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Sonntag, 08. Juli 2012 – Selbstanpreisung

Hello, Freunde Libyens,

die erste freie Wahl in der Geschichte des Landes, die Lust auf Demokratie scheint groß. Die Wahlen verlaufen korrekt. Bislang sind die Befürchtungen, das Land könnte nach der Vertreibung des Despoten auseinanderbrechen, nicht Wirklichkeit geworden. Die Milizen haben sich alles in allem als Stabilisierungselemente erwiesen.

Der Islam wird von der demokratischen Vernunft zivilisiert. Bei uns läuft die Entwicklung umgekehrt, die Religionen brüsten sich, die Demokratie unter das „Selbstbestimmungsrecht“ der Religionen zu beugen, die sich lügenhaft anmaßen, die Erfinder der Humanität zu sein.

 

Nicola Leibinger-Kammüller ist Literaturwissenschaftlerin und Chefin des größten Werkzeugherstellers der Welt. Das Unternehmen ist ein Familienbetrieb, der Vater wollte sie als Nachfolgerin, obgleich sie keine Fachfrau ist. Der Chef eines Unternehmens mit 9000 Angestellten müsse nicht unbedingt ein Ingenieur sein, befand der Vater, sondern jemand, der eine klare Haltung und ein Gefühl für Menschen habe.

Selbst als es während der Krise abwärts ging, hat sie 

niemanden entlassen, sondern die Leute geschult und weitergebildet. Ein ganz neues Arbeitszeitmodell ermöglicht jedem Mitarbeiter eine ungewohnte Flexibilität, seine Arbeitszeit nach persönlichen Bedürfnissen zu gestalten.

Bis 19 Uhr werden kostenlose Kindergartenplätze angeboten. Aus dem Betriebsrestaurant kann abends das Essen für die Familie mitgenommen werden, damit Mutter am Feierabend nicht mehr kochen muss. Über ein zentrales Bestellsystem der Firma kann der Wochenendkauf für die Familien abgewickelt werden.

Die Frau genießt bei ihren Leuten den Ruf einer Madonna aus Schwaben.

„Wenn alle Kapitalisten so wären wie Nicola Leibinger-Kammüller, dann hätte der Kommunismus wohl nie wieder eine Chance.“ Die Gewerkschaften fürchten um ihren Einfluss, weil die Unternehmerin progressiver ist als ihre starren Tarifverträge.

Nur in einem humanisierten Kapitalismus ist Leben mit Arbeit verträglich. Diese Forderung wird von den Verträglichkeitsideologen nicht erhoben. Von Feministinnen überhaupt nicht.

 

Viele Studenten drängen an die Uni und vereinsamen mitten in der Menge. Das fröhliche Studentenleben ist zur Legende geworden. In den Lernstätten, in denen Eros regieren könnte, herrscht Ares mit neuzeitlichem Namen Hobbes: der Mensch ist dem Menschen ein abweisender, vereinsamter Rivale.

Wer den andern nicht zur Kenntnis nimmt, verneint seine Existenz. Jeder Student ist einmalig, unverwechselbar und unvergleichlich!? Klingt verlockend – und gefährlich. Nur ein vereinsamter Gott ist einmalig und unvergleichlich. Menschen gleichen sich, erkennen sich im andern, fühlen sich miteinander verbunden. Nur bei den Griechen heißt es: Menschen und Götter sind von gleichem Geschlecht.

Einmalig und unverwechselbar sind nur Monaden, die Leibniz als beseelte Atome erfunden hat, um sie den seelenlosen Atomen des Heiden Demokrit entgegenzustellen.

Der biblische Gott ist die größte Monade und so unvergleichlich, dass er weder Namen noch Foto rausrückt. Bilder von Ihm zu machen, ist strengstens verboten: Mach dir kein Bildnis noch Gleichnis “Ich bin, der ich bin“.

Unvergleichliche Wesen können keine Beziehungen zueinander haben, sie könnten ja Vergleichbares entdecken. Monaden sind so gottgleich, dass sie wie geschlossene Kugeln sind, die keinerlei Fenster nach außen besitzen. „Absolute Fensterlosigkeit schließt jede Bezugnahme auf eine andere Monade und Wechselwirkung mit ihr aus.“ (Leibniz, Monadologie)

Doch wie können studentische Monaden miteinander auskommen, obgleich sie sich ignorieren? Wie kann das Chaos verhindert werden, wenn man keinen Kontakt zueinander findet, kein Gespräch führt, kein Lächeln füreinander hat, kein Sehnen und Begehren für einander empfindet, sondern nur Abneigung, Angst und das Bedürfnis, den andern auszustechen?

Der gottgleiche Neoliberalismus hat vorgesorgt. Die Monaden funktionieren wie vollautomatische Uhren, die von oben aufeinander eingestellt sind und bei Bedarf nachjustiert und dem Betrieb angepasst werden. Dafür sorgen die penibel ausgedachten Lehrpläne der Universitätsleitung, die jedem Studenten auf die Minute sagen, was er zu tun und zu lassen hat.

Leibniz nannte diesen vorherbestimmten Automatismus prästabilierte Harmonie. Ein Chaos kann gar nicht entstehen, denn für Harmonie sorgt das eingebaute GPS-System, das von oben koordiniert wird. Jeder Student hat im Gymnasium dieses GPS-System in vielen Jahren verinnerlichen müssen.

Jede Monade ist wie eine kostbare Uhr, die glaubt, ihrer eigenen, unverwechselbaren Spur zu folgen, obgleich sie lückenlos vom Großen Uhrmacher gelenkt wird. Es hat den Anschein, als ob die Automaten miteinander wechselseitig in Verbindung stünden.

Der englische Liberalismus hat den ökonomischen Individualismus erfunden. Wenn jeder seinen Weg geht, ohne nach rechts und links zu gucken, wird die Unsichtbare Hand alles zum Besten fügen.

Die Deutschen haben den philosophischen Individualismus entwickelt. Jedes Individuum ist unvergleichlich und funktioniert wie eine vollautomatische Uhr. „Gott hat im Anfang bei der Erschaffung der Welt ein für allemal die Übereinstimmung der verschiedenen Welten festgelegt, sodass diese wie synchrone Uhren ablaufen.“ Man könnte es auf die Formel bringen: jeder Mensch hält sich für unvergleichlich und funktioniert doch wie ein Vollautomat.

Almut Steinecke im SPIEGEL über die Einsamkeit der Studenten.

 

Es gibt einen großen Unterschied zwischen angelsächsisch-amerikanischer und deutscher Einmaligkeit. Die amerikanische lässt sich quantitativ beziffern, woraus die Flut der Rankings resultiert. Jeder muss zeigen, was er kann und hat, dann wird er auf die Waage gelegt, gemessen und auf der Himmelsleiter von unten nach oben präzise eingeordnet.

Dieses Gesellschaftsmodell hatten wir bereits im Mittelalter, Gott hat alles streng hierarchisch erschaffen. Wohin er die Lebewesen eingliedert, dort sollen sie auch verharren. Luther hat daraus die Folgerung gezogen, jeder bleibe in seinem Stand, in den ihn Gott berufen hat. Das Ergebnis war protestantisches Arbeitsethos bei mangelndem Aufstiegswillen.

Bei den Neocalvinisten hingegen war nicht bekannt, in welchen Stand Gott den Einzelnen berufen hat. Zudem befand man sich in einem nagelneuen Kontinent, in dem die Plätze noch nicht besetzt und in ständigem Gerangel ermittelt werden mussten. Dazu dienten die unendlichen Tests und die quantitativ nachweisbaren Kontoauszüge.

Bei Luther war die Berufung Gottes identisch mit der Berufung durch traditionelle Obrigkeiten, an denen es nichts zu rütteln gab. Diese verfestigte uralte Gesellschaft fehlte in Amerika. Welcher Platz für wen auserkoren war, musste durch ökonomisches Muskelmessen erst ausbaldowert werden.

Nur in den erfolgreichsten ältesten weißen Gesellschaftsschichten, zu denen die Bush- und Kennedy-Clans gehören, hat die fluktuierende Unruhe ein Ende gefunden. In diesen Kreisen ist die hierarchische Ordnung kaum noch zu deformieren. Selbst spektakuläre Neureiche bleiben erstmal zwei Generationen vor der Tür, bevor sie ins Allerheiligste vorgelassen werden.

Solange die Ströme der Einwanderer nicht verebben, wird das Raufen um die besten Plätze im Rest der Gesellschaft nicht aufhören. Erst wenn die Grenzen vollständig dicht wären und Amerika ein geschlossener Verein, wäre das Land nach zwei bis drei Generationen eine versteinerte Gesellschaft nach dem Muster alteuropäischer Hierarchien.

Die amerikanische individuelle Unvergleichbarkeit muss sich ständig einer permanenten quantitativen Vergleichbarkeit unterziehen. Was der Mensch äußerlich zeigt, das ist er vor Gott. Das ist die neocalvinistische Identität von Schein und Sein im Gegensatz zum ursprünglich-altcalvinistischen Geheimnis, bei dem unklar bleiben muss, an welcher Stelle der göttlichen Beliebtheitsskala der Einzelne steht.

Im alten Europa fallen Schein und Sein auseinander. Bestand doch die preußische Tugend darin, mehr zu sein als zu scheinen. Die Kluft zwischen Schein und Sein beruht auf dem Auseinanderklaffen der menschlichen und der göttlichen Perspektive. Der Mensch sieht, was vor Augen ist – den Schein –, doch Gott sieht das Herz an, das Sein.

Das Sein ist das Wesen des Menschen, das im beruflichen und gesellschaftlichen Leben verborgen bleibt. Nur treueste Freunde erhaschen vielleicht einen kleinen Blick in das wahre Herz, die Meute bleibt blind für das verborgene Wesen des Individuum ineffabile, des unvergleichlichen Einzelnen.

Da nur Gott das wahre Wesen des Menschen erkennt, kann nur er das wahre Sein einschätzen. Der gesellschaftliche Schein – ob der Mensch Bettler oder König ist – bleibt irrelevant.

Das führt zur deutschen Mentalität, seine eigenen Qualitäten verborgen zu halten, denn Gott – oder die obrigkeitlichen Stellvertreter – kennt sie besser als die schnöde Öffentlichkeit. Er wird den Schein missachten und dem Sein seine Geltung verschaffen. Vielleicht nicht mehr auf dieser Welt, spätestens aber in der jenseitigen.

Der Deutsche will berufen werden, im Glauben, die von Gott eingesetzten Obrigkeiten werden seinen wahren Wert hinter dem trügerischen Schein erkennen und ihn an die rechte Stelle setzen. Beruf kommt für den lutherischen Untertan von Berufung.

Ganz anders im amerikanischen Kapitalismus, wo der Einzelne mit seinen Fähigkeiten ungehemmt paradieren muss, um sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Jeder Wettbewerber muss mit seiner Person lebenslang Eigenwerbung betreiben und den Schein erhöhen, denn Sein und Schein sind identisch. Jedes Ich muss sich auf allen Gebieten rund um die Uhr selbst vermarkten. Die Rankings sind Gottesurteile.

Letztendlich geschehen alle Einschätzungen und Vergleiche sub specie aeternitatis, unter dem Blickwinkel Gottes. Bis zum Einbruch des Neoliberalismus wäre diese propagandistische Selbst-Vermarktung bei uns undenkbar gewesen. Jeder legte Wert darauf, von den wahren Autoritäten entdeckt und berufen zu werden. Sich selbst anzupreisen wäre wie Prostitution gewesen. Lieber wollte man das Opfer des unerkannten Genies bringen als vor aller Augen in seiner Angeberrolle enttarnt und gedemütigt werden.

Eine der schlimmsten Lektionen für die Deutschen war das Umschalten von der passiv-demütigen Erwartungshaltung zur aktiv vorpreschenden Selbstanpreisung. Das Kaliber Dieter Bohlen ist die typisch deutsche Überbietung eines übernommenen Modells, mit dem man sein neu erworbenes Weltformat unter Beweis stellen kann.

Die Bewegung ist wieder rückläufig, seitdem die Demut aus dem lutherischen Keller geholt wurde – und zur neuen Propagandatugend der Tüchtigen aufgestiegen ist. Kein Wunder, dass schlagartig alle TV-Showlöwen von ihrem hohen Ross fallen.

Was ist die häufigste Antwort der VIPs, wenn sie nach ihrer größten Schwäche gefragt werden: Ich muss zugeben, dass ich ziemlich ungeduldig bin. Ungeduldig sein mit denkschwachen Mitmenschen lässt auf Arroganz schließen.

Wir nähern uns wieder der Strategie des Unterschätztwerdens: wer der Größte sein will unter euch, der sei euer aller Diener. Die Letzten werden die Ersten sein.

Die Amerikaner lehnen diese alteuropäischen Spielchen ab. Sie ähneln mehr der kindlich unverstellten Gradlinigkeit der Griechen: Immer der Erste zu sein und voranzustreben den andern.

Die amerikanische Unvergleichlichkeit neigt zur prahlenden Selbstüberschätzung, hat aber den Vorteil, auf heuchelnde Selbsterniedrigung und dialektische Verwirrspielchen verzichten zu können.

Die deutsche Unvergleichlichkeit schwankt zwischen hinterfotzigen Selbsterniedrigungs- und plärrenden Weltmeisterposen. Gesundes Selbstbewusstsein lässt auf sich warten.

Die Mutter aller Berufungen ist die religiöse. Warum bevorzugt Gott die Einen und verschmäht die anderen? Warum sind die Einen seine Lieblinge und die anderen können noch so gut sein, sie kriegen bei ihm keinen Fuß in die Tür?

Es geht in der ganzen Bibel nicht um Leistungsgerechtigkeit. Der Bessere kriegt keinen himmlischen Bonus. Es ist geradezu umgekehrt: je sündiger und unfähiger, umso gnädiger und liebender der himmlische Vater. Gott ist in den Schwachen mächtig, den reuigen Sünder hat Gott lieb. Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, aber die Kranken.

Alle Erfolgreichen kraft eigener Tüchtigkeit hasst der Herr. Er will benötigt werden, als Erlöser dem schwachen Menschen dienlich sein. Die Weisen, Reichen, Mächtigen, Bewunderten lehnt er alle ab. Er bevorzugt diejenigen, die nichts zu bieten haben, die alles von Ihm erwarten. Bei Gott zählt die Rangskala der Armen, Unweisen, Machtlosen, Kranken und Schwachen – die alle Hoffnungen auf Ihn werfen.

Wie viele Propheten lehnen ihre Berufung mit Verweis auf ihre Schwächen ab? Allein, es hilft nichts: sie müssen. Je fehlbarer sie sind, je heller strahlt das Licht des Herrn. „Und der Herr sah wohlgefällig auf Abel und sein Opfer, auf Kain aber und sein Opfer sah er nicht.“ Das Berufen- und Auserwähltwerden ist ein grausam ungerechter Willkürakt.

Den Kindern Israels sagt der Herr unverblümt ins Gesicht, dass sie das gelobte Land nicht um ihrer Vorzüge willen bekommen. Im Gegenteil: „Wisse, dass der Herr, dein Gott, dir nicht um deines Verdienstes willen dieses schöne Land zu eigen gibt; denn du bist ein halsstarrig Volk.“ ( Altes Testament > 5. Mose 9,5 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/5_mose/9/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/5_mose/9/“>5.Mos. 9,5 ff) „Ich preise dich, Vater, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und vor Unmündigen geoffenbart hast.“

Die Ehre des Herrn beruht auf der Unehre und Untüchtigkeit des Menschen. Ein Prinzip, das sich nicht selten in väterliche Erziehungsprinzipien eingeschlichen hat. Zuerst die Kinder scheitern lassen, um sie dann in glorioser Geste aus dem Sumpf zu ziehen. Die größten Helden der Literaturkritik sind die scheiternden.

Nietzsche nennt die christliche Welt die Umdrehung aller griechischen Werte. Im agonalen Athen erhielten nur die Besten den Lorbeerkranz. In einer Erlösungskultur gilt der als Größter, der am unfähigsten ist und sich am eindrucksvollsten in den Staub wirft.

Kann es jemanden wundern, dass die westlichen Länder einen Wettbewerb in politischer Inkompetenz durchführen? Gott loben und ehren, heißt, versagen und flehentlich um Hilfe rufen. Aus tiefer Not schrei ich zu dir, oh Herr, erhör mein Flehen. Die Erfolge der Menschheit müssen Scheinerfolge sein, die ihren Gesamtkollaps beschleunigen und verschärfen.

Einer der entlarvendsten Sätze Hayeks ist seine Aussage, dass er eine leistungsgerechte Welt nicht ertrüge. Wenn jeder erhielte, was ihm nach seinen Fähigkeiten zustünde, käme die grausame Ungerechtigkeit der Welt unverhüllt ans Licht. Niemand könnte seine Unfähigkeit mehr tarnen oder verschleiern.

So aber hat Gott den Kapitalismus erfunden, damit die Versager die Schuld ihres Scheiterns von sich wegschieben können. Nicht sie sind schuld an ihrem Scheitern, es ist das Böse, das den gütigen Schleier des Ungerechten über die ungerechten Verhältnisse legt.

Das Böse dient der Rettung Gottes. Wenn der Teufel an allem schuld ist, scheint die Existenz Gottes gesichert. Preisen wir die kapitalistische Schlechtigkeit der Welt, sie ist das optimale Zeugnis für einen gütigen Gott.

Die miserable Welt ist die beste aller möglichen Welten.