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Sonntag, 01. Juli 2012 – Mythos und Logos

Hello, Freunde der Transparenz,

Migros will seine Kunden nicht bevormunden, sondern Transparenz herstellen, damit sie sich entscheiden können, ob sie Lebensmittel aus besetzten Gebieten in Palästina kaufen wollen oder nicht. Das sei keine Stellungnahme in einem politischen Konflikt.

Warum so hasenfüßig? Es ist sehr wohl eine Stellungnahme, dass besetzte Gebiete besetzte Gebiete sind und man nicht einfach ignorieren kann, dass Besetzungen gegen herrschendes Völkerrecht verstoßen. Es ist unverfroren, von befreundeten Völkern zu verlangen, die illegalen Produkte eines besetzten Landes mit legalen des Ursprungslandes gleichzusetzen.

Der Mensch sieht, was vor Augen ist, doch Broder sieht das Herz an und da sieht er bei Migros nichts Gutes. Per Erinnerungsanalogie setzt er historisch unrühmliche Vorgänge der heutigen Aktion gleich.

Wenn Freud von Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten spricht, um Wiederholungszwänge aufzubrechen und zu vermeiden, klingt das wie die theoretische Grundlage der Broder‘schen Anklagemethode. In der Tat ist es unerlässlich, sich seiner primären seelischen Verwundungen zu erinnern, sie erneut „bluten und schmerzen zu lassen“, damit sie verheilen können. Unbewusste Schmerzen müssen bewusst werden, damit ich

ihren repetierenden Abkömmlingen im gegenwärtigen Leben auf die Spur komme. Wunden können verheilen, wenn ich ihre Arbeitsweise durchschaue.

Was, ich tue mir und andern an, was man einst mir angetan hat? Das Erkennen unverhüllter Realität ist ein Akt psychischer Gesundung. Wenn ich Wirklichkeit sehe, wie sie ist und ihr standhalte – und sei sie noch so schmerzlich –, erkenne ich ihre Wahrheit. So formulierte man das in Zeiten, als noch an Wahrheit geglaubt wurde.

 

„Wahrheit macht frei“, steht über dem Hauptportal der Freiburger Uni. Es ist ein Wort des Christus aus dem Evangelium des Johannes, der ein hellenisch gebildeter philosophischer Kopf gewesen sein muss.

Mit welcher Wucht er schon beginnt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.“ Es ist, als schleudere ein Titan riesige Quader aus eisigen Höhen in die Täler der Sterblichen.

„Normalsterbliche“ Gottesdienstbesucher und Bibelleser können mit johanneischen Texten nichts anfangen, sie halten sich an die Geschichten und Erzählungen der drei anderen Evangelisten, von denen Johannes erheblich abweicht, weswegen man ihm seit jeher eine Sonderrolle zubilligte.

Was sie nicht wissen können, weil auch ihre Gottesgelehrten es verdrängen, ist, dass Johannes sich mit der griechischen Philosophie beschäftigt, um sie auszustechen, umzudeuten und zu übertrumpfen. Im Anfang war das Wort, heißt im griechischen Original: im Anfang war der Logos.

Luther hat Logos mit Wort übersetzt, Goethes Faust mit „Tat“, wohl in der Annahme, bloßes Wortemachen sei Geschwätz, mit folgenlosem Geschwätz könne man den Ursprung des Seins aus dem Nichts nicht erklären.

Hätte Nietzsche übersetzt, hätte er vom Willen gesprochen. Nachdem der Deutsche nach dem Verfall seiner mittelalterlichen Herrlichkeit der kranke und bedeutungslose Mann in Mitteleuropa war, musste er den großen Hammer aus dem Schrank holen, um mit dem Willen zur außerordentlichen Tat die Welt zu verblüffen. Was ihm bekanntlich auch gelang, nur anders, als er dachte.

Nietzsches Philosophie mit dem Hammer beruht auf der Identität von Wille und Tat. Vernunft ist bei diesem herkulischen Duo nicht vorgesehen, ja, sie wird rüde vor die Türe gesetzt. Wille und Tat wollen ihre überschüssige Kraft loswerden, da kann Vernunft nur stören, die dem vulkanischen Geschehen Grenzen setzen will. Grenzen sind das letzte, was die beiden Muskelgesellen brauchen. Sie wollen explodieren und bersten, auch wenn die Welt in Trümmer geht.

Die schulbuchmäßige Einteilung des Menschen ist ein Dreierpack: der Mensch besteht aus Vernunft, Gefühl und Wille. Bei den Griechen gab‘s fast noch keinen Willen, erst bei Aristoteles beginnt eine erste Annäherung an die Frage: Vernunft schön und gut, doch was, wenn sie kraft- und willenlos bleibt?

Auf diese Frage wäre Sokrates nicht gekommen, so überzeugt war er von der Macht vernünftiger Einsicht über den Menschen.

Der Glaube an die Vernunft musste also schon abgenommen haben, um ihr einen willentlichen Krückstock beizulegen. Es war aber nicht die individuelle Vernunft, die zu schwächeln begonnen hatte, sondern die kollektive Vernunft der Demokratie.

Es kann der Vernünftigste nicht vernünftig leben, wenn das gesamte Umfeld auszurasten beginnt. Entweder betätigen wir Vernunft als politische Gemeinschaftssache oder Vernunft und Gemeinschaft werden hopps gehen.

Bei Platon gibt’s noch keinen richtigen Willen, sondern den thymos, was Mut und wehrhafte Tapferkeit bedeutet. Platons Seelenmodell kann man seinen drei Ständen im Staat entnehmen, dem Lehrstand, Wehrstand und Nährstand.

Der Staat ist eine große Seele, ein Riesenmensch. Oben die vernünftigen Philosophenkönige, unten der Plebs, in der Mitte die Krieger. Einen besonderen Willen, unabhängig von der Vernunft, brauchten die Krieger nicht, standen sie doch unter dem Reglement der philosophischen Vernunft. Im Kriegsfalle hatten sie nur tapfer die Entscheidungen der Weisen zu exekutieren.

Erst mit Augustin und dem christlichen Dogma beginnt die Solokür des Willens. Lag die griechische Vernunftdemokratie ohnehin auf der Schnauze, setzten die Gläubigen triumphierend den Fuß auf die Halbleiche und gaben ihr den letzten Rest: Vernunft ist vermessen, sündig, hybrid und muss endgültig stranguliert werden.

Gott wurde zum Logos erklärt, doch mit Vernunft hatte das nichts zu tun. Am besten hätte man formuliert: Im Anfang war der Wille. Denn Gott hat zwar auch Vernunft erschaffen – wie alles auf der Welt –, doch alles war durch den Sündenfall von „sehr gut“ in „miserabler geht’s nicht“ umgetauft worden.

Das Christentum hat die hellenische Antike durch Umwertung aller Werte unter sich begraben und hätte sie beinahe folgenlos eliminiert, wenn nicht in bestimmten Ländern, die später von Muslimen erobert wurden, der Logos überwintert hätte und ins erwachende Europa weitertransportiert worden wäre.

Gottes allmächtiger Wille konnte alles umfassen. Von Erschaffen aus dem Nichts über diktatorisches Regieren, Lieben, Eifersüchtig sein, in unmäßigen Zorn geraten, alles Vernichten wollen, Bedauern und Erlösen bis Richten und Verdammen.

Das war der absolut freie Wille, das Vorbild der deutschen Freiheit, die immer an die Leine gelegt werden muss, um nicht in Berserkerlaune aus Allem wieder Nichts zu machen.

Freiheit in Verantwortung ist keine vernünftige Freiheit. Als solche bräuchte sie keine zusätzliche Verantwortung, weil sie sich gar nicht als chaotisch und unberechenbar definiert. Vor wenigen Jahren sprach man in Theologenkreisen noch gern von Freiheit in Bindung, von gebundener, gefesselter Freiheit.

Alle diese Übersetzungsversuche des johanneischen Logos haben mit dem griechischen Logos nichts zu tun. Für die Stoa ist Logos – woher die „Logik“ – die Vernunft der Welt, das, was den Kosmos im Innersten zusammenhält. Diese Vernunft, identisch mit der Weisheit der Natur, braucht keine Berserker-Tat, keinen irrationalen Willkür-Willen.

In ihr ist alles Natürliche vernünftig, alles Vernünftige natürlich. Alles geht seinen ruhigen und wohlgeordneten Gang ewiger Kreisläufe, ohne auf Brachialgewalten und abrupte Willensentscheidungen angewiesen zu sein.

Heute ist alles auf den Kopf gestellt, die Natur zur sündigen Creatio verkommen, die man mit Geist kurieren muss, bis ihr Sehen und Hören vergehen wird.

Wilhelm Nestle unterscheidet zwischen Mythos und Logos. Lassen wir ihn den Unterschied selbst erklären: „Der Logos sucht die Wirklichkeit in vernünftiger Rede, in begrifflichem Ausdruck zutreffend wiederzugeben: der Mythos aber macht aus dem Begriff ein Bild, aus einem tatsächlichen Sachverhalt eine erdichtete Geschichte. Deswegen ist der Mythos eine Sache der Dichter, die eben deshalb, weil sie täuschen, nicht ernst genommen werden dürfen. Darin, dass es der einen nur um den täuschenden Schein, der andern um das Sein zu tun ist, hat der alte Streit zwischen Poesie und Philosophie seinen Grund.“ (Vom Mythos zum Logos)

Diese Sätze müssen heute unverständlich klingen, denn heute wollen Denker Poeten und Poeten Denker sein. Vor allem, wenn sie Alexander Kluge heißen, oberster Geschichtenerzähler der Nation, von allen Medien bejubelt.

Märchen sind zauberhafte Mythen, um Kindern die Welt in Geschichten nahe zu bringen und zum Denken anzuregen. Beginnen die kleinen Zuhörer ins Denken zu kommen, müssen die Geschichten verwandelt werden in „vernünftige Rede“, die dialoggeeignet und überprüfbar ist. Ende der Mythen. Es beginnt die Lust am mäeutischen Gespräch und am Streiten als erstem Kräftemessen des erwachenden Denkens.

In der regredierten deutschen Intelligentsia wird nicht mehr gestritten, es werden Kunstmärchen und Geschichten erzählt. Nach Nestle haben die Deutschen den Logos verraten und sind zum Mythos zurückgekehrt. Danach wäre Kluge der Verführerischste unter den deutschen Scheindenkern und Mythopoeten, die sich der vernünftigen Rede entziehen und sich mit dem Mantel des Geschichtenerzählers immunisieren.

Wenn die europäische Aufklärung mit dem Weg vom Mythos zum Logos begann, wird sie durch momentane Rückkehr vom Logos zum Mythos wieder ausgelöscht. Unter dem Beifall aller feuilletonistischen Logen.

Johannes war Lieblingsjünger des Herrn, sein Evangelium – wenn’s denn von ihm stammt – war Lieblingsevangelium der meisten deutschen Philosophen und Helden, von Fichte bis – Hitler. Wie der Sohn sich mit dem Vater identisch fühlte, so der Führer mit der Vorsehung, so das Volk mit dem Sohn der Vorsehung.

Was bedeutet der Satz Jesu: Die Wahrheit wird euch frei machen? Schauen wir den Kontext an. Jesus sagt den gläubig gewordenen Juden: „Wenn ihr in meinem Worte bleibt, seid ihr in Wahrheit meine Jünger und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ ( Neues Testament > Johannes 8,31 f / http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/8/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/8/“>Joh. 8,31 f)

Wer in der Wahrheit ist, wird frei werden. Doch in welcher Wahrheit? Der Wahrheit des Glaubens an Jesus. Der aber beruht auf einer scheingeschichtlichen Erzählung, auf einem Mythos.

Der griechische Logos der Wahrheit wird von Jesus in einen Mythos verwandelt. Damit ist er zum Vorbild aller deutschen Intellektuellen geworden, die dem vernünftigen Diskurs ins Geschichtenerzählen entfliehen.

Wahrheit – Produkt allgemeiner Vernunft – wird in die Gefangenschaft des mythischen Glaubens an eine fiktive Person geführt.

Begann schon die Romantik mit dem geordneten Rückzug ins Mittelalter, müssen wir konstatieren, dass wir uns in der Epoche einer Neoromantik befinden, die sich zur fabulatorischen Absegnung des Neoliberalismus hergibt. Auf der einen Seite knallhart und mit harten Bandagen nach innen und außen, auf der anderen das verzückte Augenrollen in der Märchenstunde bei Onkel Kluge.

Es sind keine Urmärchen, die die deutschen Mythologen präsentieren. Es sind wirre, labyrinthische und läppische Collagen aus allem, was die Gazetten täglich ins Haus schwemmen.

Echte Märchen sind exemplarische Erinnerungen an die Entwicklung des Menschengeschlechts. Wer Märchen erzählt, reproduziert archetypische Wegmarken der Ich- und Wir-Entwicklung aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit.

Heutige Kunsterzählungen hingegen entstammen dem Bereich der privaten Sprache (griechisch gesprochen: der Idiotensprache), die nichts Exemplarisches haben, in denen sich, wenn überhaupt, nur diejenigen wiedererkennen, die sie sich aus den Fingern gesaugt haben.

 

Für die notwendige politische Erinnerungsarbeit fallen Kluge & Co vollständig aus. In wichtigen Auseinandersetzungen der Gegenwart – Grass, Kölner Urteil, Mosebach – ist Kluge nicht zu finden, lieber hält er Monologe und spielt den Rhapsoden schlechter Unendlichkeit.

Auf der anderen Seite ist Henryk M. Broder der einzige, der an wesentliche Fakten der kollektiven Geschichte erinnert, um Wiederholungen des Grauens zu verhindern.

Das sind die beiden Erinnerungsfraktionen der Gegenwart, die sich gegenüber stehen und sich nichts zu sagen haben. Juden erinnern an das Geschehene, immer in Angst, die Deutschen könnten alles verdrängen, Nichtjuden tun nichts als Verdrängen und spintisieren sich in ein Reich grenzenloser Privatmythen, die zur Erkenntnis nichts beitragen.

Doch auch Broder erfüllt nicht die Freud‘sche Formel. Er erinnert zwar, doch nur in schlaglichtartig-assoziativen Drohgebärden: wie es früher war, so ist es noch heute. Auf die mit Händen zu greifenden Unterschiede zwischen früher und heute geht er nicht ein. So wenig wie auf die flagranten Menschenrechtsverletzungen des heutigen Staates Israel, die man mit Hinweis auf Verbrechen anderer Länder nicht einfach wegwischen kann.

So werden notwendige Erinnerungen zu polemischen Bestätigungen des Vorurteils, dass Deutsche und Europäer es nie lernen und ihre Judenfeindschaft nur immer unter raffinierteren Rationalisierungen verstecken werden.

Transparenz-Aktionen wie bei Migros und anderswo sind unerlässlich.

Broders wertvolle Erinnerungen hätten nur eine Chance, wahrgenommen zu werden, wenn er sie nicht immer als Hackebeilchen benutzen würde, um sich selbst als unschlagbaren Helden, alle anderen aber als lernunfähiges Gesocks vorzuführen.

Mit Verlaub, Israel steht uns näher und muss schärfer in die Mangel genommen werden als Iran oder andere Unrechtsstaaten, die gar nicht den Anspruch erheben, vorbildliche Demokratien zu sein.

Broder muss den Kampf um die Erinnerung gegen die Kohorten schwatzhafter Verdrängungskünstler und Fabelerzähler innerlich schon aufgegeben haben. Das erklärt die ermüdende Härte seiner Attacken, die niemanden mehr erreichen und die bestehenden Klüfte nur noch erweitern. Die Karawane der Geschichtsverleugner geht ihres Weges und lässt die Hunde bellen.

Broder erinnert und wiederholt, er arbeitet nicht durch, denn er differenziert nicht. Die andere Seite kann nichts durcharbeiten, denn sie erinnert und wiederholt nichts.

Freud‘sche Erinnerungsarbeit kann Wunden heilen, weil sie sich der Wahrheit der Wirklichkeit stellt. Bewusstmachen, Wahr-nehmen, Erkennen sind Leistungen einer Ratio, die heute als Vulgärrationalismus vom Tisch gewischt wird – zugunsten einer irrationalen Verherrlichung des Traditionellen und Heiligen. So bei Navid Kermani in der Verteidigung seines Kollegen Mosebach.

Wie kann Wahrheit uns frei machen, wenn Vernunft – die einzige wahrheitsfähige Instanz, die wir besitzen – von Mythenerzählern erneut in Ketten abgeführt wird?