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Sonntag, 03. Februar 2013 – Jüdische Philosophie

Hello, Freunde des deutsch-jüdischen Dialogs,

der in deutschen Gazetten nicht stattfindet. Es ist die NZZ, die mehrere interessante Artikel über das Judentum veröffentlicht hat. Auf Reaktionen aus deutschen und christlichen Federn werden wir bis auf den Sankt Nimmerleinstag warten müssen. Philosemiten segnen alles ab, was Juden über sich schreiben, indem sie es nicht zur Kenntnis nehmen: es wird schon seine Richtigkeit haben.

Wer solche Freunde hat, ist zum Gespräch mit sich selbst verurteilt. Ein deutsch-jüdischer Dialog scheint so utopisch, dass die jüdischen Verfasser der Artikel gar nicht auf die Idee kommen, ihn einzufordern.

Der Religionswissenschaftler Alfred Bodenheimer schreibt über das Judentum in der Schweiz, wo er als neuen Trend den Amerikanismus ausmacht. Er löst die Auswanderungswelle nach Eretz Israel ab. Israel hat seine Anziehungskraft als Ort der Sehnsucht eingebüßt. Die naheliegenden Gründe werden leider nicht genannt.

Das Land der Väter ist nicht mehr identitätsstiftend. Die Kritik am Land äußert sich averbal als Rückgang der Auswandererquote. Hier treffen wir bereits auf die Wunde des gegenwärtigen Judentums: das Bedürfnis nach Ersatzidentitäten, weil die Identität mit Israel verloren geht. Viele junge Israelis ziehen nach Berlin, Schweizer Juden nach Amerika. Die stumme Auseinandersetzung mit Israel kann man an den wechselnden Diasporaströmen ablesen.

Was verlockt an Amerika? Das riesige Land ist dynamischer als die unbedeutende Schweiz und unbelasteter als der immer problematischere Staat Israel. Müssten das keine Warnsignale für die jüdische Identität sein, die in der Nachkriegszeit an die biblische Urheimat gebunden war, nun aber zu zerbrechen droht? Solch

selbstkritische Fragen werden nicht gestellt. Man merkt, dass Juden allein gelassen werden und dass ihnen niemand Fragen stellt, zu denen sie Stellung beziehen müssten.

Wo ist die Heimat der Juden? Sind sie noch immer zu ewiger Wanderschaft verurteilt, obgleich der junge Staat Israel die Heimatlosigkeit für immer beenden sollte? Dann wäre das messianische und säkulare Projekt Israel gescheitert. „Wer an einer Gemeinde mit baut, tut dies, weil er sich Geborgenheit, geistige Heimat, religiöse Selbstverwirklichung, vielleicht auch alles zusammen verspricht.“

Ist die Heimat Israel in der Versenkung verschwunden und viele nationale Heimaten an ihre Stelle getreten? Was bedeutet dies für das jüdische Selbstsein?

(Alfred Bodenheimer in der NZZ)

 

Gibt es eine typisch jüdische Literatur? Das fragt sich die in Bukarest geborene Literaturwissenschaftlerin Stefana Sabin. Nein, sofern man unter typisch jüdischer Literatur den Gebrauch der hebräischen Muttersprache versteht. Der Sprachwechsel ist zum Merkmal eines globalen Bewusstseins geworden. Vielsprachigkeit habe das jüdische Schreiben schon immer geprägt. Insofern ist die „kreolisierte“ Weltliteratur jüdischer geworden. Die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Sprache sei eine „typisch jüdische“ Selbstbehauptung, die von der Weltliteratur übernommen worden sei.

Das klingt nach verstecktem Triumph: die Welt wird immer jüdischer, ob sie es weiß oder nicht. Interessant der Doppelstandard jüdischer Selbstbeschreibungen. „Gojim“ gelten als Antisemiten, wenn sie Typisches betonen, Juden zeigen sich stolz auf Stereotypen ihres Jüdischseins.

Wo aber bleibt die Heimat, die Bodenheimer am Beispiel des Schweizer Judentums beschrieb? „Für diese Weltliteratur in neuem Sinne wird das Schreiben, wie ehedem für die jüdische Literatur, zur Suche nach einer ideellen Heimat, die real nicht wiederzugewinnen ist. So erfüllt sich schliesslich Adornos Diktum: «Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen

Hier ist die Suche nach einer konkreten Heimat in irgendeinem „Gastland“ aufgegeben. Israel wird mit keinem Wort erwähnt. Ubi bene, ibi Patria (wo mir‘s gut geht, da ist Heimat) scheint nicht zu gelten. Darf man sich irgendwo in der Welt zu Hause fühlen, wenn es einen israelischen Staat gibt, in dem alle Bedürfnisse nach einer endgültigen Heimat befriedet sein sollten? Ist Zufriedenheit mit irgendeinem Weltwinkel kein Verrat an Eretz Israel?

Nach Ernst Bloch war Heimat etwas, das „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ Damit war der Himmel gemeint. Bloch glaubte, schon auf Erden Engel im Himmel zu hören. Das Marx‘sche Reich der Freiheit war ein irdischer Vorschein auf das endgültige Paradies im Jenseits.

So dogmatisch kindlich wollte Adorno nicht formulieren, obgleich er Ähnliches glaubte, wenngleich mit skeptischen Untertönen. Adornos Heimat im Schreiben, in der Sprache, muss als Kürzel des Himmels verstanden werden. Wenn ich schreibe, bewege ich mich im Wort, dem Medium Gottes, das am Anfang war. Wenn Sprache als Heimat der Vorschein des Himmels ist, ist Erde nicht mehr heimatsfähig.

Die alten Hebräer lebten mit beiden Beinen auf der Erde, ein Jenseits war ihnen ein Nichtort. Sie starben alt und lebenssatt. Juden- und Christentum haben sich messianisiert und ihre Heimat ins Zukünftige und Jenseitige verlagert. Mit Globalisierung hat das nur äußerlich zu tun. Eine vernünftige Globalisierung ist die Erweiterung national begrenzter und bornierter Heimaten zur planetarischen Heimat.

Durch Übersetzbarkeit aller Sprachen in alle spielt die eigene Sprache keine exklusive Rolle mehr. Die deutsche oder hellenische Sprache sind keine Ursprachen, aus denen das Sein spräche und an der sich andere Sprachen orientieren müssten. Der Mensch lebt nicht von Sprache allein, er braucht liebende Menschen und vertraute Landschaften als Ort der Geborgenheit.

(Stefana Sabin in der NZZ)

 

Wann begann die wissenschaftliche Selbsterforschung des Judentums? Als zwei Ereignisse in Deutschland zusammenfielen: Aufklärung und Emanzipation des Judentums. Nicht das Christentum hat das Judentum als gleichberechtigt akzeptiert, es war das Verdienst der „gottlosen“ Vernunft.

Über dieses Thema schreibt Christoph Schulte. „Die Wissenschaft des Judentums sollte keine Religionswissenschaft werden. Vielmehr sollten das ganze Judentum, seine lange Geschichte und seine gesamten kulturellen Leistungen systematisch wissenschaftlich erforscht werden.“

Ohne Haskala, der jüdischen Aufklärung – einer Abteilung der allgemeinen Aufklärung – wäre eine jüdische Wissenschaft unmöglich gewesen. „Der Haskala, jener jüdischen Aufklärungsbewegung, die sich in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Berlin im Umkreis Mendelssohns gebildet hatte, verdankte sie den kritischen Umgang mit Rabbinern, der rabbinischen Tradition und ihren religiösen Geboten, nicht zuletzt den Impetus, das Judentum über sich selbst und die Nichtjuden über das Judentum aufzuklären.“

Die allgemeine Aufklärung trug dazu bei, dass wissens- und freiheitsbegierige Juden der Getto-Herrschaft ihrer Rabbiner entkamen und die Religionskritik der Voltaire, Diderot & Kant ins Jüdische übertrugen. An vorderster Stelle Moses Mendelssohn, der Freund Kants. Zuerst war die prinzipielle Kritik, dann kam die Sichtung, Bewahrung der jüdischen Schriften und des ganzen traditionellen Erbes hinzu – eine Anregung der Romantik. „Die rabbinische Tradition, deren normative Autorität die Haskala kritisiert hatte, wird mit romantischem Gestus durch die Wissenschaft des Judentums erinnert und aufbewahrt.“

Hier darf nicht unterschlagen werden, dass die Romantik keine objektive Literaturwissenschaft war, sondern ihre Leidenschaft an alten Texten mit der Rückkehr in den alten Glauben verband. Auch die neue Wissenschaft des Judentums war eine Mischung aus scharfer Religionskritik und Kompromissen mit dem alten Glauben.

Das Ergebnis war das deutsch-jüdische Reformjudentum, das sich immer weiter von alttestamentarischen und orthodox-rabbinischen Wurzeln entfernte. Selbst die Beschneidung der Knaben war umstritten, an ihre Stelle sollte eine symbolisch unblutige Beschneidung – „Beschneidung am Herzen“ – treten. Verglichen mit diesen radikalen Reformen muss die heutige Beschneidung mit dem Skalpell als Rückfall in die jüdische Voraufklärung gedeutet werden.

Die politische Befreiung des Judentums war ein riesiger Fortschritt – für jüdische Freiheitsfreunde, gleichzeitig eine große Gefahr – für traditionelle Religionswächter. Wer sich der allgemeinen Gleichheit anschloss, konnte nicht gleichzeitig einer separate Religionsgemeinschaft angehören.

Die Aufklärung wurde zur größten Gegnerin aller exklusiven Kirchen und Synagogen. Hätte sich die Aufklärung vollständig in Europa durchgesetzt, gäbe es heute keine politisch einflussreichen Offenbarungsträger mehr. Glaube wäre nichts als eine private Skurrilität. „… den Pionieren der Wissenschaft des Judentums war völlig klar, dass mit der staatsbürgerlichen Emanzipation die jüdische Minderheit als politische Gruppe und soziale Entität (minderen Rechts) verschwinden würde. Die Religionsausübung wurde für den modernen Staatsbürger jüdischen Glaubens reine Privatsache, die halachische Observanz unterlag keiner sozialen und religiösen Kontrolle mehr, die Macht von Synagoge und Rabbinat war gebrochen.“

Doch so schnell geben sich Erlösungsreligionen nicht geschlagen. Die meisten Europäer waren außerstande, ihre Glaubensreflexe über Nacht abzulegen. Die Macht der jeweiligen Götter durch Androhung von Höllenstrafen sind bis heute intakt.

In Amerika ist die Macht des Glaubens durch Abwesenheit einer nationalen Aufklärungsbewegung bis heute ungebrochen. In Deutschland war die Aufklärung nie radikal religionskritisch und klammerte sich fest an den Rockschößen des himmlischen Vaters. In Israel ist es den Ultras gelungen, das religiöse ES der säkularen Gesellschaft zu besetzen, zu aktivieren und peu à peu in Politik zu transformieren.

Was war das Ergebnis der deutsch-jüdischen Wissenschaft über das Judentum? „Es galt, durch Wissenschaft zu beweisen, dass das Judentum eine grosse Vergangenheit hatte und intellektuell wie kulturell nicht minderwertig war, sondern einen bedeutenden Beitrag zur europäischen Kultur geleistet hatte.“

(Christoph Schulte in der NZZ)

 

Wie sehr die Macht der Frommen über Israel gediehen ist, zeigt Dan Diner, der der israelischen Gesellschaft keine „Selbstheilung“ mehr zutraut und nur noch auf die Hilfe Amerikas wartet: „So bleibt nur die Hoffnung auf einen deus ex machina – auf die aktive Einflussnahme jener Macht, die zwar nicht mehr alles, aber noch genug vermag: Amerika, das klassische Land der Diaspora.“

Das ist absolute Hoffnungslosigkeit, in kühlen Worten artikuliert. Von Deutschland erhofft sich der in diesem Lande geborene Historiker nichts. Solche indirekten Aufschreie will man hier nicht hören. Die Antisemitismus-Wächter lenken durch ihr unqualifiziertes Getöse vom Umstand der grassierenden Hoffnungslosigkeit ab. Philosemiten sind mit Israel überidentisch und zur Kritik unfähig.

Wie konnte sich die fundamentalistische Frömmigkeit in der anfänglich atheistisch-zionistischen Gesellschaft derart erfolgreich durchsetzen? „Eine zahlenmässig nicht unerhebliche, ideologisch erhitzte Minderheit vermochte der pragmatisch eingestellten Mehrheit ihren Willen aufzuerlegen. Die Nachgiebigkeit der Letzteren verdankt sich nicht zuletzt dem – beiden Strömungen gemeinsamen – Glauben an die politisch-theologisch begründete Legitimität des israelischen Staatswesens. Während die einen den biblischen Anspruch im Prinzip zwar gelten lassen, von dessen weiterer praktischer Umsetzung aus wohlerwogenen politischen Gründen aber absehen, stehen die anderen bereit, diesen Anspruch in sozusagen wörtlicher Verschärfung zu erfüllen – in Gestalt der in Beton gegossenen Siedlungen.“

Auch die Säkularen sind von der biblischen Legitimität der Landnahme überzeugt. Zwar wollen die Gemäßigten keine Taten folgen lassen, gleichwohl sind sie unfähig, dem eisenharten Willen der Ultras etwas Wirksames entgegenzusetzen. Kunststück, schließlich sind sie von der Wahrheit der biblischen Positionen tief überzeugt.

Mit anderen Worten: Umfrageergebnisse hin oder her, Israel ist so wenig aufgeklärt wie Amerika und Deutschland.

(Dan Diner in der NZZ)

 

Paul Mendes-Flohr stellt die Frage, ob es heute noch eine jüdische Philosophie gebe? Große Namen wie Martin Buber, Franz Rosenzweig oder Hermann Cohen gäbe es heute keine mehr.

Was ist eine jüdische Philosophie? Eine jüdische Religionsphilosophie? Wie hat sie es mit der Vernunft? Oder bezieht sie sich auf Offenbarung?

Zusammen mit der Postmoderne könne die jüdische Philosophie nicht mehr so recht an die Vernunft „glauben“. „Die postmoderne Stimmung – denn es handelt sich ebenso sehr um eine Stimmung wie um eine definierte Denkrichtung – wurzelt nicht zuletzt auch in einem immer tiefer reichenden Bewusstsein, dass im verstörenden Licht von Auschwitz – aber auch von Hiroshima und den Gulags – die westliche Zivilisation mitnichten eingelöst hat, was sie zu verheissen schien.“

Was denn nun? Schien sie es zu verheißen oder verhiess sie es wirklich? Ist die „westliche Zivilisation“ identisch mit Vernunft? Hat nicht Kant eindringlich darauf hingewiesen, dass wir uns noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter befinden, sondern in einem Zeitalter unendlicher Aufklärung? Kein Zeitalter kann etwas versprechen. Und selbst wenn, haben alle Epochen selbst ihre Hausaufgaben zu machen und sich nicht wie enttäuschte Kinder hinzustellen, denen man den Weihnachtsmann versprach.

An dieser Argumentation ist alles falsch. Gibt man den Glauben an die Humanität auf, weil es noch immer inhumane Dinge auf der Welt gibt? Ist Humanität das Geschenk einer Epoche an spätere Epochen? Dann hat man weder Kant noch die Aufklärung verstanden, die solange in Realität verwandelt werden muss, bis dieselben tatsächlich aufgeklärt sind. Wer die Geduld verliert und sich der Vernunft verweigert, verstärkt die Widersacher der Vernunft.

Die Kapitulation der Ratio ist der Triumph der Erlöser, die dem Menschen noch nie etwas zutrauten und alles auf überirdische Mächte setzen. Die Postmoderne ist ein Verrat an der Vernunft mit romantischer Rückkehr zum Glauben der Kirchen und Synagogen.

Es ist eine abenteuerliche Analyse, den Mord an Millionen von Menschen einer „kultivierten fortschrittlichen westlichen Nation“ anzulasten. „Kultiviert, fortschrittlich und westlich“ sind keine Synonyma für eine humane Nation. Deutschland agierte als religiös-apokalytische Erlösungsnation, die alle rationale Vernunft verwarf.

Wer hat den Unfug in die Welt gesetzt, „wir“ seien aufgeklärt? Völlig falsch die Behauptung, der „postmoderne Kulturrelativismus“ erlaube den Juden, „ohne weiteren Rechtfertigungsdruck“ Juden zu sein – „so wie Eskimos und Hindus Eskimos und Hindus sein dürfen.“

In einer vernünftigen Demokratie müssen nur politische Angelegenheiten rechtfertigt werden. Solange jeder für sich glaubt, ohne die Polis zu tangieren, gilt Friedrichs Satz: jeder soll nach seiner Facon selig werden.

Dass eine Toleranz „urteilsfrei“ sein soll, als ob man keine Meinung über Religionen und alles in der Welt haben dürfte, ist abwegig. Philosophisch berechtigt ist die Frage allemal: wie irrationaler Glaube und aufgeklärtes Denken zusammenpassen. Wer allerdings auf Denken keinen Wert legt, kann sich stumm in seinen heiligen Bezirk zurückziehen.

Mendes-Flohr sieht selbst die Gefahren der Vernunftabweisung: „Die daraus folgende Abstumpfung des kritischen Urteilsvermögens ist ein alarmierendes Signal, denn eine wache, informierte Debattenkultur, die auch den Dissens zulässt, ist lebensnotwendig für eine demokratische Kultur, in der Diaspora so gut wie im Staat Israel selbst.“ Mangelndes Argumentieren würde die Hoffnung unterminieren, „das Judentum als intellektuell, spirituell und moralisch verpflichtende Lebensform wiederzubeleben.“

Wie man eine Offenbarungsreligion mit autonomer Vernunft plausibel machen kann, bleibt ein Rätsel. Daran ist schon das ganze Abendland von Thomas von Aquin bis Hegel gescheitert. Mit Hilfe der Vernunft soll der jüdische Glaube auch für Nichtjuden verbindlich gemacht werden. (!!) „Wenn man die Macht des Gottes Israels auf das jüdische Volk beschränkt, dann wird er zum Gott der Juden und der Juden allein; und eine solche Beschneidung der göttlichen Macht kommt im Ergebnis der Idolatrie gleich.“

Philosophie wird, wie im katholischen Mittelalter, zur Magd der Theologie und einer expandierenden Missionsarbeit degradiert.

(Paul Mendes-Flohr in der NZZ)

 

Für den ungarischen Schriftsteller György Konrad sind Juden zerstreut unter den Völkern und dennoch ein zusammengehöriges Volk. Gegenüber anderen Staaten hat es eine „Sonderstellung“ und legt Zeugnis ab für den Monotheismus.

(György Konrad in der NZZ)

Sonderstellung – eine Glaubensfrage? Welche politischen Konsequenzen sind mit dieser verbunden? Der Judaismus sei mit den heiligen Schriften des Judentums noch nicht abgeschlossen und entwickle sich immer weiter fort. Selbst judenkritische Schriften von Juden gehörten in die jüdische Tradition. „Eine scharfe Trennlinie zwischen religiöser und weltlicher Meditation kann nicht gezogen werden. Die von den weltlichen Juden verfassten Bücher – von Spinoza bis hin zu Kafka und darüber hinaus – sind Bestandteile der jüdischen Tradition.“

Offensichtlich entscheiden nicht die Inhalte über die Qualität der Schriften, sondern die Herkunft der Autoren. War Spinoza noch Jude? Von den leitenden Rabbinern seiner Amsterdamer Gemeinde wurde er hinweggejagt und verflucht. Seine Schriften sind ohne die griechische Stoa schlechterdings undenkbar. Seine These: Gott oder Natur, ist sachlich das Antijüdischste, was man sich denken kann.

Wenn alles jüdisch ist, was Juden produzieren – selbst wenn sie dem Judentum abgeschworen haben –, sind Marxens und Freuds Religionskritiken identisch mit den Gebeten der Ultras. Juden gehörten zu den ältesten Völkern der Welt (ist das eine Auszeichnung?), gleichwohl müssten sie sich fortwährend neu erfinden.

Das ist dieselbe fahrlässige Hermeneutik wie im Christentum seit Schleiermacher. Was christlich ist und wäre es noch so antichristlich, bestimmen noch immer Richter und Propheten, die voll sind des Heiligen Geistes. Amen.

Konrad vereinnahmt alles jüdisch, wenn es nur von jüdischen Personen stammt. Auch Christentum sei nichts als jüdisches Gedankengut. „Durch Jesus haben die Christen die jüdische Tradition empfangen. Er bringt das Judentum in die gesamte christliche Welt.“

Gibt’s keinen Widerspruch zwischen beiden Religionen? Sind Widersprüche Petitessen, die man ignorieren kann? Das Neue Testament hat auch den religiösen Antisemitismus begründet. Ist das Judentum demnach der Erfinder des Antisemitismus?

Es wird immer bunter. Die drei Erlösungsreligionen seien keine exklusiven Verkünder des Heils, sondern müssten sich gegenseitig verstehen. „Die drei grossen monotheistischen Religionen sind dazu verurteilt, einander zu verstehen. Wir sind dazu gezwungen, auch unsere Religionen miteinander in Kontakt zu bringen. Das Ziel besteht im Aufbau eines Dialogs mit dem Islam. Allah und der Allmächtige sind ein und derselbe.“

Da werden sich alle Fundamentalisten freuen, wenn Jahwe und Allah eine Person sind. Bekanntlich ist Verstehen kinderleicht, wenn es nur energisch befohlen wird. Für Konrad gibt’s mit Widersprüchen kein Problem. Je inkompatibler etwas scheint, umso mehr muss es harmonisiert werden.

Juden ist es gegeben, „in dieser unauflöslichen Dualität zu leben: zwischen globalem und nationalem Selbstverständnis, Zerrissensein und Ambivalenz! Einerseits universelle Herausforderung und andererseits nationale Einsamkeit.“

Konrads dialektische Schrotmaschine schrotet problemloser und eleganter als Hegel. Das Judentum sei dazu da, multipolar zu denken. „Es ist unvermeidlich, dass das Judentum diese in seinem Sein wurzelnde Multipolarität verstehen muss. Auf jene Wahnvorstellung, dass der eine Bezugspunkt oder Pol als wahrer und richtiger die beiden anderen, die in diesem Fall weniger wahr und richtig zu sein scheinen, in sich aufnehmen und ersetzen könnte, müssen wir verzichten.“

Mit einem Federstrich hat Konrad alle Unvereinbarkeiten, exklusiven Intoleranzen und Widersprüche zu einem Menschheitsbrei verrührt. Bei den Menschen ist dies unmöglich, bei Gott und Konrad sind alle Dinge möglich.

In der jüdischen Philosophie erkennen wir dieselben Probleme und Denkfallen wie in der christlichen. Keine klare Abgrenzung zwischen Ratio und Offenbarung: Vernunft ist Selbstdenken des Menschen, Glaube muss sich überirdischen Offenbarungen unterwerfen.

Die jüdische Identität soll nicht definierbar sein. Es ist, als ob die Juden noch immer Angst hätten vor Attacken Andersgläubiger, dass sie sich durch Unkenntlichkeit immunisieren müssten, um den Gegnern keine Angriffsfläche zu bieten. Wie Jahwe seinen Namen verschweigt und weder durch Bildnis noch Gleichnis erfassbar sein will, so will jüdische Identität weder Volk noch Religion sein. Sie definiert sich am liebsten durch Anderssein. Was Welt ist, das ist sie nicht.

Diese negative Identität ist abhängig von Identitäten anderer und basiert nicht auf unabhängiger, selbstbestimmter Entscheidung. Das zwanghafte Andersseinmüssen wird gefährlich in seinen politischen Konsequenzen. Wenn man stets davon abhängig ist, dass man von der Welt abgelehnt wird, muss man penetrant das Gegenteil tun von dem tun, was die Welt für richtig hält. Das ist pubertierendes Trotzverhalten im Namen einer Religion.