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Sonntag, 04. November 2012 – Reformation

Hello, Freunde der Demut,

Felix Baumgartner, der sein Leben aufs Spiel setzte, als er vom Orbit auf die Erde sprang, will den Kindern ein Vorbild sein und sie ermuntern, öfter in die Natur zu gehen. Kind, lies nicht so viele Bücher, geh raus in den Orbit, damit du deinen Hochmut verlierst. Vergiss aber nicht deinen naturidentischen Raumanzug und die millionenteure Naturausrüstung.

Wenn der schwedische Astronaut Christer Fuglesang aus 350 Kilometer Höhe auf die Erde schaut, ist er ganz überwältigt und demütig.

Demut ist, was unsere Kinder bitter nötig hätten, damit sie das Herr-Knecht-Verhältnis wieder lernen. Demut wäre die wahre Therapie für die sinkende Jugendkrimalitätsquote. Denn nur, wer sich gedemütigt fühlt, schlägt zwanghaft zu, die Straftaten steigen und es gibt keinen Widerstand mehr in der Gesellschaft gegen härtere Gesetze – zur Demütigung der Jugendlichen.

Als die Urzeit-Menschen sich noch keine Weltraumflüge leisten konnten, musste Gott selbst die Demutsarbeit bei seinen Kreaturen leisten. Gott demütigte Menschen, damit sie zu Ihm zurückkriechen.

Er führte die Kinder Israel 40 Jahre lang durch die Wüste. „Und du sollst gedenken des ganzen Weges, den dich der Herr, dein Gott, nun 40 Jahre lang geführt hat in der Wüste, um dich zu demütigen und zu erproben, auf dass er erkenne, wie du gesinnt seist, ob du seine Gebote halten werdest oder nicht. Er demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich dann mit Manna.“

Gott hat den Persönlichkeitstest erfunden, um herauszufinden, wer zu seinen Erwählten gehört und wer verworfen werden muss. Offensichtlich vermochte

der Herr in jenen Frühzeiten den Menschen noch nicht ins Herz zu schauen. Also erfand er die Testpsychologie und unterzog die Kinder Israel einer 40-jährigen Prüfung, in der das Volk aber gleichzeitig auch Ihn testen, erkennen und rühmen sollte:

„Schon vierzig Jahre nun sind deine Kleider an dir nicht zerfallen und deine Füße wurden nicht geschwollen. So erkenne denn in deinem Herzen, dass dich der Herr, dein Gott in Zucht nimmt, wie einer seinen Sohn in Zucht nimmt.“ Wie Gott den Menschen testen will, so der Mensch den Gott.

Im Grunde ist die ganze Heilsgeschichte ein einziger Testlauf, in dem der Herr die Seinen mit Seligkeit belohnen, die Unwürdigen verwerfen und bestrafen will. Wenn der Mensch Gottes Tugenden befolgt, wird er mit irdischem Reichtum belohnt, der, als die Zeiten sich verschlimmerten und irdischer Reichtum nicht mehr möglich war, sich in himmlischen Reichtum verwandelte. Die Erfindung des Himmels war nötig geworden, als die Erde keine Garantie mehr zum Reichwerden bot.

Doch Vorsicht beim Reichwerden. Man kann leicht hochmütig werden, weil man die Fähigkeit des Reichwerdens sich zuschreiben will. „Hüte dich alsdann, wenn deine Rinder und Schafe sich vermehren und Silber und Gold sich dir häuft und alles, was du hast, sich mehrt, dass nicht dein Herz sich überhebe und du des Herrn, deines Gottes vergisst … und du bei dir sprichst: Meine Kraft und die Stärke meiner Hand hat mir diesen Reichtum erworben. Gedenke vielmehr des Herrn, deines Gottes, denn er ists, der dir Kraft gibt, Reichtum zu erwerben.“

Wie werde ich reich? Indem ich hart arbeite, aber demütig allen Erfolg Gott zuschreibe. Leistung muss sich wieder lohnen? Maloche muss zwar sein, doch nicht sie bringt Erfolg, sondern die demütige Haltung, die alles dem Gott verdankt.

Hochmut nennt Paulus Geblähtsein. Niemand solle sich seiner Taten rühmen, denn das blähe auf. Denn wessen soll man sich rühmen, da man doch alle Talente von Gott erhalten hat? „Was aber hast du, was du nicht empfangen hast? Hast du es aber empfangen, was rühmst du dich, als ob du es nicht empfangen hättest?“

Gott verleiht Begabungen und Talente sehr unterschiedlich. Die Gemeinde ist ein Leib mit vielen Gliedern. Der Fuss ist nicht die Hand, das Ohr nicht das Auge. Alle Glieder unterscheiden sich durch unterschiedliche Fähigkeiten. „Denn wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör?“

Alle Organe mit unterschiedlichen Funktionen sind notwendig und müssen zusammenarbeiten in organischer Einheit, koordiniert von Christus, dem Haupt des Leibes. Gerade die „unanständigen“ Glieder müssen mit höherer Ehre behandelt werden als die anständigen, weil sie genau so benötigt werden wie die edlen.

Paulus hat Platons gerechten Staat auf die Gemeinde Christi übertragen. In der Politeia werden die Kinder früh getestet, um herauszukriegen, ob sie aus Gold, Silber oder anderen Metallen hergestellt sind, um sie später einer Erziehung zu unterziehen, die sie weder über- noch unterfordert.

Womit Platon das deutsche Schulwesen mit vielen Zügen und Abteilungen erfunden hat, in welche die Kinder aufgeteilt und kanalisiert werden. Ist Platons Staat urfaschistisch, wie kann die Schule als verwässerte Imitation der Politeia demokratisch sein? Beide bestimmen frühzeitig über das Schicksal der Kinder, ohne dass diese das Recht hätten, sich selbst zu entscheiden, wie sie ihr Leben gestalten wollen.

Unterschichts- und Ausländerkinder sollen durch Erfindung der Hauptschule nicht überfordert werden. Sie könnten leicht unglücklich werden, wenn sie etwas Sinnvolles über das Leben erführen. Schuster, bleib bei deinem Leisten, dort kannst du am meisten leisten.

Platons idealer Staat ist für deutsche Pädagogen das Urbild einer gerechten Schule. Die Klügsten kommen an die Regierung, die Begriffsstutzigen werden Bäcker und Metzger. Die deutsche Schicksalsentscheiderschule maßt sich an, die Kinder aufs rechte Gleis zu setzen.

In der platonischen Sophokratie (Herrschaft der Weisen) fühlen sich alle glücklich – bis auf die allerweisesten Regenten. Die haben das vollkommene Leben in Gedanken erlebt und keine Lust mehr auf das Leben in der Realität, die Platon eine Höhle nennt. Allein es hilft nichts, die Klügsten müssen wieder ins irdische Joch und die weniger Klugen zu deren Glück erziehen. Allein können sie es nicht.

Sollten sie aber ihr Glück verweigern, müssen sie dazu gezwungen werden: bei Platon wie in der deutschen Schule.

Seltsamerweise sind die Obersten und Mächtigsten die am wenigsten Glücklichen, weshalb Friedrich der Große seufzend meinte, er sei der erste Diener des Staates. Der König müsse seinen Untertanen dienen.

Womit wir wieder bei der Demut wären. Denn der Demütige stellt sich, nach Meister Eckardt, „unter alle Kreaturen“. Die Regenten haben‘s am schwersten und leiden unter der Undankbarkeit ihrer Untertanen, die eigentlich ihre Obertanen sind. Die Weisen haben nur saure Müh und Pflicht von ihrem uneigennützigen Beglückungsjob.

Sie lieben ihre Beglückungsobjekte mehr als sich selbst, während Christen immer aufpassen müssen, dass sie andere nicht mehr lieben als sich selbst. Gegen solch übermäßige Liebe hätte Gott erhebliche Einwände.

Man könnte heulen über das Hundeleben, das die Mächtigen führen müssen. Alle Verantwortung liegt auf ihnen. Sie verstehen alles, aber niemand versteht sie. Sie sind einsam und allein vor Gott und der Vorsehung, müssen nächtelang grübeln, was das Beste sei für den unerzogenen Pöbel, der beim geringsten Unmut rebelliert, das Gute selbstverständlich hinnimmt, aber die geringsten Einschränkungen mit Empörung und Generalstreik beantwortet.

Da können wir Deutsche von Glück reden, dass wir ein belastbares Muttertier wie Angie haben. Die steckt alles weg, erwartet ohnehin keinen Dank – für solche Anfängerfehler ist sie zu clever – und weiß gleichwohl, wie dankbar die Deutschen sind, wenn ihre nörgelnde Undankbarkeit bei den Alphatieren weggesteckt wird.

Diese Dankbarkeit „der verzögerten Reaktion“ wird es Mutter Merkel ermöglichen, den SPD-Silberrücken, der sich gern die Brust trommelt und dumpfe Laute absondert, nach Belieben in den Senkel zu stellen.

„Denn vollkommene Demut geht auf das Vernichten seiner selbst“, meint Meister Eckardt, der die oberste Tugend der Christen präzis auf den Punkt bringt. „Wessen Natur in der niedrigsten Niedrigkeit kriecht, dessen Geist fliegt auf zur höchsten Höhe der Gottheit.“

Womit wir bei der Luther‘schen Rechtfertigungslehre gelandet wären, die von Robert Leicht in der ZEIT beschrieben wurde.

Was ist der Kern der lutherischen Botschaft, die Leicht eine „Befreiungstheologie“ nennt, in forscher Anlehnung an jene marxistisch angehauchte katholische Theologie aus Brasilien – die später von Johannes Paul II verboten wurde? Was Papisten nicht mehr dürfen, dürfen wir noch immer, will der Ex-Chef der ZEIT damit andeuten.

Den Kern der Reformationslehre sieht er in der Formel: Allein durch Glauben, allein durch Gnade. „Der Mensch muss sich sein Seelenheil nicht mehr durch religiöse Zwangsarbeit verdienen, sondern lebt aus freiem geschenktem Gottvertrauen.“ Nicht durch Gewalt, sondern durch freie Überzeugungskraft des Wortes soll Gottvertrauen entstehen.

Es ist unter der Würde des deutschen Feuilletons, Belege für die eigene Meinung zu zitieren. Das würde ja Eklektizismus bedeuten, Imitation, Plagiierung und keine Genieleistung aus dem eigenen Bauch direkt aufs Papier.

Das Original steht bei Paulus, aber wer will sich schon – wie einst orthodoxe Lutheraner, Calvinisten und Papisten – mit Bibelversen beharken? Das muss heute leicht-füßig und ohne historischen Ballast daherkommen. Kein altlutherischer Theologe, der diese Verse nicht auswendig kennt.

(Übrigens war auch Axel Springer Mitglied einer altlutherischen Kirche – wegen der katholisch anmutenden Liturgie. Der Begründer der BILD war glühender Christ und identifizierte sich in einem bestimmten Abschnitt seines Lebens mit dem Gekreuzigten, empfand sich als wiedergekehrter Messias und zeigte seine Wundmale an den Händen als Beweise seiner Erwählung. Viel grobgeschnitzte Missionierungs-Arbeit seiner Holzhackerzeitungen erklärt sich durch diese Erlösermanie.)

„So halten wir nun dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerechtgesprochen werde ohne Werke des Gesetzes.“ ( Neues Testament > Römer 3,28 / http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/3/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/3/“>Röm. 3,28) Der Mensch will selig werden und in den Himmel kommen. Indem er viele gute Werke tut und dafür belohnt wird?

Eben nicht. Das war katholische und jüdische Werkerei. Heute am ehesten mit der FDP zu vergleichen: Leistung muss sich wieder lohnen.

Luther ist der Vorgänger von Götz Werner und tritt für ein religiöses BGE ein. Nicht Leistung, dann Lebensrecht, sondern umgekehrt: erst Lebensrecht, dann folgt wie von selbst die Leistung.

Mit ihrem nassforschen Spruch ist die FDP allerdings nicht auf der Höhe des Neoliberalismus. Dort gilt der Satz Hayeks, der vom ZDF-Hausphilosophen Precht unterstützt wurde: gottlob gibt es keinen rationalen Zusammenhang zwischen Leistung und Lohn. Wie schrecklich wäre es, wenn jeder an seiner Lohntüte objektiv erkennen könnte, was er zu leisten imstande ist.

Juden und Katholiken hatten noch das simple, aber selbstbewusste Prinzip: je mehr Gutes du tust, je wahrscheinlicher kommst du in den Himmel. Es gab einen klaren Vertrag zwischen Gott und Mensch. Erbringt der Mensch gute Werke zum Lobe Gottes, muss Gott als Gegenleistung die Seligkeit aussprechen. Heilige, die alle Gebote hielten – oder gar mehr – hatten einen garantierten Zugang zum Himmel, den Gott nie hätte willkürlich verweigern können.

Man könnte sagen, Juden und Katholiken standen Gott noch ziemlich selbstbewusst, ja als gleichberechtigte Vertragspartner gegenüber. Hiobs Streit – wenn auch mit unrühmlichen Ende – wäre für einen Protestanten undenkbar, der untertänig auf Gnade und Barmherzigkeit des Himmels angewiesen ist.

Forderungen zu stellen, weil man seine Pflichten des Vertrags treu erfüllt hätte – undenkbar. Ein solches Pochen auf die eigene Leistung, um Gott ultimativ aufzufordern, seine Vertragszusage ohne Wenn und Aber einzuhalten, wäre für Luther eine hybride Unverschämtheit. Das Gegenteil von Demut, die sich selbst vernichtet, um bei Gott für ihre Seligkeit zu beten und zu bitten.

„Wo bleibt nun der Ruhm?“ fragt Paulus und antwortet: „Er ist ausgeschlossen“.

Demut und Selbsterniedrigung sind bei Luther angesagt: Herr, deine moralischen Forderungen kann ich nicht erfüllen. Dazu bin ich zu kaputt und sündig. Deine Bergpredigt-Normen sind mir zu hoch.

Was bleibt dann noch? Die Fremderlösung. Was der Mensch nicht kann, kann der Sohn Gottes stellvertretend für die ganze Menschheit – aber nur unter der Bedingung, dass sie an ihn glaubt. Durch sein Erlösungswerk in Golgatha hat Jesus alle Sünden der Welt auf sich genommen, um sie für immer zu entsorgen.

Eigentlich hätte er nicht leiden müssen, er war ohne Sünde. Indem er sich opferte, rettete er in einem Akt die Bedingung Gottes – dem Gesetz Genüge zu tun – wie die verlorenen Sünder, die die Bedingungen Gottes nicht erfüllten.

Im Bilde gesprochen: wer seinen Kredit nicht zurückzahlen kann, muss sich einen großen Sponsor suchen, der die Schulden stellvertretend für den Schuldner zurückzahlt. Vorausgesetzt, der Insolvente ist bereit, den Schuldentilger als Gott und Heiland anzubeten und seinen Namen in aller Welt zu verbreiten.

Im Gegensatz zum jüdisch-katholischen Selbstbewusstsein ist das Selbstbewusstsein des Protestanten auf Null gesunken. Er kann nichts und ist auf einen Erlöser angewiesen, den er anbeten muss. Diese Reduktion der menschlichen Persönlichkeit auf eine bankrottierende Null ist der große Fortschritt der Befreiungstheologie Luthers, des Revolutionärs und Wegbereiters der Aufklärung.

Wie konnte diese absurde Fehleinschätzung Luthers passieren? Das lag an Luthers Protest gegen die katholische Kirche und der Befreiung des einzelnen Gläubigen von der Priesterherrschaft. Der einzelne Fromme brauchte keinen Vermittler mehr zum Himmel. Jeder Christ war gleichauf zu Gott – wie später beim lutherischen Ranke jede Epoche gleichauf zu Gott war.

Diese Mini-Emanzipation aus den Klauen der Popen wurde aber erkauft durch eine Erniedrigung des Menschen zu Nichts vor Gott. Der stolze Protestant muss um Gnade und Barmherzigkeit winseln und flehen. Ob Gott sein Flehen erhört, weiß er sein ganzes Leben nicht genau.

Seine Seligkeits-Gewissheit geht gegen Null – wie bei Calvin, der anhand ökonomischer Erfolge auch nur vermuten oder ahnen kann, ob er zur Schar der Vorherbestimmten gehört. Während die Calvinisten nun in ihre – von Max Weber beschriebene – kapitalistische Werkerei verfielen, um schon hienieden die eigenen Himmelschancen einzuschätzen, verfallen die Lutheraner in eine entgegengesetzte „Werkerei“, die Werkerei des Nichtwerkens, des braven und gehorsamen Betens und Flehens.

Zwar sollen sie Gutes tun, aber nicht als ruhmsüchtig-narzisstisches Mittel, um durch eigene Kraft den Himmel zu stürmen. Streng genommen ist Gutestun unwichtig, ja, es kann sogar kontraproduktiv sein. Entscheidend sind Glaube oder Liebe, die jegliches Tun vor Gott absegnen, und wenn es noch so sündig und verkommen wäre. „Sündige tapfer, aber glaube“, heißt die Weißwaschung aller Taten durch rechte Glaubensgesinnung (Antinomie). Hauptsache, du liebst die Welt, dann kannst du sie in Trümmer legen.

Lutheraner sind Bettler des Heils, die auf Knien vor Gott liegen und um Brosamen flehen, damit sie beim Jüngsten Gericht durchkommen. Nicht aufgrund eigener Leistung, sondern weil sie auf ihren Erlöser verweisen, der alles Nötige für sie getan hat. Diesen Glauben aber müssen sie bringen und beweisen.

Ist Glauben keine Leistung? Das ist die Crux der Protestanten. Sie müssen glauben, dürfen den Glauben aber nicht als Leistung verbuchen. Sonst droht Ruhmsüchtigkeit und Hybris. Und darauf steht Todesstrafe und ewige Verdammung.

Sagens wir‘s kurz: das Leben des Lutheraners besteht aus lebenslangen Leistungen, die keine sein dürfen. Er muss sich anstrengen, tun und machen und doch so tun, als sei er zu nichts fähig. Die Leistung des Glaubens besteht darin, in Bußfertigkeit und Demut zu beteuern: Ohne dich, Herr, wäre ich verloren.

Die Bilanz des Menschen ohne himmlische Hilfe ist eine Katastrophe: sie besteht nur aus roten Zahlen. Ohne den Erlöser, der die Schuldsumme mit seinem vergossenen Blute tilgt, wäre er verloren.

Die Leistung des Menschen besteht in der Eliminierung seiner Autonomie vor Gott: ohne heteronomen Erlöser wäre er verloren. O Mensch, allein kannst du nichts und bist ein Nichts.

Im Unterschied zu Götz Werner, der das einklagbare Recht auf ein BGE fordert, hat der Lutheraner keinerlei Rechte vor Gott. Eben dies ist der Sinn der Formel: allein durch Gnade. Sola gratia.

Wer dies verstanden hat, kann Nietzsches Urteil über Luther nachvollziehen, der ihn als verheerenden Rückschritt ins Mittelalter betrachtete. In der Reformation sah der Pfarrersohn einen „Bauernaufstand des Geistes“ gegen die Hochkultur der Renaissance.

Jetzt erst können wir den seltsamen Widerspruch aufklären zwischen dem paulinischen Todesurteil über die Arbeitsunwilligen – wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen – und dem Lobpreis der Bergpredigt auf die Faulenzer-Lilien: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht und doch ernährt sie der Vater im Himmel.

Natürlich sollen Christen im Schweiße ihres Angesichts werkeln und schuften. Doch ihre Leistungen gelten vor Gott nicht als Leistung. Nicht sie ernähren sich durch ihre Arbeit, Gott ernährt sie sola gratia. Trotz aller Mühe der Kreatur muss der himmlische Lohn als unberechtigte Gnadengabe abgebucht werden.

Grundsätzlich haben sich Christen als rechtlose Knechte zu betrachten. Als Sklaven Gottes, die tun müssen, was ihnen aufgetragen wurde. Ein Recht auf Lohn steht ihnen nicht zu. „So sollt auch ihr, wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen war, sagen: Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur getan, was wir zu tun schuldig waren.“

Der Protestantismus mit Luther und Calvin hat die westliche Moderne geprägt. Mit dem paradoxen Ergebnis, dass auf allen Ebenen der Gesellschaft rasante Leistungen erbracht werden – die aber keine sein dürfen. Auch die kapitalistischen Leistungen der Calvinisten sind keine vorweisbaren Berechtigungen zur Eroberung der Seligkeit. Ein tiefer Graben klafft zwischen Tun und Wirkung.

Der Westen überschlägt sich in unbegrenzter Aktivitätshysterie. Doch was ihre Betriebsamkeit zustande bringt, wissen sie nicht. Zwar kann vieles berechnet und quantifiziert werden, doch alle Zahlenspiele sind nur ein Haschen nach Wind.

Die Kluft zwischen Handeln und realen Folgen des Handelns bedeutet, dass der Mensch ins Blaue wirkt und seine Probleme nicht empirisch überprüfbar lösen kann. Alles bleibt eine Sache des Vermutens, Spekulierens und Glaubens. Je mehr sie werkeln und malochen, je mehr schwimmen sie im Ungefähren, ohne klar zu wissen, was sie leisten und vollbringen.

Die Kriterien der Wahrheit sind bei Dewey: es muß arbeiten. Der Weg ist das Ziel, Arbeiten ist Selbstzweck und misst sich nicht am Ergebnis, sondern am Prozess des Tuns.

Wer keine klaren Ziele hat, kann den Sinn seines Tuns an den Zielen nicht überprüfen. Er muss sich mit dem Schein begnügen: Hauptsache, es tut und regt sich was.

Besinnungsloses, blindes Werkeln ist immer noch besser als sehende Muße, die sich ihrer Erfolge erfreut und sie durch Aktionismus nicht gefährdet.

Der Neoliberalismus driftet immer mehr in Richtung ehrenamtliches Arbeiten der Beschäftigten, die gefälligst ihre Pflicht tun und froh sein sollen, wenn hin und wieder ein Gnadenlohn abfällt. Das sieht man beim Nichtbezahlen der Überstunden, beim zur Verfügung stehen rund um die Uhr, beim zunehmenden Wegfall normaler Jobs, von denen man leben kann.

Die Botschaft lautet immer öfter: seid froh, überhaupt etwas tun zu dürfen. Ist Arbeiten um Gottes Lohn nicht ehrwürdiger als ständig höhere Löhne zu fordern und damit die Betriebe zu gefährden?

Precht und Lindner waren einer Meinung, dass sie sich nicht trauen würden, einen gerechten Lohn für eine Leistung zu bestimmen. Schon der Versuch wäre ein totalitärer Akt.

Dass der anonyme Markt den gerechten Lohn ausmendeln soll, ist hingegen ein weiser Akt des Marktes und nicht totalitär? Beim Benoten der Schulleistungen durch willkürliche Noten aber spricht niemand von totalitären Zensuren?

Dass Hayek und Precht es aber unisono für richtig halten, dass Löhne nicht gerecht sein sollen (um uns nicht die letzte Illusion der verborgenen Leistungsgerechtigkeit zu nehmen), bestätigt den lutherischen Eindruck, dass Gott zwischen Arbeit und Arbeits-Lohn einen unüberbrückbaren Graben gezogen hat.

Alles muss unter dem Rawl‘schen Schleier der Ignoranz bleiben. Der Schleier des Nichtwissens ist zur wunderbar präzisen Formel für lutherische Rechtfertigung des eigenen Tuns durch willkürliche Gnade geworden.

Der Mensch soll nicht wissen, wozu er fähig ist. Lebenslang soll er auf hilflose Helfer und illusionäre Erlöser angewiesen sein. „Somit ist weder der etwas, welcher pflanzt, noch der, der begießt, sondern Gott, der das Gedeihen gibt.“

Robert Leicht bezweifelt, dass der lutherische Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“, eine protestantische Marseillaise wäre. Es sei ein stilles Lied des Gottvertrauens. Die „Welt voll Teufel“ seien mit Bestimmtheit keine Katholiken, sondern die Dämonen in uns selber.

Dann wären sie ja noch immer Teufel, wenn auch die unsrigen.

Zuerst die obligate Demut: Mit unserer Macht ist nichts getan“. Dann der finale Triumph: „Es streit für uns der rechte Mann. … Der Fürst dieser Welt, wie saur er sich stellt, tut er uns doch nicht, das macht, er ist gericht. Ein Wörtlein kann ihn fällen“. Auch wenn sie uns „Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib“ nehmen, „lass fahren dahin, sie habens kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben“.

Was brauchen wir Weib und Kind, wenn wir – wie John Bunyan – ohne familiären Ballast viel leichter in den Himmel kommen?

Seltsame Dämonen in Robert Leichts Innenleben. Robert Leicht, Spross einer Stuttgarter Bierbrauerdynastie: leistungsmäßig gewogen und zu leicht befunden.