Kategorien
Tagesmail

Sonntag, 05. Februar 2012 – Eros gegen Agape

Hello, Freunde der Kinder,

Landerziehungsbewegung – ist das kein anheimelnder Begriff? Weit weg von der dämonischen Großstadt, mit Gärten am Bach, Waldwegen und Wanderungen durch Feld und Busch, Lernen zwischen Bienen und selbstbetreuten Blumen- und Gemüsebeeten?

Welcher Satz kommt jetzt, wenn die Idylle eröffnen darf? Genau: die ländliche Idylle trügt, der Wurm ist im Apfel. Verfremdung nennt Brecht die Methode, mit dem Heilen zu beginnen, um dem Schreckenerregenden das zweite Wort zu geben, in Deutschland meistens das letzte. Bei Brecht weniger, der glaubte an die letztgültige Idylle im kommunistischen Reich der Freiheit, wenngleich die DDR nichts unterließ, um seinen Glauben ziemlich zu strapazieren.

Doch der Dreiertakt aus anfänglichem Gut, zwischenzeitlichem Schlecht bis Böse und finalem Super war die Grundmelodie der Germanen nur in jenen Zeiten, als sie noch im Schoße des Evangeliums saßen. Denn das ist der dreieinige Basso continuo der Heiligen Schrift: Paradies, Schlange und Verderben, Sohn und endgültige Rettung.

Kaum kam den Deutschen der Glaube ein wenig abhanden, wurde das zwischenzeitliche Böse zum letzten Wort der Geschichte und sie landeten im düsteren Reich der Untergangspropheten, das in der Spätromantik mit gruseligen Geschichten eines E.T.A. Hoffmann begann, über Schopenhauers Fluch auf die Welt als

blindwütendem Willen und Vorstellung – vermutlich meinte er Verstellung, mit Schönheit und Lust lockt uns das Leben, diese verführerische Hure, bis sie uns hinterrücks den Stachel des Verderbens ins Fleisch rammt – bis zum Untergang des Abendlands eines Privatgelehrten namens Oswald Spengler ging.

Von dieser Reihenfolge profitierte auch die Sonatenform in der Musik, die sich zur großen Sinfonie hochdiente. Schnell, langsam, tanzartig im Dreivierteltakt, schnell. Das sind oberflächliche Bezeichnungen cooler Musikwissenschaftler, die seit Kriegsende kein Schicksalspochen in Beethovens Sinfonien mehr vernehmen wollten. Was nichts daran ändert, dass nach spannungssteigernden, melancholischen und verzweifelten Dissonanzen der erlösende, nicht enden wollende Schlussakkord alle Kakophonie zum Teufel jagt.

Jagt er nicht oder nicht zuverlässig just in time, sind wir bei Wagner in Bayreuth, der die auserwählten Gäste auf harten Sesseln stunden-, ja tagelang mit Zweifeln quält, ob das Happy End wirklich das End vom Lied sein wird. Gewiss doch wird es das, sagte und beruhigte ein treuer Besucher des Grünen Hügels die verschreckten Schäfchen, der schon als Jugendlicher den Volkshelden Rienzi über alles bewunderte: wenn ihr nur niederkniet und mich anbetet, werde ich allen Pessimismus eurer kleingläubigen Herzen vertreiben, die Bösen vertilgen und euch einen tausendjährigen rauschenden Schlussakkord bescheren.

Das glaubten die Deutschen, weil sie im Religions- und Musikunterricht an Cantaten und Sonaten glauben gelernt hatten. (Gestern sagte ein weltbedeutender Trompeter bei der Verleihung der Goldenen Kamera, Musik sei die einzige menschenverbindende Sprache der Welt und tatsächlich sang das preisverdächtige bestgelaunte Publikum – nur Denzel Washington schaute grimmig – die Songs der geehrten Popsängerin mit. Seltsam nur, dass das Volk der Täter noch heute als Land der Musik gilt und die Schergen in KZs sich von den Opfern Mozart vorspielen ließen. Soviel zur musikalischen Abteilung der Vergangenheitsbewältigung)

Obgleich die Sonate selbst nur Opfer war, wurden die Nachkriegskomponisten ganz böse auf sie und machten sie für alles Elend der Deutschen haftbar. Seither beginnen sie nicht mehr mit trügerischen Idyllen, die im Chaos enden, sondern beginnen und enden im Chaos. Das ist der Grund für das ohrenbetäubende Lärmen moderner Musik, die auch keine Garantie übernehmen will, ob sie mit ihren herzlich gut gemeinten, aber oft höllisch klingenden, paradoxen Interventionen das Gute herbeizaubern kann. Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so unmusikalisch wie zuvor.

Wie wär’s also, den schon ziemlich ins verhärtete Alter gekommenen Grundrhythmus Unschuldig-Teuflisch-Hosianna in verdiente Rente zu schicken, bereits anders zu beginnen und ganz anders zu enden? Nämlich Gut, Besser, am Besten? Ha, schleich dich, das klingt ja noch lächerlicher. Kein Getümmel, Athener, abwarten und Tee trinken.

Seit dem Odenwaldskandal sind die Landerziehungsheime in Verruf geraten. Das lag daran, dass Theologen, die keine Lust mehr aufs Predigen hatten, sich zu charismatischen Erziehern entwickelt, sich die sogenannte Reformpädagogik unter den Nagel gerissen hatten und den platonischen Eros – der nur für Menschen gilt, die Ja, vor allem Nein sagen können – als Lizenz zum scheinparadiesischen Selbstergötzen missbrauchten.

Unter dem Siegel grenzenloser Freiheit wurden die jungen, oft schwer erziehbaren Sprösslinge reicher Eltern schon beim Willkommen mit der frohen Botschaft überrascht: hier ist alles erlaubt.

Aha, Paradies, Idylle. Sonatenmäßig instruiert, wissen wir, wie’s weitergeht: Idylle, trügerische Idylle, die sich zäh durch die Zeiten zieht, weil keine ZEIT unter der adligen Dönhoff deren adligen Spezi aus Ostpreußen, Hartmut von Hentig, in die Pfanne hauen wollte, noch weniger einen adligen Richard von Weizsäcker, der lange Zeit Vorsitzender des Elternbeirats war.

Die trügerische Idylle wird für viele verführte Kinder zum täglichen Grauen. Schließlich das Ende mit Schrecken, Aufschrei in allen bigotten Blättern von SPIEGEL bis ZEIT (nur die Frankfurter Rundschau und die TAZ bilden eine Ausnahme), Aufarbeiten des Schreckens mit Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer und rückhaltlosem Aufarbeiten der Elitepädagogik – oder etwa nicht?

Denkste, wie bei den kinderschändenden Priestern: viel Deklamatorik und wenig Taten. Reformpädagogen und geistliche Herren wissen, wie man eine Sache aussitzen kann, bis kein Hahn mehr danach kräht.

Organisatorisch schliddern die momentanen Landschulheime in die Krise, doch gedankenmäßig tut sich wenig. Naive Reformidealisten stehen noch immer unter Schockstarre, andere – wie das oberelitäre Salem – stehlen sich davon.

Bernhard Bueb, einst Hartmut von Hentigs Assistent, hatte rechtzeitig den Braten gerochen, das Odenwälder Boot verlassen und mimt den disziplinierten und distanzierten Beobachter.

Jürgen Oelkers, Pädagogik-Professor in Zürich, hat über die Affäre das Buch geschrieben: „Eros und Herrschaft – die dunklen Seiten der Reformpädagogik.“ Es ist ein gediegenes Buch. Man kann sich nur wundern, was man schon alles über die dunklen Seiten hätte wissen können, wenn man es denn hätte wissen wollen.

Hermann Lietz, einer der Gründerväter, war „antisemitischer Chauvinist“, also normaler Deutscher der Deutschen Bewegung. Fast überflüssig, diese Tatsache zu erwähnen: nur wenige Außenseiter, die damals nicht zu dieser sympathischen Graeco-Germanentruppe gehörten. Gustav Wyneken stand wegen Pädophilie sogar vor Gericht.

In der Wandervogelbewegung, in Hans Blühers historischen Beschreibungen derselben, in exquisiten Zirkeln des „Geheimen Deutschland“ – einer Elitebewegung einflussreicher Intellektueller unter dem Einfluss von Stefan George – war die Verbindung von Geist und Eros programmatisch.

Was sinnsuchende Heranwachsende im lutherischen Konfirmandenunterricht als striktes Lustverbot erlebten, versuchten sie in platonischer Leidenschaft nachzuholen. Ohne jedoch politisch-generell in der Gesellschaft für freie Sinnlichkeit zu werben und zu kämpfen.

Man wollte Privilegien für eine kleine auserwählte Schicht, die eine freie Sexualmoral allein für sich reklamierte, eine Schicht, die sich in Geist und Gestus vom Pöbel distanzierte und die Geschicke eines neuen Deutschlands aus dem Hintergrund zu lenken versuchte.

Nietzsches Übermenschen wollten jenseits von Gut und Böse, rechtwinklig an Leib und Seele, frei von Spießermoral, in dünner Höhenluft agieren. Wer in einen Zirkel aufgenommen werden wollte, musste körperlich ansehnlich und hochgebildet sein, standesmäßig rezitieren, sich genial und unbanausisch durchs Leben schlagen können.

Viele Eleven wurden zu „Edelnazis“, die zwar Schwierigkeiten hatten mit brutalen SA-Schlägern, dennoch meinten, sich vom national-kathartischen Auftrag nicht separieren zu dürfen. Claus von Stauffenberg, anfänglicher Bewunderer des Naziregimes und späterer Widerständler, gehörte mit seinem Bruder zum innersten George-Zirkel. George selbst hielt zwar Abstand zu den Nazigrößen, emigrierte sogar in die Schweiz, von einer fulminanten Kritik an Hitler von seiner Seite aber war kein Wort zu hören. Gedanklich rollten seine messianischen Gedichte dem Dritten Reich den roten Teppich aus.

Die Hauptinitiatoren der Freien-Schulbewegung in der Nachkriegszeit gehörten in zweiter oder dritter Generation dem Geheimen Deutschland an oder fühlten sich dessen exklusivem Lebensgefühl verpflichtet. In welchem Maß die Gründerväter der freien Schulen von Peter-Petersen bis Wyneken antisemitisch, undemokratisch und charismatisch-führerfixiert waren – jeder authentische Pädagoge ein genuiner Führer seiner kleinen Landschul-Polis , das blieb den Nachgeborenen fürs erste verborgen.

Auch ein Beitrag zur pädagogischen Vergangenheitsbewältigung. Niemand hätte das folgende Zitat dem ach so freien Gustav Wyneken zugetraut: „Erziehung ist und bleibt nun einmal Vergewaltigung der Natur“. („Schule und Jugendkultur“, Jena 1913)

Oelkers Buch bringt viel Biographisches, auf prinzipielle philosophsiche Fragen aber geht er leider nicht ein. Der Tatsache, dass Heranwachsende sexuelle Wesen sind, schaut er nicht recht ins Auge. Er scheint der Devise zu folgen, Anstand und übliche Bürgersitten gehörten sich wohl von selbst, auch wenn Eros darunter leiden sollte.

Vollständig richtig ist seine Hauptthese, dass im schulischen Bereich, der ein Herrschaftsraum ist, sinnliche Abhängigkeit unvermeidlich zu Erpressung, Nötigung und Gewalt führen muss. Lehrer sind – auch in noch so freien Internaten – Agenten schicksalsbestimmender Erfolgs- und Karrierezuteilungen. Kaum ein Kind wird sich den Verführungen einer Autorität entziehen können, in deren Händen seine Zukunft liegt.

Was haben solche Machtgefälle mit freiem Eros zu tun? Was hat Platon, der konsequent, frei und scharf denkende Heide, mit christlich-staatlichen Drillanstalten zu tun, in denen weder Schüler noch Lehrer in freier Vereinbarung und spontaner Initiative lernen und lehren können, was sie für richtig halten? Sollte Eros Einzug halten in Schulen, müssten diese sich aller Reglementierung entziehen und eine anarchische Heimstatt für Lernende und Lehrende entwickeln. (Anarchie ist Abwesenheit von äußerlichem Gesetzeszwang: autonome Menschen tun das Angemessene durch eigene Einsicht, in freier Absprache mit anderen Autonomen.)

Heute kann niemand den Zusammenhang von Eros und Lernen verstehen. Wer an seine Pauker denkt, fällt weniger in love denn in Ärger, Depression und Hass.

Lernen selbst wird nur von Erstklässlern als Freude empfunden, je länger die Eleven die Schulbank drücken, je mehr verwandelt sich der anfängliche Eros in sein christliches Gegenteil: „Habet nicht lieb die Welt und deren Weisheit. Wenn jemand die Welt lieb hat und alles, was in der Welt ist, ist die Liebe zum Vater nicht in ihm“.

Mit anderen Worten, die Kinder in der Schule müssen den Urkonflikt der Kirchenväter zwischen griechischem Wissenwollen und christlichem Nichtwissendürfen stets von vorne und bewusstseinslos ausagieren. (Siehe H.I. Marrou: „Geschichte der Erziehung im klassischen ASltertum“)

Als junge Humanisten in der Frührenaissance Griechisch lernten, um die unbekannten Schriften von Platon und Aristoteles zu entziffern, kippten sie abends übermüdet vom Hocker, weil sie nicht aufhören konnten. Wer jemals etwas mit Leidenschaft betrieb, war vom Eros besessen, ob er’s weiß oder nicht.

Dass Einsicht und Leidenschaft sich nicht nur auf Sachen beziehen, sondern auch auf jene, die sich denselben Leidenschaften ergeben, weiß jedes Forscher- oder Künstlerpaar, das sich bei gemeinsamem Tun lieben lernte. Wenn ein wahrhaft Lernender, identisch mit einem Philosophierenden, „auf eine schöne, edle und wohlbeanlagte Seele stößt, da ist er außer sich vor Entzücken über die Verbindung von beidem …“ (Platon: „Gastmahl“, 209 St.)

Hat Platon Recht mit seiner Beobachtung vom ganzheitlichen, hochemotionalen und sozialen Lernen – oder leidet er unter Phantasmagorien?

Gerade, weil Platon nichts erfunden, sondern alles nur gefunden hat – wozu alle Menschen fähig wären, wenn sie es denn tabufrei erleben dürften –, gerade deshalb muss alles Erotische in bürgerlichen Paukanstalten wie die Pest unterdrückt werden. Denn jede Möglichkeit, solche Urgewalten zu erleben, wäre ein Attentat gegen die staatlich-christlichen Schulen. In unsrer Über-Ich-Kultur müssen unbehindertes Erkennen und Fühlen an der Kette bleiben. Denken muss als abstrakt und gefühllos, ja, als lustlose Selbstbeschädigung verworfen werden, um die Gefahr des Gegenteils kategorisch zu unterbinden.

Doch es gibt ja noch die Urschule aller Freien Schulen: Neills Summerhill. Das scheint noch immer das Beste zu sein, was Englands in Resten vorhandene urliberale Bertrand-Russell-Tradition zu bieten hat. Klar, der Eros wird dort auch nicht losgelassen, aber am wenigstens geschunden.

Von Anfang an hatte Neill sich gegen die deutsche Übersetzung seiner Erziehung in anti-autoritäre Erziehung gewehrt. Alles anti ist trotzige Reaktion, die Ja tut, wenn sie Nein hört und Nein, wenn sie Ja hört. Aber noch keine selbstdurchdachte und eigenbestimmte souveräne Position.

Vergeblich, in Deutschland wurden die Weichen von Anbeginn an falsch gestellt. Noch immer gilt die Dominanz von oben oder unten, entweder werden die Kinder zu unerträglichen Blagen oder die Erwachsenen zu hartleibigen Befehlsgebern. Heute haben jene Hochkonjunktur, die Kindern nach Belieben Grenzen setzen wollen. Von Freiheit ist nicht mehr die Rede.

Freie Erziehung ist Gleichberechtigung aller im Familien- oder Schulverbund. Weder dürfen Erwachsene die Kinder, noch Kinder die Erwachsenen drangsalieren.

Das haben die ersten Befürworter der Neill-Methode in typisch deutscher Weise missverstanden und zur Tyrannei der Kinder deformiert, als ob sie ihnen damit einen Gefallen getan hätten.

In jenem legendären NDR-Film über antiautoritäre Erziehung, der unter 68ern soviel Furore machte, sah man Kinder in Parallelgesellschaft auf Klavieren herumtanzen. Für Erwachsene nicht mehr zu sprechen. Ein Schreckbild für die einen, eine stellvertretende Revolution auf Kosten der Kinder für die anderen.

Und wie geht Zoe, Neills Tochter, mit ADHS-Schülern um? Solche Pseudodiagnosen werden gar nicht beachtet. Die unselige deutsche Neigung, Fehlverhalten und Konflikte in die Medizin auszulagern, damit Eltern und Lehrer sich nicht schuldig fühlen müssen, hat im nüchternen Summerhill keine Chance, so wenig wie überkandidelte neue Lehrmethoden. „Es kommen immer mal wieder neue Lehrer mit modernen Ansätzen zu uns. Meistens sagen die Schüler selber: Bitte, lass den ganzen Schnickschnack, unterrichte uns einfach.“

Diesen unaufgeregten, maßvollen, von nüchterner Kinderliebe beseelten pädagogischen Geist sucht man bislang in germanischen Wäldern vergebens. Cameron ist nicht England, Europa braucht ein England vom Geiste Summerhills. Das SZ-Interview von Simone Kosog verdient ein Triple A.

Gut, Besser, am Besten ist sokratisches Lernen, das ohne das angeborene Böse auskommt. Gutes muss sich in freudigem Leben konkretisieren und bewähren. Lernen ist die Fähigkeit, keine Angst vor Fehlern zu haben und sie in Versuch und Irrtum zu überwinden. Auf trügerische Idyllen kann es genau so verzichten wie auf priesterliches Lustverbot und Paradiesangst. Wer an den Menschen glaubt, ist für alle Schauermärchen des Bösen verloren.