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Samstag, 30. Juni 2012 – Imperiale Wahrheit

Hello, Freunde der Demokratie,

haben Religionen ein Selbstbestimmungsrecht, wie Dieter Graumann, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, behauptet? Ja, seit Friedrich dem Großen kann jeder nach seiner Fasson selig werden – sofern er sich an die Gesetze der Demokratie hält. Hier endet das Selbstbestimmungsrecht aller Religionen.

Die Polis bestimmt die Grenzen des Heiligen. Das ist der Unterschied zwischen Theokratie und Demokratie. Im Vatikan, in einem Ajatollastaat, in einem jüdischen Staat unter ultraorthodoxer Herrschaft entscheiden heilige Schriften und deren Ausleger. In einer Demokratie entscheiden die volljährigen Mitglieder nach Maßstäben ihres Fürwahrhaltens und bestimmen über die Gesetze, die gelten sollen.

Nachdem das Urteil des Kölner Landgerichts zum Verbot der Beschneidung rechtskräftig geworden ist, hat das jüdische Krankenhaus in Berlin alle Beschneidungen eingestellt.

In Israel sind es zwei Prozent jüdischer Eltern, die den Ritus für ihre Söhne ablehnen. Das sind mehrere tausend Familien. Laut Umfrage würde ein Drittel aller Eltern von dem Brauch lassen, wenn der Gruppendruck der Gesellschaft nicht so groß wäre.

Und die Angst vor der biblischen Drohung nicht noch immer das Seelenleben moderner Menschen bestimmte. („Freunde sind das größte Problem, sie verurteilen uns für unsere Verweigerung,“ sagt ein Betroffener).

Wer sich nicht beschneiden lässt, „dessen Seele soll ausgerottet werden aus seinem Volk, weil es meinen Bund verlassen hat“, spricht Jahwe. Die rabbinische Rechtssprechung ist nicht mehr

ganz so rabiat wie die mosaischen Schriften. Ein Rabbiner aus dem 13. Jahrhundert meinte, auch ein unbeschnittener Jude sei vollwertiges Mitglied der Gemeinde. Nur beim Übertritt zum Judentum sei der „Brith“ obligatorisch.

Manche säkulare Juden verstehen ihre Freunde nicht, die Schweinefleisch essen, aber auf dem „brutalen, grausamen und primitiven Gebot“ bestehen. Dabei habe sich das Judentum schon in vieler Hinsicht angepasst, vor 2000 Jahren wurde der Opferdienst eingestellt, im Mittelalter die Polygamie verboten.

Im „offiziellen“ Israel – also bei den Meinungsführern – löste das Kölner Urteil Empörung aus. Der israelische Parlamentspräsident forderte den Bundestag auf, die Beschneidung gesetzlich zuzulassen. Fromme Juden fühlen sich an den hellenischen Besatzer Antiochus Epiphanes und den Römer Hadrian erinnert, die das Beschneidungsverbot schon in antiken Zeiten erließen.

Doch es gibt auch eine kleine Minderheit, die über das Urteil erfreut ist. Endlich werde das Recht auf körperliche Unversehrtheit über Religionsfreiheit gestellt. In Israel sei dies momentan unvorstellbar. Dennoch wolle man erneut einen Versuch starten, meint ein Aktivist. (Beitrag von Gil Yaron in der FAZ)

 

Necla Kelek beschreibt in der WELT die Probleme der Beschneidung in der muslimischen Welt und verweist auf die seelischen Schäden des „gesellschaftlich sanktionierten Missbrauchs.“

Die Geborgenheit, Sicherheit und das Vertrauen, das Kinder ihren Eltern entgegen bringen, werde durch die religiöse Intervention abrupt gestört und führe zu nachhaltigen Traumatisierungen. Die Kinder empfänden Ohnmacht und Verrat.

Die Traumata seien nicht zu bewältigen, würden eingefroren und verdrängt. Und stünden unter Wiederholungszwang. Nur so könne man sich erklären, warum diese Tradition fortleben könne.

Westerwelle ging auf Distanz zum Urteil, das im Ausland Irritationen ausgelöst habe. Eine interessante Begründung für einen gelernten Juristen. Auch führende Grüne, die mittlerweilen klerikophiler sind als die Majorität der CDU, halten das Urteil für „realitätsfremd“. So Claudia Roth, die sich offensichtlich mit den Nöten betroffener Eltern noch nie auseinandergesetzt hat.

Heiner Bielefeldt, Sonderberichterstatter der UNO für Religionsfreiheit, bezeichnete die Argumente des Gerichts gar als „groben Unsinn“ und „bizarre Aussagen“. In jüdischen und muslimischen Familien sei die Beschneidung eine weit verbreitete Praxis.

Bodenloser kann eine Kritik nicht sein. Die Mädchenbeschneidung ist auch in vielen muslimischen Kreisen noch immer eine weit verbreitete Praxis. Bielefeldt ist gelernter katholischer Theologe und Verfasser des Buches „Philosophie der Menschenrechte“, in dem er muslimische Gelehrte kritisiert, die Gottesrecht über weltliches Recht stellen. (Siehe SPIEGEL)

 

Gottesgelehrte aller Couleur müssen gemeinsam agieren, um die Herden ihrer stigmatisierten Gläubigen zusammenzuhalten. Was nie erwähnt wird in der Debatte: Beschneidungen sind irreparabel und ein lebenslanges Machtinstrument in der Hand rechtgläubiger Rabbiner. In Not- und Verfolgungszeiten sind Juden an dem genitalen Merkmal immer erkennbar und auf die Hilfe der Gemeinde angewiesen. Einmal Jude, immer Jude.

Eine Beschneidung ist ein Initiationsritus. In vielen Völkern gibt es vergleichbare Riten, bei denen heranwachsende Knaben durch Angst- und Schmerzerfahrungen ihre Mannbarkeit und ihren Erwachsenstatus erlangen. Nur, wer einen grausamen Test besteht, ist realitätstauglich.

Wer abgehärtet ist beim eigenen Schmerz, ist auch abgehärtet gegen die Schmerzen anderer, die er ihnen zufügen muss. Das ist der Fluch der erlittenen Tat, dass sie fortzeugend Leiden muss gebären.

Wer die archaische Barbarei solcher Riten beklagt und den Fortschritt der Moderne rühmt, sollte nicht vergessen, dass Härte, Empfindungslosigkeit bei Leid und Schmerzen zum wesentlichen Merkmal des wirtschaftlichen Wettbewerbs geworden sind. Aus einer einmaligen Initiationsprüfung wurde ein Dauerzustand der bürgerlichen Gesellschaft.

Merkwürdig ist schon, dass durch das Urteil nur die Juden und Muslime in den Fokus geraten. Dabei geht es allgemein um Sonderrechte der Religionen, die sich Parallelgesellschaften neben dem demokratischen Gemeinwesen einrichten dürfen.

Hätten die Bischöfe die Pflicht, ihre kinderschändenden Priester sofort dem Staatanwalt auszuliefern, wäre das Rechtsbewusstsein in der Kirche schärfer und ausgeprägter. Zudem müsste ihnen das Recht entzogen werden, das Privatleben ihrer Lohnabhängigen zu beschnüffeln und zu verurteilen. Hier gibt es noch mittelalterliche Inseln der Denunziation mitten in modernen Communities.

Das Sonderrecht auf Parallelgesellschaft begründen die Erlösungsreligionen mit dem Hinweis auf die jenseitige Parallelgesellschaft eines naturüberlegenen Himmels. Das unauslöschliche Brandmal, das sie ihren Anbetern zumuten, bedeutet: ab jetzt gehörst du nicht mehr der naturwüchsigen Familie oder irdischen Gesellschaft, du gehörst Mir, dem Gott.

Das Christentum kennt kein materielles Brandzeichen, aber ein geistiges. Wer zu Christus gehört, muss Abschied nehmen von Familie und menschlicher Gemeinschaft. Selbst seine Mutter weist der Spross des Himmels schroff zurück: „Weib, was hab ich mit dir zu schaffen?“

Wer ist seine wahre Mutter, sind seine wahren Brüder? „Und er streckte seine Hand über seine Jünger aus und sprach: Siehe, das sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ ( Neues Testament > Matthäus 12,48 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/12/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/12/“>Matth. 12,48 ff)

Das bedeutet Bruch mit der liebgewordenen Familie, die als heidnische und ungläubige eine stete Verführung zur Glaubenslosigkeit ist. Puritanische Eltern fürchteten am meisten die sündige Liebe zu ihren eigenen Sprösslingen, die sie zum frühestmöglichen Termin anderen Familien übergaben.

Die gängige Rede von der schnellstmöglichen Loslösung von der Familie – nicht zu verwechseln mit der geistigen Überprüfung der familiären Philosophie – hat hier noch immer ihren Ursprung.

Amerikanische Jugendliche lösen sich schnell von ihrem Ursprungsnest, übernehmen aber komplett dessen ökonomische Ideologie. Nur wer sich geistig löst, hat Chancen, emotionale Nähe zu bewahren oder herzustellen. Christus war kein Freund der intakten Familie.

Kohls Phrase, Famillje sei eine christliche Erfindung, ist genau so wahr wie die, dass Menschenrechte und Demokratie Erzeugnisse des Heiligen seien. Das Gegenteil ist richtig, Jesus zerstört die Familie, dann hat er es leichter, seine Rekruten einzuziehen.

Es ist wie im Kapitalismus. Die Familien werden überstrapaziert, damit die Lohnabhängigen auch Gefühlsabhängige werden. Kaum ist der gestresste Vater zu Hause, um sich zu entspannen, schon langweilt er sich in seinen vier Wänden, wo er sich fremd und überflüssig vorkommt und strebt zurück, wo er den Großteil seines Lebens verbringen muss.

Was er hasst, davon ist er abhängig geworden. Die Schmerzen, die man erlitt, sind zur Sucht, die traumatischen Inititationsriten zum Dauerbedürfnis geworden.

Die Kriegserklärung gegen die Familie beginnt mit einem flammenden Aufruf zum allgemeinen Krieg gegen alles, was sich nicht unterwerfen will: „Meinet nicht, dass ich gekommen sei, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, einen Menschen mit seinem Vater zu entzweien und seine Tochter mit ihrer Mutter und eine Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter, und des Menschen Feinde werden die eignen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert; und wer nicht sein Kreuz nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird es verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.“ ( Neues Testament > Matthäus 10,34 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/10/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/10/“>Matth. 10,34 ff)

Eine verhängnisvollere Kriegserklärung an die irdische Familie, an das Leben auf Erden, an die politische Gemeinschaft der Menschen, ist nicht denkbar. Wer eine hasserfülltere Botschaft an Mensch und Natur in der Weltliteratur kennt, bitte Rückmeldung an die Redaktion.

Man darf sich die Kinderfrage stellen, wie es möglich wurde, dass solch unübertrefflich klare Texte a) entweder nicht zur Kenntnis genommen werden, b) oder zwar zur Kenntnis genommen, aber mit beispielloser Unverfrorenheit ins Gegenteil umgebogen werden, dass man wahrhaft sagen muss: Gläubige und Säkulare lassen sich gleichermaßen ein moraltriefendes X für ein menschenfeindliches U vormachen.

Eine apokalyptische Religion, die kein Hehl daraus macht, die gesamte Natur und die überwiegende Menschheit einzustampfen, macht im Abendland Karriere als Botschaft der Liebe. Eine PR-Leistung der genialsten Art in der ganzen Weltgeschichte.

Die Erklärung liegt in der konträren Auffassung über Wahrheit bei Griechen und Christen. Griechen, wie sonst fast alle Welt, verstehen unter Wahrheit die erkennende Übereinstimmung mit der Natur. Mein Denken muss sich nach der Natur richten, dann bin ich der Wahrheit auf der Spur. Ich lebe wahr, wenn ich den Einklang mit der Natur gefunden habe.

Bei Christen ist diese Definition völlig unmöglich, denn Natur ist – seit dem Sündenfall – in teuflischer Hand. Wahrheit als Übereinstimmung mit der Natur wäre Übereinsstimmung mit dem Teufel. Ich bin nur wahr, wenn ich Gottes Wahrheit übernehme, die inkompatibel ist mit der Natur.

Wo ist die zu finden? Da, wo ich Gott finde: in meiner Innerlichkeit, meiner unsterblichen Seele, die durch ein Gnadenerlebnis Gott aufgenommen hat. Das ist die Wendung in die Innerlichkeit bei Augustin. Nur ich und Gott, sonst nichts in der Welt ist von Bedeutung. Mein Ich wird zur Wiedergeburtsstätte der Wahrheit, zur Filiale des Himmels mitten in der teuflischen Welt.

Ab jetzt ist Wahrheit nicht mehr Nachahmerin der Natur, sondern Imperatorin der Natur. Womit wir bei der herrschenden Wahrheitstheorie der gesamten neuzeitlichen Philosophie gelandet wären. Wahrheit ist nichts Passives und Nachahmendes, sondern etwas apodiktisch Vorschreibendes. Der – göttlich erleuchtete – Mensch schreibt der Natur die Wahrheit vor.

Moderne Wahrheitstheorien sind alle apriorisch, konstruktivistisch und diktatorisch. Das Subjekt schreibt dem Objekt vor, was Wahrheit zu sein hat. Das ist eine komplette Übernahme der christlich-mittelalterlichen Wahrheitstheorie, nach der Gott seine Wahrheit der Natur komplett vorschreibt, indem er beide synchron aus dem Zylinder zaubert.

Da der Mensch Gottes Ebenbild ist, macht er’s akkurat wie sein Schöpfer. Seine Wahrheit schreibt er der Natur vor, die er ebenfalls aus seinem kreativen Ingenium hervorzaubert. In Gottes Auftrag erfindet er eine zweite künstliche, technische Natur, die die erste vernichten soll. Siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde.

Das ist die früher bewusste, heute unbewusste Leitdevise der neuzeitlichen Technik und Naturwissenschaft. Es muss alles neu werden. Die Natur ist alt, sie muss ausgerottet werden. Der Vernichtungskampf gegen die alte Natur geschieht mit Hilfe einer Wahrheit, die ich mir entnehme und der Natur vorschreibe.

Wahrheit ist nicht die Übernahme einer unabhängigen objektiven Realität, sondern das Überstülpen meiner Wahrheit über das Fremde. Der Mensch ist Meister und Besitzer der Natur und befiehlt ihr: übernehme meine Wahrheit oder geh zum Teufel.

Francis Bacon spricht sogar von Methoden der Vergewaltigung, der Versklavung und Folterung, mit denen die Menschen die Natur kirre machen.

Die berühmte Stelle bei Kant lautet, dass Vernunft nur das einsehe, „was sie selber nach ihrem Entwurfe hervorbringt.“ Dass sie Natur „nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten.“

„So übertrieben, so widersinnisch es auch lautet, zu sagen: der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur und mithin der formalen Einheit der Natur, so richtig … und angemessen ist gleichwohl eine solche Behauptung.“ Der Verstand ist also „selbst die Gesetzgebung für die Natur, d.i. ohne Verstand würde es überall nicht Natur … nach Regeln geben.“ „Die Ordnung und Regelmäßigkeit … die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein und würden sie darin auch nicht finden, hätten wir sie nicht … ursprünglich hineingelegt.“ (Kritik der reinen Vernunft)

Kant schreibt der Natur die Wahrheit vor, doch noch ist er ein wenig von der unbekannten Natur abhängig. (Das unerkennbare „Ding an sich“)

Fichte gibt sich mit solchen Halbheiten nicht mehr ab. Sein gottähnliches Ich produziert gleich die ganze Natur (das Nicht-Ich) mit omnipotenter Machtfülle. Bei Fichte kulminiert die christliche Gottebenbildlichkeit im absoluten ICH.

Die Botschaft der Schrift ist im Herzen des Abendlandes angekommen und hat die gesamte Philosophie unterwandert und erobert.

Wie Denker mit der Natur umgehen, gehen sie auch mit Texten um. Was im Text steht, bestimmen sie in souveräner Beliebigkeit. Wahrheit der Deutung ist nicht sklavische Nachahmung des Textes, sondern seine imperialistische Besetzung durch die Deutung des Lesers, der sich – im Besitz des Heiligen Geistes – ohnehin befugt sieht, das Evangelium „ständig fortzuschreiben.“

Bei Schleiermacher, einem Zeitgenossen Fichtes, heißt es unmissverständlich, jeder Christ müsse in der Lage sein, seine eigene Bibel zu verfassen.

Im rauschenden Gefühl überschwänglicher Allmacht muss es mir gleichgültig sein, welchen Text ich vor mir liegen habe. Was in der Schrift steht, bestimme noch immer ICH.

Das war die Erfindung der gottgleichen Kompetenz, Natur und Schrift nach Belieben zu drangsalieren und zu foltern. Oder ein X hemmungslos in ein U zu verwandeln.