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Samstag, 28. Juli 2012 – Selbsterfüllende Prophezeiung

Hello, Freunde der selbsterfüllenden Prophezeiung,

man könnte auch von Glauben reden. Ein kleiner Mann glaubt, dass er Kapitän werden wird. Wird der Glaube Realität, hat sich die Prophezeiung selbst erfüllt. Der Knabe hat seinen Glauben mit eigenen Kräften bewahrheitet. Ohne glaubenden und prophezeienden Vorentwurf kann es kein Leben geben.

Jugend ist die Lebensepoche, die sich durch vorwärtsschauenden Glauben und prophetisches Projektieren auszeichnet, im Alter überblickt man rückwärtsgewandt sein Leben und stellt fest, in welchem Maß Jugendträume wahr geworden sind. Jugend und Alter verhalten sich zueinander wie Verheißung und Erfüllung oder illusionäre Enttäuschung.

Lächerlich jener Alte, der davon träumte, die Welt aus den Angeln zu heben. Was nicht ausschließt, dass Tote erst über das Grab hinaus zur wahren Wirkung kommen. Deprimierend jene Heranwachsenden, die keinen Glauben mehr an sich haben.

Merkwürdige Debatte, der Vernunft vorzuwerfen, sie sei ein Glaube. Wäre sie es nicht, wäre sie eine saft- und kraftlose Vernunft, ja sie wäre überhaupt keine. Vernunft will Welt gestalten, ohne Glauben an ihre Gestaltungskraft wäre sie folgenloses Träumen.

Befindet sich der westliche Glaube noch im Zeitalter der Jugend? Hat das gläubige Abendland noch das Recht zum jugendlichen Glauben? Hat es nicht längst die Epoche des Alters erreicht, in dem man

zurückschauen und Bilanz ziehen sollte?

Welche Spuren in der Weltgeschichte hat das Credo vom Kreuz hinterlassen? Den Baum soll man nach seinen Früchten beurteilen. Welche Früchte sind auf den Bäumen der Frommen gewachsen, die Fremdlinge auf Erden sind und so schnell wie möglich das irdische Lazarett hinter sich lassen wollen?

Kann man die Geschichte der Gattung überhaupt nach Kriterien individueller Biografien einteilen? Wann war die Menschheit jung, wann war sie in der Blüte ihrer Kraft? Zumal es die Menschheit bislang noch gar nicht gab. Jede Hochkultur entwickelte sich jahrtausendelang unabhängig von anderen Kulturen.

Erst seit zwei bis drei Jahrhunderten sind die Kontinente durch Schiffe, Autos, Flugzeuge, Telefon und lichtschnelle Kabel zusammengerückt. Erst seit wenigen Dezennien ist der Planet zum globalen Dorf zusammengeschrumpft, in dem der Flug eines Schmetterlings in Peking die Wallstreet in New York zum Einsturz bringen könnte.

Die planetarische Weltkultur ist blutjung und beginnt gerade zu laufen, obgleich sie greisenhaften Individualkulturen aufgepfropft wurde, die vielleicht schon am Krückstock gingen. Im Unterbau in höchst unterschiedlichen Varianten uralt, entwickelt sich im Oberbau eine bisher nicht dagewesene embryonale Mischkultur, die alle Menschen und Nationen zu einer spannungsreichen Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißt.

Hat die Menschheit die Fähigkeit, sich zu verjüngen? Oder macht sie in demonstrativem Jugendwahn wie gestern der olympische Schaulauf in London, wo englische Geschichte als stolzes, unkritisches Spektakel in wirrer 3-D-Fantasy abgespult wurde? Erinnerungsarbeit in nationalistischer Selbstzelebrierung?

Hegel war der Meinung, dass die Menschheit ins Alter gekommen sei. Er selbst galt als junger Mann schon als abgeklärter alter Mann, der mit seiner Philosophie nichts verändern, sondern im Nachhinein alles gutheißen und absegnen wollte. Natürlich gab es noch viele Tatsachen, die den Hegel‘schen Ideen nicht entsprachen, doch für sie galt: „umso schlimmer für die Tatsachen.“

Die Philosophie kann die Welt nicht belehren, wie sie sein soll. Sie kann nur meditativ beschreiben, was der Weltgeist serviert und angerichtet hat. „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“

Diese Senilitätsbescheinigung der Philosophie und ihre Einweisung ins Altersheim hat sich Kraftprotz Marx nicht gefallen lassen. Mit der Faust schlug er auf den Tisch: die Geschichte schließt erst ab, wenn ich das sage. In Wahrheit befinden wir uns erst in der Vorgeschichte.

Wenn man Gattungsgeschichte in Individualpsychologie übersetzt, könnte man sagen, Marx habe die Menschheit wieder in den Bauch der Mutter zurückbefördert und den Greis zum vorgeschichtlichen Fötus erklärt.

Die Natur liegt noch in Wehen, um den wahren Menschen zu gebären. Marx ist die männliche Hebamme, die den homo novus dem alten und verdorbenen Kapitalismus entbindet, der bei der Geburt seinen Abschied nehmen muss.

Mit sokratischer Geburtskunst hat der proletarische Kaiserschnitt nur den Namen gemein. Der Sohn einer athenischen Hebamme wollte die angeborene, zeitlose Wahrheit eines jeden Menschen in gewaltloser Erkenntnis entbinden.

Marx wollte einen neuen Abschnitt der Heilsgeschichte in revolutionärem Feuer entbinden. Geboren werden sollten proletarische Zukunftssieger, eliminiert werden sollten verrottete Ausbeuter der Vergangenheit. Ausdrücklich spricht Marx von Geburtswehen, die man abkürzen oder mildern könnte – wenn man seine Geburtszangen als geeignete Instrumente der Wiedergeburt der Menschheit übernimmt.

Seine Theorie kann die „naturgemäßen Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und abmildern.“ Die Zeit gebiert sich selbst, die Menschheit erneuert sich wie Phönix in der Asche der Revolution.

Hätte Hegel recht mit seiner Greisendiagnose, müsste man Marx den Vorwurf machen, die Menschheit einer totalen Schönheitsoperation in einer wundersamen Jungbrunnenquelle unterzogen zu haben. Da hat er weder an Knochenbrüchen, Fettabsaugen, noch an Plastikkissen und massenhaften Botoxspritzen gespart. Und in der Tat, es ging ein Orkan durch die Geschichte der Menschheit.

Die verjüngten Horden, die sich Marxisten nannten, eroberten die Hälfte der Welt und widerstanden den alten Geldmächten nicht weniger als ein halbes Jahrhundert lang. Doch den Wettbewerb der Systeme verloren sie – nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen – und sackten derart überraschend in sich zusammen, dass nicht mal der CIA die geringste Ahnung hatte, wie morsch das sowjetische Arbeiter- und Bauernreich wirklich gewesen war. (Noch nie hat der CIA etwas Sinnvolles prognostiziert.)

Hätte aber Marx Recht gehabt, wäre Hegel ein seniler Beobachter der Zeitläufte gewesen, der das Ende der Geschichte in dem Moment für abgeschlossen erklärte, als er die letzte Seite seines letzten Buches schrieb. In der Tradition des heiligen Kindes hatte Marx die verworfenen Mächte des Alten hinweggefegt und der irrenden Menschheit den Weg ins Paradies gewiesen.

An dieser Stelle waren sich Hegel und Marx wieder einig. Es ging um die letzte Epoche der Geschichte. Wann und unter welchen Umständen beginnt das Finale? Theologen hätten formuliert: woran erkennen wir den wiederkehrenden Christus und wie unterscheiden wir ihn vom Antichristen? Die beiden sind sich nämlich verdammt ähnlich:

„Sehet zu, dass euch niemand irreführe. Denn viele werden unter meinem Namen kommen und sagen, ich bin der Christus, und werden viele irreführen. Ihr werdet aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören, erschrecket nicht, denn es muss so kommen, aber es ist noch nicht das Ende. Denn erheben wird sich Volk wider Volk und Reich wider Reich und es werden da und dort Hungersnöte und Erdbeben kommen. Dies alles aber ist erst der Anfang der Wehen.“ ( Neues Testament > Matthäus 24,4 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/24/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/24/“>Matth. 24,4 ff)

Auch hier treffen wir auf Geburtswehen. Wer zeugt mit wem, wer entbindet? Gott zeugt mit der Zeit, seiner eigenen Kreatur, und gebiert die Heilsgeschichte, die die neue Menschheit zur Welt bringt. Nicht Natur, nicht die Menschheit erneuert sich durch sich selbst, es ist Gottes Nachahmung des natürlichen Zeugungs- und Geburtsvorgangs, der eine bessere Geburt, eine Wiedergeburt erfunden haben will.

Abstrahiert man von dem betont anderen Vokabular der Marx und Hegel, sind beide nur Fortsetzer der christlichen Endzeitpropheten. Wann beginnt das Finale der Menschheit, wie soll es aussehen? Wie unterscheidet man wahre Utopie von der falschen, die ihr so verblüffend ähnlich sein soll?

Ist es nicht erstaunlich, dass Christ und Antichrist so verwechselbar sind? Ist das Gute nicht das absolute Gegenteil des Bösen? Müsste nicht das kleinste Kind zwischen Licht und Finsternis unterscheiden können? Ist Gandhi verwechselbar mit Hitler? Stalin mit Albert Schweizer?

Wenn das Böse und das Gute so wenig trennscharf sind, könnte es nicht damit zusammenhängen, dass sie im Grunde identisch sind? In der Tat ist der Teufel nur das andere Gesicht Gottes, sein treuer Knecht, der die Menschheit im Dienst des Himmels zur Seligkeit peitscht. Hier erkennen wir das wahre Gesicht einer dualistischen Religion, in der das Heilige und Unheilige diametral verschieden sein sollen, es aber nicht sind.

Hegels Weltgeist würde frohlocken und jauchzen, wusste er doch, dass er keine Antithesen zugelassen hatte, die nicht am Ende in eine Synthese mündeten. Der extrem daherkommende Unterschied zwischen Gott und Teufel ist nur eine pädagogische Finesse, um die Kinderlein mit Angst und Schrecken in die weit geöffneten Arme des Erlösers zu treiben.

Die apokalyptische Matthäusstelle zeigt auch, warum die fundamentalistischen Amerikaner die christlichen deutschen Ökologen für heidnische Windbeutel halten. Menschliche und natürliche Katastrophen müssen kommen, um dem Herrn den Weg zu bereiten. Sie sind Vorboten des Heils, die weder verhindert werden dürfen noch übersprungen werden können. Ohne sie wäre Parusie undenkbar.

Kriege, Hungersnöte und Erdbeben müssen kommen, sie vermeiden zu wollen, wäre Blasphemie. Nur Ungläubige wollen das ungestörte und behagliche Glück auf Erden, Gläubige wissen, dass ohne schreckliche Nöte das Heil nicht zu haben ist. Mit Unglück muss man das jenseitige Glück verdienen.

Jetzt ahnen wir den wahren, explosiven Kern der Hegel‘schen Senilität. Wenn er Preußen zum Nonplusultra des Weltgeistes erklärt, macht er die Deutschen zur musterhaften Vorlage für die ganze Welt. Das ist seine unausgesprochene Utopie, seine Vorstellung des Reiches der Freiheit. Die Welt muss werden wie die Deutschen, dann wird sie vollendet sein.

Hegels Kollege Fichte hatte weniger Skrupel, mit ungeschminkten Worten die Deutschen zum Urvolk zu machen, an dem alle Völker Maß nehmen sollten. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.

Hegels Schau des Tausendjährigen Reiches war die Lizenz der Deutschen, der Welt per selbsterfüllender Prophezeiung ihre Erlösungsversion aufzuzwingen. Hegels Greis entlarvte sich als johanneischer Endzeitengel mit dem Flammenschwert.

Sowohl Hegel und die Deutschen, sowohl Marx und die Proleten, sowohl Hitler und Stalin, waren Mäeuten der Heilsgeschichte durch Macht und Gewalt. Bei Marx ging es nicht ohne Revolution, bei Hitler nicht ohne Weltkrieg. „Ihr werdet von Kriegen und Kriegsgeschrei hören.“ Auch die Natur schafft es nicht, sich ohne Gewalt in eine neue Erde und einen neuen Himmel zu verwandeln: „Es werden Erdbeben und Hungersnöte kommen.“ Die Erde wird nicht mehr in der Lage sein, die Menschen zu ernähren.

Was glaubt ihr, liebe Brüder und Schwestern, wie die amerikanische Bevölkerung die jetzige versengende Sommerglut deutet? Endlich, der Herr kommt. Die ersten Wehen spüren wir am eigenen Leib. Noch ein paar Katastrophen – und wir haben‘s geschafft.

Seltsam, auch die Griechen kannten einen ähnlich klingenden Grundsatz: Lerne durch Leiden. Doch der Unterschied der Bedeutungen könnte größer nicht sein. Lerne durch Leiden, das nächste Leiden zu vermeiden oder es – wenn unvermeidlich – in Würde zu ertragen. So die vernünftige Version.

Vernunft lernt durch Versuch und Irrtum und Irren kann ganz schön schmerzlich sein. Sollte Leid aber unvermeidbar sein, dann ist es unwürdig, sich Göttern zu unterwerfen, um es zu beenden. Dann lieber wie der angeschmiedete Herakles sich täglich die Leber aushacken lassen als sich autoritären Mächten zu beugen.

Bei Christen ist Leiden der Weg zur Seligkeit, zur Herrschaft im Himmel und auf Erden. Durch Kreuz zur Krone.

Was hat nun selbsterfüllende Prophezeiung mit Ratingagenturen zu tun?

Zum ersten Mal haben seriöse Wissenschaftler gewagt, das Geschäftsgebaren der globalen Zensoren unter die Lupe zu nehmen. Das Ergebnis ist wahrlich überraschend. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass die mathematischen Genies ihre Noten nicht nur willkürlich vergeben, sondern auch „einen Zustand schaffen, in dem sich Prophezeiungen selbst erfüllen“.

Das Ergebnis ist umso verblüffender, als es überhaupt keine sozialen Vorgänge gibt, die nicht selbsterfüllende Prophezeiungen wären. Es können auch selbstzerstörende sein. Das muss kein Gegenteil sein.

Wenn meine Autoritäten mir vorhersagten, dass ich eines Tages als Taugenichts unter den Brücken des Flusses landen werde, werde ich mich lieber selbst zerstören, als die Unfehlbarkeit meiner Propheten zu widerlegen.

Das ist der Grund, warum die westliche Zivilisation auf die unheilvollen Zeichen der Zeit nicht hören kann. Sie steht unter dem Bann prophetischer Worte, die sie erfüllen muss, selbst wenn sie dabei über den Jordan geht.

Wenn die gesamte Geschichte des westlichen Abendlandes nichts als Erfüllung göttlicher Prophetien ist, so handelt es sich dennoch um selbsterfüllende Prophezeiungen – und nicht um gott-erfüllende. Denn Gott ist der Mensch in Selbstvergötterung.

Was ist der Unterschied zur Vernunft, die auch nichts ist als ein selbsterfüllender Glaube?

Der vernünftige Mensch entwirft sich, um seinen Entwurf selbst und in eigener Kraft zu erfüllen. Auf Beten, Hoffen und demütiges Unterwerfen verzichtet er.

Der jenseitig gerichtete Mensch begeht Treueverrat am irdischen Menschen, verlässt die solidarische Gemeinschaft mit der Menschheit, ist am Ergehen der Gattung hienieden nicht interessiert. Im Gegenteil, die sündige Kreatur muss zusammen mit der sündigen Natur untergehen, damit das Neue entstehen kann.

Die gotterfüllende Prophetie überlässt alles der Intervention eines nichtexistenten Wesens, das den Menschen mit illusionären Versprechungen in die Irre führt.