Kategorien
Tagesmail

Sonntag, 06. Mai 2012 – Vervollkommnung

Hello, Freunde Israels,

Uri Avnery vergleicht den Vorgang in Israel gar mit einem Putsch. Eine große Gruppe früherer und jetziger Armeegeneräle, Chefs der Geheimdienste, verurteilt die Drohung der Netanjahu-Regierung, einen Krieg gegen den Iran zu beginnen. Einige kritisieren zudem, dass die Friedensverhandlungen mit den Palästinensern auf Eis gelegt wurden.

Der Plan, den Iran anzugreifen, würde zu einer weltweiten Katastrophe führen, Israel würde momentan von zwei inkompetenten Politikern geführt, die keinen Kontakt zur Realität hätten und von messianischen Illusionen erfüllt wären.

Netanjahu würde auch die Friedensverhandlungen torpedieren. Kein Angriff werde verhindern, dass der Iran eine Atombombe baue, im Gegenteil, er werde die Bemühungen beschleunigen.

Netanjahus Vater ist gerade im Alter von 102 Jahren gestorben, ein Mann, der von seinem zweiten Sohn Bibi nie überzeugt war und ihn als Premierminister für ungeeignet hielt.

Der alte verbitterte Herr war Historiker mit dem Spezialgebiet für spanische Inquisition, „ein traumatisches Kapitel der jüdischen Geschichte, vergleichbar mit dem Holocaust“, wie Uri schreibt.

Vergleichbar mit dem Holocaust? Mit solchen Sätzen würde man Uri hierzulande aus jeder Partei werfen. Nicht mal die allseits meinungsoffenen Piraten, die sich ansonsten aus dem Thema Israel raushalten – es tut sich dort ja fast nichts –, würden ihn nehmen.

Vater Netanjahu hatte die Meinung vertreten, dass

die spanischen Juden von der Inquisition nicht verfolgt wurden, weil sie – offiziell zum Christentum übergetreten – ihren Glauben im Geheimen und unter Gefahren bewahrt hätten, sondern weil sie eben biologische Juden waren.

Das war ein Angriff gegen eine der wichtigsten jüdischen Mythen, dass Juden ihrem Glauben immer treu geblieben seien und dafür ihr Leben auf dem Scheiterhaufen geopfert hätten.

Der Mythos der drohenden Vernichtung prägte auch das Weltbild des jungen Bibi, dessen heutige Politik von der Obsession geprägt ist, einen zweiten Holocaust mit allen Mitteln zu verhindern. Das sei kein Trick von ihm, meint Uri: „er dürfte – ein erschreckender Gedanke – tatsächlich daran glauben.“

Einer seiner Kritiker hält Netanjahu für einen vom Holocaust besessenen Phantasten ohne Bezug zur Realität, keinem Nichtjuden trauend, eine gefährliche Person, um eine Nation durch eine wirkliche Krise zu führen.

Doch genau dieser Mann habe laut Meinungsumfragen die Chance, in vier Monaten die nächsten Wahlen zu gewinnen. Was lässt sich daraus für die Stimmung der israelischen Gesellschaft folgern? Diese Frage stellt Uri nicht.

Für Deutsche, die unentwegt von Versöhnung reden, sich über nichts Sorgen machen und wie die drei Affen nichts sehen, nichts hören und nichts sagen, sind das alles keine Themen, um ihren bigotten Schlaf der Feigheit zu beenden. Wer solche empathischen Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.

Piraten und alle anderen: bitte meinungs- und beteiligungslos weghören. Vor allem keine Gefühle zeigen, die den Versuch unternähmen, die Befindlichkeit unserer Opfer der dritten und vierten Generation zu verstehen. Es geht ja nur um das Schicksal einer besonders befreundeten Nation, an deren kollektiven Ängsten wir nicht ganz unschuldig sind.

Mit Moshe Zuckermann muss man fragen: was ist hier schlimmer, ein bornierter Antisemitismus oder ein brandgefährlich wegschauender Philosemitismus?

Da wir gerade bei Spanien waren: Hans Ulrich Gumbrecht, Literaturprofessor in Stanford, hat in der FAZ einen Essay über den spanischen Maler Goya und dessen Verhältnis zur Aufklärung geschrieben.

Er beginnt mit der provokativen Frage, die von französischen Aufklärern gestellt wurde, welchen Beitrag zum geistigen Leben der Menschheit eigentlich Spanien geleistet hätte? Die Frage war rhetorisch gemeint, denn die Antwort steht für die Fragenden von vorneherein fest: nichts.

In der Tat hat Spanien wenig Anteil an der europäischen Aufklärung. Im Land hatte sich kein dritter Stand, kein liberales Bürgertum entwickeln können, die im „öffentlichen“ Raum die brisanten Themen der Aufklärung hätten debattieren können. Gleichwohl habe es einen Spanier gegeben, meint Gumbrecht, der die Aufklärung zu einem „Punkt der Explosion“ gebracht habe. Es war der Maler Goya.

1799 hatte Goya eine Sammlung von „Einfällen“ (Caprichos) veröffentlicht, die er aus Angst vor der Inquisition sogleich wieder zurückzog. Capricho 43 ist die berühmteste Radierung der Reihe.

Auf dem Bild ist ein Mann zu sehen, der auf seinem Schreibtisch eingeschlafen ist, hinter ihm wacht eine Katze, über ihm erheben sich fledermausähnliche Gespenster. Auf der Vorderseite des Schreibtischs ist ein Spruch zu lesen, der zwei widersprüchliche Deutungen zulässt:

a) der Schlaf der Vernunft weckt Monstren,

b) der Traum von der Vernunft bringt Monstren hervor.

Entstehen Monstren, wenn die Vernunft schläft und nicht aufpasst? Oder werden sie von der Vernunft selbst produziert? Die zweite Deutung entspräche übrigens dem bekannten Buch von Adorno/Horkheimer über die Dialektik der Aufklärung.

Aufklärung, so die späteren Frankfurter – und geistigen Väter der 68er-Bewegung – sei in sich selbst totalitär. Es versteht sich von selbst, dass weder die 68er, noch ihre Mentoren, sich auf dieses Thema näher einließen.

Adorno plädierte in speziellen Themen durchaus für Aufklärung, wie sich das alles mit dem berühmten – und nie wirklich gelesenen – Buch reimte, blieb bis zum heutigen Tag ungeklärt.

Waren die 68er nun vehemente Aufklärer, waren sie gespalten? Wo beginnt, wo endet Aufklärung? Ist sie einmal so und einmal ganz anders? Einmal These, dann Antithese, dann Synthese ihrer selbst? Ist ein bisschen Aufklärung gut? Ein bisschen mehr „kippt“ schon ins Gegenteil? Noch ein bisschen mehr und alles versöhnt sich wieder?

Das Schöne an der Dialektik ist, dass man mit ihr alles beweisen kann und zugleich das Gegenteil.

Popper hasste die Hegel‘sche Dialektik und schrieb vernichtende Artikel über sie, woraus der Positivismusstreit zwischen ihm und Adorno entsprang.

Dahrendorf organisierte eine Tagung, auf der die Kontrahenten leibhaftig anwesend waren und die Hauptvorträge hielten – in denen sie sich pfleglich aus dem Wege gingen. Die Schüler der Großen, Albert auf der Seite Poppers und Habermas auf der Seite Adornos schlugen umso heftiger aufeinander sein, um die Lauheit ihrer Matadore zu kompensieren.

Doch das Ganze ging aus wie das Hornberger Schießen. Kein Linker aus dem Frankfurter Dunstkreis, kein Kritischer Rationalist aus dem Dunstkreis des Sir Charles Popper weiß heute, ob und in welchem Maß er Aufklärer ist oder sein will.

Das Thema Aufklärung ist nur noch in der Weise der gängigen SWR-Anmoderation vorhanden: Wir halten uns heute alle für sehr aufgeklärt, dabei gibt es immer noch Mord und Totschlag in der Gesellschaft. Kann uns der Glaube weiterhelfen?

Auch Gumbrecht kann nicht erklären, welche Deutung des Goya-Bildes Recht hat. Bringt Vernunft selbst das Monströse hervor – oder entsteht das Monströse, wenn sie vor Erschöpfung pennt oder aus Feigheit dem Kampf gegen die Unvernunft ausweicht?

Alles ist unentwirrbar ambivalent, alles Aufklärung und Gegenaufklärung in einem Akt, alles irgendwie überkomplex. Womit wir wieder bei Adorno/Horkheimer wären.

Was denn nun? Aufklärung vorantreiben, bis die ganze Gesellschaft aufgeklärt ist? Wie es Kant vorschwebte, als er sich fragte: “Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“

Sich in religiösen Dingen aufklären, daran fehle noch viel, so Kant. Allein dass die „Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen.“

Nun wissen wir wenigstens, warum das deutsche Feuilleton die Tonart: geht über unsern Verstand, bevorzugt, um alles im Ungefähren zu lassen. Denn die Herren – auch hier gibt’s keine leitenden Damen – haben alle noch in Frankfurt die Weisheit der Welt studiert oder zumindest bei Schülern der Frankfurter.

Wenn alles irgendwie ist, komplex natürlich, sodass kein Mensch durchblickt, dann lasset uns das Ränzlein schnüren und uns in erschütternder Eindeutigkeit vom Riff stürzen.

Was soll der ganze Aufwand an Gazetten-Vollschreiben, wenn dabei nichts rum kommt? Kann Aufklärung überhaupt noch liefern oder bietet sie jedem Ideologen von links bis rechts durchsichtige Vernunft-Maskeraden zum beliebigen Mummenschanz? Eine Gegenaufklärung wäre dann gar nicht mehr nötig, um Vernunft zu düpieren, die Vernunft würde sich selbst massakrieren.

Von hier die Lieblingsmetapher der Zeitbeobachter, alles sei grau in grau. Schwarz oder Weiß seien nur totalitäre Hirngespinste von Leuten, die die Welt nicht ertrügen, wie sie ist.

Und wie ist sie? Immer grau in grau bis ans Ende der Welt. Wäre das so, gäbe es keinen Fortschritt im Moralischen, wie die Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts noch behaupteten.

Bei ihnen waren technischer Fortschritt und moralischer identisch. Nicht anders als bei Adam Smith, bei dem ökonomischer und moralischer Fortschritt Hand in Hand gingen.

Von Condorcet stammt der Satz, dass „die Fähigkeit der Menschen zur Vervollkommnung tatsächlich unabsehbar ist; dass die Fortschritte dieser Fähigkeit zur Vervollkommnung, die inskünftig von keiner Macht, die sie aufhalten wollte, mehr abhängig sind, ihre Grenze allein im zeitlichen Bestand des Planeten haben, auf den uns die Natur hat angewiesen sein lassen.“ Solange die Erde uns erträgt, solange werden wir uns vervollkommnen.

Auch bei Kant kennt der Fortschritt kein Ende, es gibt keine prinzipiellen Gründe, warum der Mündigkeitsprozess des Menschen stoppen müsste. Wie sich grenzenloser Glaube an die Vernunft allerdings mit einem radikalen Bösen reimt, konnte er nicht klären.

Der Unterschied zwischen dem Franzosen und dem Deutschen ist keine Petitesse. Die spätere Hassliebe zwischen beiden Nationen hat hier ihren Grund. Die Franzosen geben sich unbegrenzt-kühn in ihrem Glauben an den Menschen und seine moralisch-kontinuierliche Verbesserung, bei den Deutschen ist der theologische Wurm drin mit ihrem Rückfall ins Teuflisch-Böse.

Während die Deutschen von den Franzosen von ihrem unbegrenzten Enthusiasmus angesteckt werden wollen, sich insgeheim aber ins vertraute Pastorenlager flüchten, für den Fall, dass der autonome Mensch auf die Schnauze fiele, wollen die Franzosen durch die Deutschen in ihrem Perfektionsdrang ernüchtert werden. Auch sie haben, bei aller Aufgeklärtheit, noch Angst vor ihrer gallisch-hitzigen Überheblichkeit.

Jeder will vom andern animiert, zugleich aber auf den Boden der Tatsachen geholt werden – ohne dass der andere von seinen Bedürfnissen und Schwächen erführe. Es ist wie bei jeder Paarbildung. Jeder sucht insgeheim einen stärkeren und offeneren Partner, ohne zuzugeben, dass er selbst furchtsam und menschheitsfeindlich sei.

Wie weit kann der Mensch es moralisch bringen? Niemand weiß es – außer den Gläubigen an die Erbsünde des Menschen. Auf Erden gibt’s kein Paradies und wenn doch, nur mit Hilfe eines Gottes. Das perfekte Ziel der Frommen liegt in der anderen, höheren Welt. Auf Erden haben wir keine bleibende Stadt, die zukünftige suchen wir.

Amerikaner allerdings sind davon überzeugt, dass die zukünftige Stadt schon in Gods own Country liegt.

Für demütige deutsche Christen gibt es aber keinen menschlichen Fortschritt. Der Mensch bleibt der Sündenkrüppel, der er ist. Selbst wenn er neu geboren ist, bedeutet das keine Sündenlosigkeit. Es bedeutet nur, dass Christus automatisch für die Sünden eintritt, die immer noch begangen werden. Sündige tapfer, aber glaube, lautet Luthers fröhlicher Spruch.

Wer keinem Gott der Geschichte im Schoss sitzt, kann keine Aussagen machen über die Perfektibilität des Menschen. Höchstens die folgende, die zur Grundlage jeder Politik werden müsste, die den Anspruch erhebt, eine humane zu sein:

Theoretisch wissen wir es nicht, aber praktisch können wir‘s rauskriegen. Das Wissen hängt von unserem Tun ab. Solange es keinen unwiderruflichen Beweis gibt, dass moralisches Lernen gescheitert ist, so lange gibt es kein theoretisches Wissen über die Vervollkommnungsfähigkeit der Gattung. Wir wissen nur, was wir zustande bringen. Wozu wir fähig sind, können wir nur durch die Tat beweisen.

Während unsere praktisch-technischen Fähigkeiten davon abhängen, was wir theoretisch wissen, hängt die Theorie unserer Moralkompetenz von unserer Praxis ab. Das Gerede von einer grundsätzlich utopischen Inkompetenz ist demnach unbegründbar und fahrlässig. (Popper leider nicht ausgenommen.)

Es ist fantastisch, dem Menschen zuzutrauen, den Mars zu besiedeln, doch seine moralische Ausstattung auf dem Niveau der Neandertaler festzuhalten. (Verzeihung, Neandertaler, wenn ich euch verkannt haben sollte.)

Zur Großspurigkeit technisch-unendlicher Perfektibilität stünde die zu ewiger Stagnation verurteilte Moral in jämmerlichem Kontrast. Technisch und ökonomisch ein Gott, ethisch ein Krüppel: so sieht die heutige Sicht vom Menschen aus.

Fehlt nur noch, dass Gehirnforscher feststellen, 99% des teigartigen Gebildes unter der Schädeldecke sei von technischem Machtwissen geprägt, der beeindruckende Rest von Freiheit in Verantwortung.

Also, wir haben zweierlei Aufklärungen mit zweierlei Auskünften über die moralischen Lernfähigkeiten des Menschen.

Die französische war unbegrenzt optimistisch, konnte aber später den Optimismus nicht festhalten und ruderte – vor allem in Adelskreisen – zurück in den Schoss der Kirche.

Die deutsche war von Anfang an gebrochen und – geriet in die Hände Hegels. Jetzt wird‘s interessant.

Hegel lehnt Kants Aufklärung ab. Vom kategorischen Imperativ und sonstigen moralischen Aufgeblasenheiten hielt er als Lutheraner nichts. Als Grieche aber hielt er dennoch an der Vernunft fest. Schließt sich das nicht aus?

Das schließt sich nur aus, wenn man am Dualismus der traditionellen Theologie festhält. Oben der perfekte Gott, unter das im Sündenstaube sich wälzende menschliche Würmlein.

Hegel wollte aber alle Dualismen – also Widersprüche, die sich ausschließen –, miteinander versöhnen. Gott und Mensch mussten eins werden. Nämlich am Ende der dialektischen Geschichte, die alle Widersprüche und Konflikte zur absoluten Befriedigung aller Seiten durchgearbeitet und beseitigt hätte.

Es gab also sehr wohl Fortschritt auf allen Ebenen, der aber vom Weltgeist vorangetrieben wurde, nicht vom Menschen, der den Weltgeist noch nicht verinnerlicht hatte. Erst am Ende der Vervollkommnungsspirale werden Weltgeist und Mensch identisch sein.

Marx hat diese Spirale vollständig übernommen, mit einer kleinen, unwesentlichen Veränderung. Subjekt der fortschrittlichen Perfektion war bei ihm nicht der Geist, sondern die Materie. Also nichts Übernatürliches, sondern die Natur selbst arbeitet unermüdlich an sich – unter anderem mit Hilfe des ausbeuterischen Kapitalismus –, um sich am Ende ins perfekte Reich der Freiheit zu verwandeln.

Weder bei Hegel noch bei Marx war der gegenwärtige Mensch fähig, den Zug der Perfektion voranzubringen. Bei Marx musste die Geschichte – als Motor der natürlichen Entwicklung – dem Menschen entgegenkommen. Bei Hegel ebenfalls die Geschichte, allerdings als Motor einer geistgelenkten Entwicklung.

Geschichte ist nicht gleich Geschichte, es hängt davon ab, welcher Lokführer sie vorwärts bringt: der Geist (= Gott) oder die Materie (= Natur). Letztlich ist es unerheblich, ob Mama Natur oder Papa Geist das Familienvehikel steuert. Erst wenn sich beide versöhnt haben, wird der Mensch (= das Kind) perfekt, frei und gut. Sei es im preußischen Berlin, sei es im Reich der Freiheit.

Hegel und Marx halten also an der Vervollkommnung des Menschen fest. Doch im Unterschied zu Kant mussten Mama und Papa noch eine Weile das Regiment über das unmündige Kind übernehmen, das erst ans Steuer darf – wenn die ganze Kohorte am Ziel der Vollendung angekommen ist. Wenn das Gefährt der Geschichte in die utopische Garage einfährt und nicht mehr gebraucht wird, dürfen die Kinder endlich ans Steuer, wo es nichts mehr zu lenken und zu steuern gibt.

Es gibt Fortschritt auf allen Ebenen der Technik und Moral, doch der Verdienst der glücklich endenden Reise durch die Weltgeschichte gebührt bei Hegel dem Geist (= Papa), bei Marx der Materie, die sich schon sprachlich von Mater ableitet.

Die Aufklärer – zumindest die französischen – haben am Glauben festgehalten, dass der heutige Mensch fähig ist, in jeder Hinsicht perfekt zu werden. Hegel und Marx revidieren diesen Glauben, halten aber am Ziel der Perfektion fest, welches den unmündigen Kindern am Ende der Geschichte beschert wird.

Die unmündigen Menschen erhalten alle Früchte der verwickelten, aber nie gefährdeten Entwicklung, zum Gesamterfolg aber haben sie wenig bis nichts beigetragen.

Man könnte sagen, Hegel hat den unaufgelösten Widerspruch Kants zwischen Fortschrittsoptimismus und radikalem Bösen auf den Begriff gebracht und sein System daraus entwickelt. Ja, der Mensch schafft es nicht allein; doch, er wird das Ziel seiner Träume erreichen.

Die jetzige Mündigkeit des Menschen musste eliminiert und der Obhut traditioneller übermenschlicher Autoritäten übergeben werden, die solange stellvertretend für ihn wirken sollten, bis er es selber gelernt hatte. Doch wann?

Mündig wird der Mensch erst dann, wenn er es gar nicht mehr beweisen kann. Erziehungsberater würden von zwanghafter Überfürsorglichkeit sprechen, eine typisch deutsche Untugend.

Hegel und Marx sind eine Kompromissbildung aus Aufklärung und Religion. An dieser Stelle können wir auch das Rätsel von der Dialektik der Aufklärung lösen. Ist sie nun ein Glauben an die Vernunft oder ein Glauben an die Unvernunft? Sie ist derselbe faule Kompromiss wie der zwischen Religion und Aufklärung.

Adornos negative Dialektik war eine resignierte Absage an Hegels positiv ausgehender Dialektik. Nach dem Holocaust war es den Frankfurtern nicht mehr möglich, an ein gutes Ende der Geschichte zu glauben. Weshalb der ungarische Sozialist Lukács die Frankfurter Philosophie „Grandhotel Abgrund“ nannte.

Doch ganz ohne Hoffnung bleibt auch Adorno nicht, wenn er schreibt: „Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik, dass sie sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung.“

Hegel hätte nie von Hoffnung gesprochen, er wusste, wie die Geschichte ausgehen wird. Bloch sprach von wissender Hoffnung (docta spes), eine Kompromissbildung aus Glauben und Wissen.

Doch Adornos versteckte Hoffnung verbreitete sich nicht unter den Studenten, die ihre Blütenträume von einer allesentscheidenden Revolution bald aufgaben, spätestens mit dem Mauerfall endgültig begruben.

Heute herrscht unterhalb einer aufgesetzten ökonomischen Prahlerei eine melancholische, ja schwarzsehende Missstimmung.

Hegel wollte griechische Vernunft und christliche Vernunftaversion mit all seiner schwäbischen Tüftelkunst, Schläue und List vereinigen.

Der christliche Gott und die Seinen hassten die Weltweisheit und wollten sie vernichten: „Sehet zu, ob euch etwa jemand des Glaubens berauben will durch die Philosophie und leere Täuschung, gestützt auf die Überlieferung der Menschen, nämlich auf die Naturmächte der Welt und nicht auf Christus!“ ( Neues Testament > Kolosser 2,8 / http://www.way2god.org/de/bibel/kolosser/2/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/kolosser/2/“>Kol. 2,8)

Dem konnte der griechenbegeisterte Hegel niemals zustimmen. Andererseits konnte er den griechischen Glauben an die moralische Autonomie des jetzigen Menschen auch nicht teilen. Also benutzte er die göttliche Vorsehungskraft, um den Menschen zum Gottmenschen zu ernennen – aber erst am Ende der Geschichte.

Marx erkannte, dass der Hegel‘sche Gottmensch noch viel Dreck am Stecken haben musste, solange es derart viel Ungerechtigkeit auf Erden gab. Also verschob er seinen „Gottmenschen“, genauer, seine Symbiose aus Mater und Mensch, ans Ende der geschichtlichen Evolution.

Die Nazis wiederum bemerkten, dass selbst der perfekte deutsche Mensch bedroht war, solange es böse Mächte auf der Welt gab, die ihm kurz vor dem Endsieg die Siegespalme aus den Händen reißen wollten.

Wer das perfekt Gute für erreichbar hält, muss alles Böse unbarmherzig ausrotten.

Gibt es keine Möglichkeit, das Böse moralisch durch das Gute zu überwinden? Also ohne zum Schlachtmesser zu greifen und es mit totalitären Methoden zu vernichten?

Warum sollte das nicht möglich sein, wenn der Mensch lernt, die Entstehungsbedingungen des Bösen zu begreifen, ihm durch humane Lebensverhältnisse für alle Menschen das Wasser abzugraben?

Hier schließt sich der Kreis. Wer will behaupten, dazu sei der Mensch für alle Zeiten nicht fähig? Vortreten und beweisen!

Solange der Beweis aussteht – und theoretisch kann er nie geführt werden –, solange gilt der Satz: wozu der Mensch fähig ist, liegt allein in seiner Hand. Durch Politik und Kultur kann er beweisen, was in ihm steckt.

Werde, der du bist – durch die Tat.

Somit ist das standardisierte Grau-in-Grau vom Tisch. Wer das Schwarze mit Feuer und Schwert vertilgen will, wird ein totalitäres Grauen erreichen.

Wer aber der Menschheit zutraut, durch Versuch und Irrtum zu lernen, hat die Tür zum humanen Fortschritt sperrangelweit geöffnet.