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Sonntag, 04. März 2012 – Und vergib uns unsere Schulden

Hello, Freunde des Fondue,

ein Armengericht wird in den 70er Jahren zum Hit der neuen Generation. Eigentlich ein Reste-Essen, bei dem harter Käse geschmolzen und mit Brot getunkt wird. Aus Mangel an Geschirr wird zusammen aus der großen Schüssel gefuttert: Fondue war „sozial, sinnlich und befreit“.

Die Zeiten ändern sich, das Neueste ist das gute Uralte, Fondue besiegt im Alleingang die Postmoderne und den Messer- und Gabelkapitalismus.

Was lernen wir daraus? Alles Gute kommt nicht von oben, wem die Welt zu komplex und unübersichtlich ist, der sollte es mit Couscous und Fingern probieren. Hier ist die Fonduetherapie gegen Ausgebranntsein und erotische Mangelerscheinungen.

„Woher kommt plötzlich diese neue Kultur des Miteinander-Teilens?“ Die großen Veränderungen genügen nicht, es müssen auch die kleinen sein. Tauschen, Teilen, Verschenken, Recyceln. Die Rohstoffe werden knapp, Verschwenden können wir uns nicht mehr leisten. Die Reduktion von Überfluss ist noch lange keine Askese, sondern Gesundschrumpfen: schrumpfen, bis wir gesund sind. Und die Natur wieder atmen kann.

Die Gegenstimmen dürfen nicht fehlen. Von Anfang an stand Ökologie unter Totalitarismusverdacht. Die ersten Natur- und Tierschutzgesetze seien

in den 30ern von den Nationalsozialisten erlassen worden, sagt Pascal Bruckner, französischer Schriftsteller, der ein Buch geschrieben hat gegen die „Tyrannei der Apokalypse“.

Halten zu Gnaden, mon ami, Ökologie ist der Versuch, die Tyrannei der Apokalypse zu brechen, den Weltuntergang zu verhindern.

Die Apokalypse (= Offenbarung) gibt es schon seit mehreren Jahrtausenden, sie ist Abfallprodukt männlich-tyrannischer Hochkulturen. Wer allzu hoch hinaus will, kriegt Höhenangst und fällt leicht in den Dreck, versteht seinen Nachbarn nicht mehr und wird darüber hinaus von Gott verspottet, der ganz alleine oben wohnen darf. (Wolkenkratzer sind eigentlich Himmelkratzer, womit Amerikaner der ganzen Welt zeigen wollten, dass sie die Einzigen in der Welt sind, die luftige Nachbarn des Höchsten – sein Name sei gepriesen – sein dürfen. Weswegen Amerika zu Recht Gottes eigenes Land heißt.

Über den Wolken-Kratzern muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Auch Reinhard Mey kommt ohne grenzenlose Freiheit nicht aus. Würde Gauck ihn zu seinem Hofbarden ernennen, könnte er die Hymne singen: Über den Wolken muss Verantwortung grenzenlos sein.

Auch Reinhold Messner ist sauer, wenn man seine persönliche Kraxelertüchtigung unter dem Motto „Grenzen erkunden, Grenzen austesten und überwinden“, als unfreiwillige Unterstützung des neoliberalen Grenzenüberwindens und Wolkenkratzens betrachtet. Damals hat er die Lawine ausgelöst, heute rast er wie der überforderte Zauberlehrling vor dem Verhängnis her und ruft den Leuten zu: bringt euch in Sicherheit.

Als 9/11 passierte, war der Schock ein religiöser. Die Biblizisten fühlten sich vom Himmel persönlich bestraft wegen erwiesener Hybris.

Sollten ihre Wolkenkratzer tatsächlich nichts anderes sein als Wiederholungen des Turms zu Babel? Hatten sie nicht den Eindruck, sie wären frei von widergöttlichem Hochmut? Hatten sie nicht reine Motive, die es ihnen erlaubten, dem Herrn ins Wohnzimmer zu schauen? Waren nicht sie seine Lieblinge, die sich gestatten konnten, was andere nicht konnten?

Da gab es einen empfindlichen Tiefenkratzer am kollektiven Erwähltheitssyndrom. Ein wesentlicher Grund, warum die frommen Kandidaten zurzeit mit viel Religion versuchen, die national-religiöse Seelennarbe zu heilen und einzusalben.

Die Geschichte vom Turm zu Babel war nicht nur eine Demütigung, sie war auch eine Bestätigung der Gottgleichheit der frechen Kreaturen. „Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns, nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen.“ (Womit wir die Wurzeln der amerikanischen Urparolen entdeckt hätten: Nichts ist unmöglich; jeder kann alles, wenn er nur will; die Menschheit ist ihres Glückes Schmied.

Gelegentlich auch ihres Glückes Amboss, doch das muss man wegstecken. Nicht nach hinten schauen und im Chor skandieren: Yes, we can. Immerhin heißt es Wir können und nicht Ich kann, was schon eine ziemlich kommunistische Frechheit ist im Land der unbegrenzten Ichsager.

Wenn Gott straft, ähnelt er jener Mami, die ihrem Kind ein allzu kühnes Spiel streng verbietet, doch klammheimlich ihrer besten Freundin zuzwinkert: Siehste, meine Racker, die trauen sich was. Wer’s klinisch korrekt will, könnte auch von Double Bind reden: Lass das – aber mach weiter! Toll, wie du das machst – doch wehe dir!

Double Bind könnte man auch als Kurzformel für Erlösungsreligion nehmen. Ihr seid ganz toll, ja gottähnlich – doch dafür werdet ihr im Abgrund landen. Ihr seid Sündendreck – aber macht ruhig weiter. Zwar trachtet ihr nach dem Bösen, doch Gott wird alles zum Guten wenden.

Wenn Ökologen nicht so fromm wären und Schöpfung bewahren wollten, (was heilsgeschichtlich Blasphemie ist, hört euch die republikanischen Kandidaten an), müssten sie eigentlich Bekämpfer jener sein, die an die Apokalypse glauben.

Jeder Glaube ist eine selbsterfüllende Prophetie. Solange Jesuaner an das determinierte Ende der Welt glauben, solange werden sie das Ende der Welt durch doppelten Fortschritt herbeizwingen: a) durch Fortschritt in den Himmel und b) durch Fortschritt in die Hölle.

Der moderne Fortschritt hat nämlich zwei Köpfe. Wir schreiten voran zur Wiederkunft des Herrn, die einen kommen ins Töpfchen, die anderen ins Kröpfchen. Fortschritt ins Paradies und Fortschritt ins Verderben.

Newt Gingrich, von Hause aus Geschichtslehrer, schreibt gerne Science-Fiction-Romane. Der Inhalt ist immer derselbe: die Guten unter Führung der Amerikaner wandern auf Mond und Mars aus und sind gerettet. Die andern, zumeist Deutsche und Nationalsozialisten, müssen zurückbleiben und verschmoren im irdischen Inferno. In der frei flottierenden Phantasie des endzeitlichen Schriftstellers hat Hitler nämlich den Zweiten Weltkrieg gewonnen, das Endspiel zwischen Deutschland und Amerika steht kurz bevor.

Warum Apokalypse eine Offenbarung ist, erschließt sich aus dem Ende der Geschichte. Der wiederkehrende Messias wird alles völlig offenbar machen: Gott wird in seiner ganzen Herrlichkeit und Furchtbarkeit erscheinen. Die Epoche des bloßen Fürwahrhaltens ist vorbei. Dann werden die Gläubigen sehen, was sie bislang nur geglaubt, die Ungläubigen, was sie sträflich verneint oder verspottet haben.

Die Offenbarung per Schrift war nur eine unvollkommene, sie war auf Fürwahrhalten angewiesen und vor Zweifeln nicht gefeit. Es wäre sinnvoll, von einer halben oder unvollständigen Offenbarung zu reden. Erst die Apokalypse wird die Offenbarung zur Gänze offen legen, dann wird kein Auge trocken bleiben. Es ist die finale und totale Transparenz.

Der deutsche Weg, der Apokalypse zu entkommen – die als religiöses Problem ignoriert wird –, ist der Weg der persönlichen Echtheit und Vorbildlichkeit. Wer die Welt verändern will, muss auch im Kleinsten treu sein.

Darf man noch mit dem Flieger die Luft verpesten, wenn man authentisch sein will? Diese typisch deutsche Frage wird von Bruckner sofort zur Machtfrage reduziert: wer soll entscheiden, ob jemand das Flugzeug nehmen darf? Entscheiden sollte das jeder für sich, was man gewöhnlich als Moral bezeichnet.

Was die Menschheit nicht freiwillig macht, wird sie sich eines zu späten Tages als Gesetz vorschreiben müssen, wenn sie wirklich überleben will. Was nicht im Geringsten der Mill’schen Definition von Freiheit widerspräche. Um mich zu schützen, muss ich die Menschheit, um sich zu schützen, muss die Menschheit mich schützen.

Wenn Appelle dazu nicht ausreichen, werden Gesetze lebensnotwendig sein. Diesen Vorgang des Totalitarismus zu bezichtigen, ist so sinnvoll, wie alle Ampeln als faschistoide Maßnahmen zu bezeichnen.

Es gibt einen typisch deutschen und einen typisch französischen Fehler. Franzosen neigen zur großen Revolution, zur großen Geste – und übersehen den Kleinmist an der Basis, ohne den keine großen Entwürfe denkbar sind. Die Deutschen neigen umgekehrt zum privaten Moralismus – ohne die übergreifenden Politentwürfe wahrzunehmen, die aus dem Kleinmist folgen müssten. Wenn das kein veritabler Grund ist, die deutsch-französische Freundschaft auf philosophischer Ebene neu zu begründen.

Ulrike Herrmann stellt das neue Buch von David Graeber vor, einem Vordenker der Occupy-Bewegung, der Zusammenhänge zwischen ökonomischen Schulden und der christlichen Schuld- und Vergebungsreligion erkennen will. Bereits in den Anfängen der Hochkultur hätte es Schulden gegeben.

Graeber behauptet, dass Schulden stets mit Gewalt einhergingen. Sie seien eine Waffe, ein Instrument der Macht, der UnterdrückungSchuld sei die älteste Form menschlicher Beziehungen. (Die älteste bestimmt nicht, vielleicht die älteste seit Beginn der Hochkulturen. Im matriarchalischen Dorf gab’s keinen Kredit und kein Schuldengefängnis.)

Freiheit – frei von Schuld – heißt auf Sumerisch „amargi“, was genauer „Rückkehr zur Mutter“ bedeutet. Ein wunderbares Wort als Sehnsucht nach mütterlichen Verhältnissen, wo Geld noch keine Rolle spielte.

Jetzt verstehen wir Gaucks Rede von der Freiheit besser. Unfreiwillig will er sich von seiner vaterdominierten Religion lösen und ins Reich der Mütter zurückkehren. Alles Weibliche zieht uns hinan, was nicht hinab bedeutet. Rückkehr zur Mutter ist eine subkutane Generalkritik am männlichen Kapitalismus, ohne dass es denen auffiele, die den Freiheitshelden wählen werden. Unter dem Mantel offizieller Bejahung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems transportiert Gauck eine Konterbande, eine versteckte Schmuggelware, mit der er die morschen Verhältnisse zum Tanzen bringen will.

Dass Schulden nur in einem System privaten Eigentums und individueller Lebensrechnung entstehen, scheint Graeber nicht aufgefallen zu sein. In einem wahrhaften Gemeineigentum – dem schrecklichen Kommunismus – können sich keine Schulden auftürmen, mit denen man die Schwächsten von ihrem Hofe jagen kann.

Das Bauernlegen begann, als die Herrschaft der Stadt über das Land, des Mannes über die Frau, ihren Anfang nahm. Schon die Tauschwirtschaft ist eine vorweggenommene Schuldwirtschaft, auch wenn das Geld noch gar nicht erfunden sein muss.

Ein Tausch beruht auf dem Vorgang Do ut des, ich gebe, damit du gibst. Wehe dir, du gibst mir nichts Gleichwertiges zurück. Der Wert der Güter muss schon eingeschätzt und verglichen werden. Das unerbittliche Gesetz von Angebot und Nachfrage ist kein Eintrittsbillet in kommunistische Verhältnisse, wo nichts getauscht werden kann, weil es keinen Privatbesitz gibt.

Der Markt sei als Folge von Raubzügen und Kriegen entstanden, um die Armen zu Steuerabgaben zu zwingen, die sie nur bezahlen konnten, wenn sie etwas für den Markt produzierten, so Graeber.

Eine freie Marktwirtschaft habe es nie gegeben. Zwar sei die Sklaverei abgeschafft worden, doch die steuerpflichtigen Untertanen, die mit ihren Groschen die Wahnsinnsträume der Mächtigen finanzieren mussten, als da sind Pyramiden, Schlösser, Kathedralen und Dome – mussten sich nun freiwillig zu lohnabhängigen Sklaven machen und ihre Arbeitskraft, ja ihre überwiegende Lebensenergie gegen Cash verkaufen.

„Der heimliche Skandal des Kapitalismus ist, dass er zu keiner Zeit auf freier Lohnarbeit gegründet war.“ Da muss Graeber den Namen Marx noch nicht gehört haben, sonst könnte er nicht vom heimlichen Skandal sprechen. Marx hat den Skandal so wirksam ans Licht gebracht, dass noch vor wenigen Dekaden die Hälfte der Welt marxistisch war. Zumindest auf dem Papier.

Schulden stehen im Mittelpunkt der Erlösungsreligion, die nur unter Bedingungen des Privateigentums und einer hochkulturellen Machtpolitik entstehen konnte. Dass sich eine qualitativ-moralische Schuld in finanzielle Währung transformiert hat, die man auf Heller und Pfenning berechnen kann, darf niemanden wundern, der Galileis Motto kennt: messen, was messbar ist und messbar machen, was es noch nicht ist.

Wenn alles quantifizierbar sein muss, darf die Chance des Einzelnen, selig zu werden, nicht über den Daumen gepeilt werden. Seit Calvins Zeiten in Genf will man wissen, zu welcher Population man gehört: zur Spreu oder zum Weizen.

Das ging nur über nachweisbare Quantität des Segens Gottes, der als Wohlstand auf dem Hause liegt. Gott segnet die Seinen mit materiellem Wohlstand, das war die alttestamentarische Grundüberzeugung des Franzosen.

Im Gegensatz zu Luther, der schon mehr von neutestamentlichen Verheißungen geprägt war, dass eher ein Kamel durchs Nadelöhr ginge, denn ein Reicher ins Himmelreich. Natürlich hielt auch Luther daran fest, dass die Armen reich und glücklich werden, doch nicht mehr auf Erden, sondern in einem fernen Jenseits.

Die alten Hebräer hatten noch die naive Zuversicht, dass der Fromme auch wohlhabend ist, denn Gott belohnt die Seinen auf Erden, ein Jenseits gab es nicht.

Ab Hiob begann die große Krise. Die Korrelation zwischen Glaube und Reichtum zerbrach. Nach vielen mühseligen Kämpfen und Zweifeln, in denen auch Jesus ein Wörtchen mitreden wollte, entschied sich das Christentum für Einlösung der göttlichen Belohnung – mit Verzögerung. Ja, die Frommen werden reich und glücklich, aber nicht mehr auf Erden. Solange sie im Fleische leben, müssen sie sich vorübergehend mit – dem Aufschub der väterlichen Schulden begnügen.

Richtig gelesen: Gott hatte Schulden bei seinen treuen Knechten und Mägden. Wenn die Menschen sich an seine Gebote halten und an ihn glauben, wird er sie mit Milch und Honig belohnen. Dieser Lohn blieb, je länger, desto mehr aus.

Gott wurde immer mehr zum säumigen Schuldner. Seine Gläubigen verwandelten sich in Gläubiger des unzuverlässigen Vaters. Doch der schlitzohrige und mit allen Wassern gewaschene Vater lenkte von seinen Schulden ab, indem er seinen kindlichen Vertragspartnern einredete, dass sie es wären, die bei Ihm Schulden hätten und ihren Vertragspflichten nicht nachgekommen wären.

Das gelang ihm mit dem Trick einseitiger Vertragsverschärfung und Erhöhung der juristischen Messlatte. Wenn die Kinder wie Hiob auftrumpfen wollten: wir haben alle Gebote gehalten, Du aber hast deine zugesagte Glücksverheißung nicht eingehalten, konterte der Alte: ja, oberflächlich ja, aber ihr habt das Kleingedruckte nicht gelesen. Dort steht, es genügt nicht, die Ehe nicht zu brechen, sondern wer in Gedanken die Ehe bricht, ist des Teufels.

Diese Verschärfung der Gebote mit Einbeziehung innerlicher Gedanken und Motive schlug ein wie eine Bombe – und schlug die Christen mit dem Bann, zahlungsunfähige Sündenkrüppel zu sein. Seitdem zählen nicht mehr handfeste Taten, sondern belanglose, wirre Motivationen.

Eins zu Null für den Vater, der bei seinen älteren Kindern, den Juden, abblitzte, die bis heute auf den Buchstaben des Vertrags verweisen und alle späteren Verschärfungen der Tauschbedingungen im Kleingedruckten kategorisch ablehnen.

Aus dieser Unterschiedlichkeit beider Kinderkohorten entstand die Ablösung der urchristlichen Gemeinde von der jüdischen Religion. Noch heute halten sich die Christen den Juden für moralisch überlegen, weil sie ihr Inneres zur Bewertung freigeben. Noch heute beharren die Juden darauf, die über 600 Gesetze Jahwes einhalten zu können.

Nicht, dass Christen die neuen Maximalforderungen erfüllen konnten, im Gegenteil, sie wurden zu absoluten Versagern gestempelt. Doch mit Hilfe ihres Erlösers, der die fehlenden Schulden stellvertretend beim Vater hinterlegt, schaffen sie es am Ende doch.

Allerdings unter Opferung ihres freien Ichs. Christi Opfer am Kreuz ist identisch mit der fehlenden Summe, die die Gläubigen dem Vater schulden, der keinen Cent von der vereinbarten Schuld nachgibt, das Opfer seines Sohnes aber als vollwertigen Ersatz akzeptiert. So wird dem harten Gesetz genüge getan wie der liebenden Gnade.

Für gläubige Christen ist nun alles klar. Wer glaubt, getauft und als neuer Mensch wiedergeboren ist, hat seine Schuldigkeit im Prinzip getan. Nun muss der Alte liefern: her mit der ewigen Seligkeit, der Rache im Himmel über die Ungläubigen. Warum zieht sich das und zieht sich das? Wo bleibt die Erfüllung der Verheißung?

Die Moderne ist die Geschichte der anwachsenden messianischen Zukunftserwartungen. Die Biblizisten werden allmählich ungeduldig und verschärfen das Tempo der selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn schon der Himmel immer mehr verzieht beim Einlösen seiner Versprechungen, muss man selbst alles tun, um den Schuldner zu zwingen, den Schlussgong ertönen zu lassen.

Die ganze Heilsgeschichte lässt sich als Kampf zwischen Mensch und Gott in der Frage darstellen: wer hat den Urvertrag – den Bund – gebrochen, wer hat ihn getreulich eingehalten? Wer hat seine vertraglichen Pflichten erfüllt, wer ist im Verzug beim Einlösen seiner Zusagen?

Wer ist schuld daran, dass der Vertrag nicht wirklich funktioniert und die ganze Welt mit den Fingern auf die Kinder Gottes zeigen kann: wo ist denn euer Messias, wo versteckt sich euer Gott bei all dem Unrecht und Elend, das auf der Welt geschieht? Bleibt uns weg mit euren Illusionen, ihr betrügt euch nur selbst.

Das genau ist der Stachel im Fleisch der westlichen Christenheit, die Beschleunigung der apokalyptischen Enderwartung immer mehr zu erhöhen und das finale Fieber bis ins Unerträgliche anzuheizen. Weshalb es auf unserer Erde immer heißer wird.

„Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“ – das ist die latente Agenda der Weltpolitik. Solange Gott seinen Sohn nicht ein zweites Mal zur Erde schickt, solange hat er den Menschen ihre Schuld nicht offiziell vergeben. Hat er sie nicht vergeben, müssen die Gläubigen ihren irdischen Schuldigern auch keine Schuld vergeben.

So steigen und steigen die gegenseitigen Schulden – bis zum großen Kladderadatsch, der auf griechisch Apokalypse heißt. An der fiebrigen Herstellung dieser endgültigen Offenbarung arbeiten wir rastlos und besessen.