des Menschen. Doch wenn die inneren Fundamente hohl werden, bricht das Haus zusammen. (TAZ-Interview mit Praful Bidwai)

 

Der Regensburger Erzbischof Müller ist ein Mann wie ein Baum, er übt schon mal für sein großes Amt in Rom. Sein bayrischer Landsmann, der Papst, hat ihn zum neuen Großinquisitor der Römischen Kirche ernannt.

Kaum hatte Müller auf Facebook des Menschenrechtsbeauftragten Löning den Spruch entdeckt: „Zu dumm, Wissenschaft zu verstehen – versuch es mit Religion“, warf er dem FDPler „schreiendes Fehlverhalten“ vor. Löning sei ein „Mann am falschen Platz“.

Sofort löschte der Beauftragte den kessen Spruch, der im Übrigen nicht neu ist. Früher sprach man von Gott als asylum ignorantiae, der Glaube ist die Zuflucht der Ignoranz. Dass man sich zu Gott flüchten muss, wenn man nichts weiß, ist Hiobs Grunderkenntnis.

Als der Herr ihn anfuhr: „Gürte doch wie ein Mann deine Lenden; ich will dich fragen und du lehre mich. Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sag an, wenn du Bescheid weißt! Wer hat ihre Masse bestimmt – du weißts ja – oder wer die Meßschnur über sie ausgespannt?“ bereut der vorwitzige Neunmalkluge: „Siehe, ich bin zu gering, was soll ich dir antworten? Ich lege die Hand auf meinen Mund. Einmal habe ich geredet und wiederhole es nicht, zweimal, und ich tu es nicht wieder.“ ( Altes Testament > Hiob 38,3 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/hiob/38/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/hiob/38/“>Hiob 38,3 Altes Testament > Hiob 38,3 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/hiob/38/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/hiob/38/“> ff und Altes Testament > Hiob 40,4 f / http://www.way2god.org/de/bibel/hiob/40/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/hiob/40/“>40,4 f / 39,34 f)

Wenn ein Menschenrechtsbeauftragter nicht bibelfest ist, muss er der Inquisition weichen.

 

Die unbefleckten Hände des Vatikans reichen sehr weit und werden immer zupackender. Kaum war auf der Satirezeitung TITANIC das Bild mit dem befleckten papa christianorum erschienen, schon fühlte er sich in seiner Reinheit beschädigt, klagte und erhielt Recht: die Ausgabe des Magazins musste eingestellt werden.

Die Satiriker freuten sich ob der kostenlosen Publicity und wollen bis zum Jüngsten Gericht gehen. Dort wird’s ihnen schlecht ergehen, da gilt nämlich Neues Testament > Lukas 6,25 / http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/6/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/lukas/6/“> Lukas 6,25: „Wehe euch, die ihr jetzt lacht“.

 

In Amerika ist der Kampf zwischen gläubigen Asylanten der Ignoranz und der Wissenschaft schon voll entbrannt. Die Gegner der darwinschen Evolution nennen sich nach der Schöpfungsgeschichte „Creationisten“, ein doppeldeutiger Begriff. Erstmal bedeutet er: ich glaube an die Creation des Schöpfers, zum anderen: der Mensch ist selbst Schöpfer. Nämlich Schöpfer der zweiten, neuen Schöpfung, die die alte minderwertige und böse abschaffen soll.

Die gläubigen Creationisten wehren sich nicht nur gegen Darwin, sondern gegen alles, was nach Ökologie riecht. Denn Ökologie ist das Geschäft Ungläubiger, die der Menschheit – besonders den amerikanischen Erwählten – die grenzenlose Wohlstands-Herrschaft über den Planeten neiden und die baldige Rückkehr des Menschensohns aufhalten oder verhindern wollen – indem sie die zum Untergang bestimmte Natur retten wollten.

Zu welchen Folgen der mit Geldern der milliardenschweren Koch-Brüder finanzierte Feldzug gegen wissenschaftliche Klimawarner führt, schildert der renommierte Meteorologe Michael E. Mann in einem TAZ-Interview mit Ingo Arzt.

Er bekam nicht nur Morddrohungen. Das Gesamtziel der Kampagne sei, Gewalt anzufachen, Angst zu schüren, Intoleranz, Wut und Hass zu säen und all dies gegen die Klimawissenschaftler zu bündeln, so Mann. Glenn Beck, ein bekannter Moderator des rechten Hetzsenders FOX, habe die Klimaexperten zum kollektiven Selbstmord aufgefordert. Andere sagten, man sollte sie teeren und federn.

Die Hetzer schrecken vor persönlichem Terror nicht zurück. Auf Webseiten werden Bilder und Emailadressen der Familie ins Netz gestellt. Es wird behauptet, die Klimawarner seien böse Kommunisten, die versuchen würden, den einfachen Menschen die Freiheit zu rauben. Private Mails würden gehackt und ins Netz gestellt. Der Gouverneur von Oklahoma wollte Mann und Kollegen strafrechtlich verfolgen lassen.

Hinter der Kampagne steht die amerikanische Ölindustrie, die den ganzen Kampf gegen den Klimawandel verhindern wolle. Die würden einflussreiche Mächte bezahlen, um die Wissenschaft vom Klimawandel zu diskreditieren. „Wir haben in den USA eine komplette Nachrichtenwelt, die den Menschen eine alternative Realität über den Klimawandel anbietet, die mit Fakten nichts zu tun hat.“

Desillusionierte, wirtschaftlich verunsicherte Menschen würden Glenn Ford auf den Leim gehen, der ihnen ständig erzähle: „Ihr seid die Opfer dieser Verschwörung aus Wissenschaftlern, Politikern und Ölspinnern, die euch eure Freiheit nehmen wollen. Manche reden sogar von einer jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“

Womit klar sein muss, dass im angeblich israel-freundlichen Amerika ein nicht nur latenter Antisemitismus in beträchtlichem Ausmaß vorhanden sein muss.

Vor vier Jahren hätte Mann noch Obama unterstützt, doch der anfänglich Hochgerühmte musste den Klimawandel relativieren. „Wir haben uns zurückentwickelt“.

Dennoch gebe es Hoffnungszeichen, der Grad der Zustimmung zu wissenschaftlicher Klimaarbeit steige wieder, seitdem die Hitzerekorde den Menschen einheizten. Das sei ein Wetter, wie es die Leute noch nie erlebt hätten. Auch hier könnte es sich als wahr erweisen, dass die Menschen nur klug würden, wenn Katastrophen über sie kämen.

Trotz allem ist Mann kein Pessimist. Die Menschheit hätte schon andere Umweltgefahren gebannt. „Es gibt Grund zur Hoffnung“.

Man kann sich fragen, ob die deutsche Umweltbewegung den religiösen Hass der Amerikaner auf die Ökologie versteht. Offenbar nicht, denn sie ist – in diametralem Gegensatz zu Amerika – in hohem Maße christlich motiviert und fühlt sich dem Wort von der „Schöpfungsbewahrung“ verpflichtet.

Ohne zu realisieren, dass dies Wort in der Genesis nicht das Geringste mit dem Abwenden einer eschatologischen Katastrophe zu tun hat – denn das Wort ist bereits in paradiesischen Zuständen vor dem Sündenfall gesprochen und heißt nur: pflegt meinen Garten. Ganz anders nach dem Sündenfall. Der Mensch darf die Natur nicht erretten wollen, wenn Gott sie zu vernichten gedenkt.

Diese theologische Dunkelheit ist der Hauptgrund der vor sich hin schwächelnden deutschen Ökologiebewegung.

Berechtigte Hoffnung könnte es nur geben, wenn die Menschheit sich entscheiden würde, ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen. Man glaubt es nicht, unter den großen Ideologien der Gegenwart gibt es keine einzige, die das Vertrauen in den autonomen Menschen im Köcher hätte.

Der Sozialismus glaubt an die Geschichte, der Kapitalismus an die Evolution oder die Heilsgeschichte. Die Ökonomen glauben an die naturwissenschaftlichen Gesetze der Wirtschaft. Niemand glaubt an die moralische Autonomie des Menschen.

Hat man sich das klar gemacht, kann man streng genommen von Rückfall in die Religion nicht mehr reden. Denn sie war immer vorhanden, insofern man unter Religion den Glauben an übermenschliche und nicht beeinflussbare Mächte versteht. Die Atmosphäre der vorneoliberalen Dezennien schien religions-fern, aber nicht irreligiös.

Nicht die Kirchengängerei, den vermuteten Kern des Evangeliums aber hielt man gefühlsmäßig für kompatibel mit revoltierenden und fortschrittlichen Kräften. Man erinnere sich an Rudi Dutschke, verheiratet mit einer amerikanischen Theologin, auf der Kanzel einer protestantischen Kirche.

In einer mächtigen Tiefenströmung war der Kinderglaube immer präsent, der sich vom VATER mehr erhoffte als von bankrottierenden Kindern.

Zwei Beispiele: a) Der jüdische Philosoph Hans Jonas, der in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ nicht länger der göttlichen, aber auch nicht der menschlichen Kompetenz vertrauen konnte. Die Kluft zwischen Sein und Sollen könne nicht von Gott überbrückt werden, denn weder sei seine Existenz, noch seine Autorität gesichert. Den Menschen hingegen gebe es zwar, aber er habe keine Autorität.

b) Der protestantische Religionsphilosoph Georg Picht, Heidegger-Schüler und Erfinder des Begriffs Bildungskatastrophe, der in seinem Buch „Wahrheit, Vernunft, Verantwortung“ unmissverständlich festhielt, dass der Mensch aus eigener Kraft weder Freiheit noch Verantwortung entwickeln könne:

„Es ist dem Menschen versagt, aus eigener Vollmacht frei sein zu können. Der Mensch besitzt nur dann das Vermögen der Freiheit, nämlich Vernunft, wenn ihm ein Licht strahlt, das die Vernunft erleuchtet. Er hat das Gewissen nicht als Naturanlage, sondern verdankt es der Gnade Gottes.“ Das betrifft auch die menschliche Fähigkeit zur Durchsetzung der Menschenrechte, die ohne göttlichen Beistand nicht möglich wäre.

Nach den verheerenden Erfahrungen Europas und der Welt mit „den destruktiven Konsequenzen der Idee der autonomen Vernunft“ könne niemand mehr seine Hoffnung auf den gott-losen, selbstbestimmten Menschen setzen. Die Idee universaler Normen, die für die gesamte Menschheit als Menschenrechte gültig wären, habe sich als „Hohlform“ erwiesen.

Ergo: eine Politik, die den autonomen Menschen für sein Schicksal verantwortlich macht, muss sich nicht nur strikt von der Religion lösen, sondern von allen herrschenden Ideologien, die unter der Tarnkappe der Philosophie den Glauben an den alleinverantwortlichen VATER weitervererbt haben.

Der Mensch muss lernen, dem Menschen ein Mensch zu sein.