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Sonntag, 09.09.2012 – Es ist alles eitel

Hello, Freunde der Robin-Hood-Methoden,

im reichen Europa sind wir soweit. 350 000 Menschen in Andalusien sind unterernährt. Niemand tut etwas für sie. Nur die Gewerkschaft SAT, die aus zwei großen Supermärkten Waren mitnimmt, ohne sie zu bezahlen. Natürlich wissen die Aktionisten, dass ihre Robin-Hood-Methoden nur aufrüttelnde und symbolische Wirkungen haben können. Sie fordern ein Gesetz, um die Hungernden zu schützen.

5,5 Millionen Spanier sind arbeitslos, oft haben sie keinen Anspruch auf die karge Sozialhilfe von 400 Euro pro Monat. „Wir brauchen ein grundsätzliches Recht auf Wohnraum, Elektrizität, fließendes Wasser und Essen.“

Mitten im freien und individuellen Europa haben Menschen das Recht, auf individuelle und freie Art zu sterben.

(TAZ-Interview von Eva Völpel mit dem andalusischen Gewerkschaftler Miguel Sanz)

Al Andaluz ist ein Kernland Europas. In Cordoba befand sich die Wiege der europäischen Gelehrsamkeit. Juden, Christen und Muslime forschten und stritten miteinander, arabische Aristoteles-Kommentare und philosophische Werke wurden ins Hebräische und Lateinische übersetzt, griechischer Geist kam über Bagdad und Spanien nach Europa, arabische Kultur floss in die germanischen Wälder, jüdische Intelligenz eröffnete den geschliffenen Dialog zwischen den Geistern.

Bärtige Fundamentalisten hatten noch keine Macht über das Denken, intolerante Religion war zurückgedrängt und gebändigt. Aber nicht lang. Die arabische Kultur fiel Imamen und Sultanen in die Hände und verwandelte sie

in einen muslimischen Cäsaropapismus (Imamosultanismus).

Heute sind Priester aller drei Religionen und ihre Helfershelfer aus den Eliten – der auferstandene Adel und Klerus – erneut dabei, das freie Denken auf allen Ebenen einzuschränken. Europäische Religionen nutzen die Erlösungssehnsucht der Menschen, um sie unter ihre Gewalt zu kriegen.

Glaubenssysteme sind PR-Verpackungen von Machtsystemen. Man spricht vom Himmel und meint die Erde. In den zauberhaften Gärten von Al Andaluz lebte man auf Erden.

Die Idee des Gartens hat man im Fortschritt Europas verraten und das Land in agrarische Ödnis verwandelt. Im urban gardening weht eine leise Ahnung aus Andalusien in die Gegenwart. Wenn wir keine Gärten anlegen, um in Frieden mit der Natur zu leben, werden wir Wüsten schaffen.

Der Garten Eden war eine Erfindung des Menschen. Wir müssen Europäer werden.

 

Medien sind zu Hütern der öffentlichen Hypochondrie, Verwaltern des Elends und Verleugnern menschlicher Lern- und Entwicklungsfähigkeit geworden. Sie leben von den Wunden, die sie beschreibend konservieren.

Ein gesunder Organismus vergisst sich, schaut in die Welt, lebt und handelt; ein kranker beschäftigt sich mit sich selbst, ist erregt und beunruhigt über seine Krankheiten zum Tode.

Only bad news are good news, wäre ein rationaler Satz, wenn er über Krankheiten berichtete, um sie zu überwinden. Rationale Medien – wie rationale Erzieher – hätten den Ehrgeiz, sich überflüssig zu machen. Sie berichteten über Defizite der Gesellschaft, um sie auszukurieren und zum Verschwinden zu bringen.

Für heutige Medien wäre das ein kopfloser Suizid. Da sie von ihrem Schreiben und Berichten leben wollen, brauchen sie ein Mindestmaß an kollektiven Übeln, um sich als Alarmisten unentbehrlich zu machen. Sie müssen schlechte Nachrichten erfinden, auf mittlerer Temperatur erhalten und aufbauschen, damit sie das Gefühl haben, gebraucht zu werden.

Medizinern vergleichbar, die ihren Patienten die richtigen Pillen verpassen, aber nicht so viel, dass jene gesund werden könnten. In den Gesundheitstrank mischen sie zwanghaft eine genau dosierte Menge an Gift, damit der Patient weder stirbt noch völlig ausheilt.

Die typische Mischung aus Heilung und Kränkung ist die mediale Beobachtung. „Ich beobachte“ ist der Lieblingssatz aller Tagesschreiber. Die Spartaner ließen ihre Kinder im frühesten Alter und aus sicherer Entfernung die Schlachten ihrer Väter beobachten, damit sie seelisch abgehärtet werden. Diese Beobachtung (Mauerschau) hatte einen klaren Sinn: die Knaben sollten zu echten Spartanern ertüchtigt werden.

Im Tierreich lernt der Nachwuchs allein durch Zuschauen und Beobachten, eine ausgearbeitete Sprache – auf die die Menschen so stolz sind – ist überflüssig. Schaut der kleine Schimpanse genau hin, weiß er, wie man den Wurm mit einem Stöckchen angelt. Was allerdings voraussetzt, dass Eltern wirkliche Vorbilder sind, von denen man lernen kann.

Für menschliche Eltern trifft das weniger zu. Ein Hauptteil ihrer Beschäftigung besteht darin, sich der Beobachtung der Kinder zu entziehen oder ihre Beobachtensqualitäten zu disqualifizieren. Werd nicht frech, Junior, das hast du bei mir nie gesehen.

Menschen haben die göttliche Sprache erfunden, um ihre Widersprüche und Unklarheiten mit komplizierten Sätzen zu überdecken, in denen die Worte Sünde und Verderben nicht fehlen dürfen. Tiere sind eindeutig, sie müssen weder Theologie noch Ideologiekritik studiert haben, um ihre Fehlbarkeit durch das Böse und das Heilige bombastisch zu „erklären“.

Nehmen wir den TAZ-Artikel von Peter Unfried über die „grüne Seele“. Was beobachtet er und zu welchem Zweck?

Beginnen wir von hinten: er will Claudia Roth ab- und Katrin Göring-Eckart aufwerten. Die Pastorin habe es nicht nötig, sich mit einem „Wir-gegen-Die-Pathos“ zu inszenieren wie die letzte Managerin von TonSteineScherben, die vor 40 Jahren den Song „Keine Macht für niemand“ veröffentlichte. „Aus dem Weg, Kapitalisten!“

Claudia gilt als grüne Seele, weil sie einen Rest dieses unbeugsamen, ursprünglichen grünen Lebensgefühls verkörpert. Obgleich sie in vielen Jahren jeden Kompromiss des „Gehirns“ – sprich Jürgen Trittins – mit getragen hat. In ihren Reden aber kann sie so authentisch empört sein, dass jede(r) ParteigenossIn ergriffen an die seligen Ursprünge denken muss.

Ist diese Unbeugbarkeit wirklich die grüne Seele? Unfried schaut sich in einem grünen Urbezirk um, in Berlin-Kreuzberg. Erkennt er dort einen konsequenten Politkurs, auf dem die grüne Seele auf ihre Kosten kommt?

Kreuzberg ist eine Ökowüste! Wieso denn das? Die grüne Seele liebt große Sprüche. Dann aber richtet sie sich in der Halbherzigkeit ein und traut sich nicht, die eigenen Parolen in die Tat umzusetzen? Die Leute könnten abgeschreckt werden, wenn sie ihre Häuser wärmedämmen sollten?

In Kreuzberg habe die grüne Seele ihre Ruhe gefunden. Vermutlich ihre Friedhofsruhe. Auch hier nichts mit der unverwüstlichen Seele.

Unfried ist ein echter Mann, grüne Männer kommen besser bei ihm weg. Trittin hält er gar für ideologiefrei – wenn man Atom und ein paar andere Kleinigkeiten außen vor lässt. Und wenn nicht? Gibt’s denn ideologiefreie Menschen? Hat nicht jeder seinen Kompass in sich?

Meint Unfried die Fähigkeit, die pragmatischsten Kompromisse zu schließen, ohne seinen Zielen untreu zu werden? Jeder Politiker wird sich die Frage beantworten müssen: erreiche ich mehr durch Widerstand – oder durch Teilhabe? Gesinnungstreue kann ein eitles Spiel sein, wenn man Wirklichkeit nicht gestalten will: das ist der eine Pol.

Wer aber nur dem Ruf der Macht folgt, ohne sie als Instrument zum Durchsetzen bestimmter Inhalte zu benutzen, sollte sich Machiavellist nennen. Das ist der andere Pol. (Selbst der böse Machiavelli hatte ein politisches Ziel und propagierte nicht pouvoir pour pouvoir, sondern wollte die zerrissene Nation einigen.)

Weil die Partei aber sentimental die Seele liebe, könne sie das Gehirn weniger lieben – aber insgeheim mehr bewundern und respektieren? In den meisten Familien steht Mutter den Kindern emotional näher, doch Vater genießt in späteren Jahren mehr Respekt als die gefühlsdusselige Mami.

Die Grünen haben die Gruppendynamik einer deutschen Durchschnittsfamilie in die Partei projiziert. Das geht gar nicht anders. Solange Menschen keine Maschinen sind, werden sie ihre Gefühle überall hinbringen, wo sie cool und sachlich ans Werk gehen.

Renate Künast werde auch nicht mehr geliebt, weil sie tatsächlich an die Macht wollte, anstatt kernige Reden aus dem Abseits zu halten. Das könnte falsch sein. Vermutlich steht sie nicht mehr im Mittelpunkt, weil sie als Machtfrau versagt hat. Die Deutschen lehnen Macht nicht ab, sie soll nur gefühlsmäßig und erfolgreich sein. Man erinnere sich der ersten Jahre des Willy Brandt.

Boris Palmer hingegen scheint zu rational zu sein, was er nicht mal leugnet: „Die Seele der Partei ist der Verstand“. Dafür erhält er vom TAZ-Reporter ein seelisches „Ungenügend“: „Palmer ist definitiv nicht Bestandteil der alten Parteiseele.“

Das wäre ein erheblicher Paradigmenwechsel, so Unfried. Möglicherweise hat er gerade im Konkurrenzblatt „Die ZEIT“ das Unfassbare gelesen, dass „die Philosophen das Gefühl“ entdeckt hätten. Törichter können solche Entdeckungen nicht sein. Irgendwie muss man nach dem Sommerloch das Rad von vorne erfinden, damit die Quote nicht in den Keller fällt.

Gibt es einen einzigen Denker von Rang, der das Gefühl ignoriert hätte? Eine vernünftige Vernunft hat schon immer auf ihre Gefühle gehört – siehe den sokratischen Daimonion –, aber er hat sie unter die Lupe genommen. Mit dem nahe liegenden Ergebnis, dass Gefühle vernünftig und Vernunft gefühlig werden kann.

Es gehört zu den abendländischen Idiotien, religiös zu spalten, was Natur zusammengefügt hat. Unvernünftige Triebe und gefühllose Vernunft gibt’s nur bei dualistischen Sündenkrüppeln.

Was ist das Fazit der Unfried‘schen Beobachtung? Besitzt die Partei noch ihre Seele? Ist sie nicht in der Gefahr, ihr Herz an neue Technokraten wie Palmer zu verlieren, weil er den Verstand walten lässt? Ist der Tübinger OB ein seelenloser Roboter, nur weil er 1 und 1 zusammenzählen kann?

Unfried gibt keine Wertung. Er beobachtet und beschreibt Impressionen. Da liegt die Wurzel der Selbstverblendung. Er bewertet sehr wohl, will aber seine Bewertung nicht klar zu erkennen geben. Um sich wegen Subjektivität nicht angreifbar zu machen.

Er versteckt seine subjektive Bewertung hinter unanfechtbaren Wahrnehmungen und tut, als habe er einen erhöhten Standpunkt. Das klingt wie ein aussichtsloses Vexierspiel: wo ist sie denn, die grüne Seele? Kaum glaubt er sie im Visier zu haben, schon ist sie ihm entglitten. Gibt es überhaupt eine? Und wenn, soll sie wichtiger sein als der Verstand?

Alles Getriebe der Welt – ein aussichtsloses Unterfangen. Sind es nicht trügerische Hoffungszeichen, denen man folgt, um im Nichts zu landen?

Der Text gibt seine Koordinaten nicht preis und gaukelt eine ideologiefreie Beobachtung vor, die es nur im Handbuch für Tagesschreiber gibt. Dabei hätte er durch Cohn-Bendit ein handfestes Kriterium haben können, der unmissverständlich zu Protokoll gibt, der Zweck der Partei sei es, das Leben besser zu machen. „Wir wollen Gutmenschen sein.“

An diesem Kriterium hätte Unfried seine Spurensuche der grünen Seele fixieren können. Ist es die Seele, die das Leben besser macht, ist sie zu sentimental und realitätsuntüchtig? Ist es der Verstand, der den harten Tatsachen des Politlebens standhält und sie gar verändert? Oder Verstand und Gefühl zusammen?

Doch solche Schlichtheiten: wir wollen das Leben verbessern, sind mit ausdifferenzierten, überkomplexen, in Unübersichtlichkeiten vernarrten, nach ständigen Neuheiten gierigen, dabei von allem Weltgeschehen unberührten, neutralen und objektiven Tagesbeobachtern nicht zu vereinbaren.

Dabei ist es die einzige Frage, die zur Philosophie geführt hat und Philosophen bis heute bewegt. Es macht sich gut, wie Gott der Herr mit der sündigen Schöpfung abzurechnen.

Wenn Politik sich der trügerischen Hoffnung hingibt, die Welt zum Besseren zu verändern, so sorgt die Vierte Macht dafür, diese Illusionen zu untergraben. Jedoch nicht so, dass sie beim Untergraben erwischt und zur Verantwortung gezogen werden könnte.

Im Zweifelsfall sind die mächtigen Mittler ganz machtlos und waschen ihre Hände in Unschuld, indem sie kokett in den Angriff gehn: na klar, immer soll die Presse an allem schuld sein! Womit klar ist, sie sind an gar nichts schuld. Sie beobachten nur.

Doch theoriefreie Beobachtungen gibt es nicht. Jede Beobachtung ist ein Placebo oder Nocebo. Jeder Patient spürt, ob der Arzt die Symptome hoffnungsvoll oder pessimistisch diagnostiziert.

Die Medien treiben fortwährend ein doppeltes Spiel. Einerseits wollen sie als Vierte Macht die anderen Mächte der Gesellschaft überprüfen, um Schaden von der Demokratie zu wenden, andererseits wollen sie an allem unschuldig sein. Sind sie doch nicht anderes als Schlüssellochgucker, die mit dem Rest der Menschheit nicht im selben Boot sitzen.

Um sich wichtig zu fühlen, müssen sie Notstände ansprechen. Doch gleichzeitig darauf beharren, dass die Notstände nicht zu beheben sind und den Schreibern für immer den Job garantieren. Das Paradies wäre nicht nur langweilig, es gäbe dort auch nichts zu berichten. Eine Utopie wäre eine pressefreie Welt.

Kann die Presse sehenden Auges zuschauen, wie eine lernende Menschheit sie durch Verbesserung der menschlichen Verhältnisse brotlos machen könnte? Das verhindere der neutrale Beobachter, dessen unterschwellige Botschaft lautet: vanitas, vanitatis. Es ist alles eitel, spricht der Herr.

Medien sind die nicht-lizenzierten Vergeblichkeitsprediger, die Nachfolger des Memento mori – nicht im eschatologischen Ton wortmächtiger Kanzelprediger, sondern im postmodernen Verwirrton des flattrigen Nichts.

Sie finden und finden ihre Rolle nicht. Sind sie Erben der ausgestorbenen Intellektuellen, die per Zufall in die Rolle dieser Mahner hineingerieten, die – nach Julien Benda – die „ewigen und interessefreien Werte wie Vernunft und Gerechtigkeit“ verteidigen? Oder just im Gegenteil diese „angemaßte“ Rolle in Grund und Boden schreiben müssen? Sind sie bedeutungslose Protokollanten der schnell ablaufenden Zeit, bloße Schreiberlinge und Geschöpfe des Tages?

Kraft welcher Qualifikation beherrschen sie den öffentlichen Raum des geschriebenen und gesprochenen Wortes? Würde man sie wählen, wenn man sie wählen dürfte? Bislang unternehmen sie nichts, um den Eindruck zu widerlegen, die doppelzüngigen Wächter der herrschenden Hypochondrie zu sein.

Die Presse einer selbstkritischen, selbstbewussten und nüchtern-hochgemuten Demokratie sieht anders aus.

Was Unfried & Kollegen tagtäglich in unendlichen Wörtern nicht auf den Begriff bringen, hat der Barockdichter Andreas Gryphius in dem Sonett „Es ist alles eitell“ in wenigen Worten zusammengefasst.

Du sihst / wohin du sihst, nur eitelkeit auff erden.
Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein:
Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein,
Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.

Was itzund prächtig blüht sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen asch und bein.
Nichts ist das ewig sey / kein ertz kein marmorstein.
Itzt lacht das Gluck vns an / bald donnern die beschwerden.

Der hohen thaten ruhm mus wie ein traum vergehn.
Sol denn das spiell der zeitt / der leichte mensch bestehn.
Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten,

Als schlechte nichtikeitt / als schaten, staub vnd windt.
Als eine wiesen blum / die man nicht wiederfindt.
Noch wil was ewig ist kein einig mensch betrachten.“