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Tagesmail

Samstag, 28. Januar 2012 – Nutt und Schirrmacher

Hello, Freunde der Reden,

Marcel Reich-Ranicki kann nichts dafür, dass Eliten seine Rede nutzen, um folgenlos davonzukommen. Eine „bewegende Rede“ ist das Codewort der schreibenden Priesterkaste, um nichts zu bewegen und sich mit emotionaler Ergriffenheit aus dem Staub zu machen.

Es gibt Ergriffenheiten abnehmender Authentizität. Den sekundär-ergriffenen Gesichtern der ZDF-Moderatorinnen Gerster und Slomka war anzusehen, dass sie schwer tragen an der angemessenen Übermittlung der Rede: mindestens einsdreißig lang. Spätestens beim Sport entspannten und erheiterten sich die Gesichter. Zu jeder Nachricht das authentische Gesicht. Das war die visuelle Variante.

Die schreibende Kaste entsandte ihre Besten, um einzufangen, was als Zeitzeugenschaft schon im Begriff missbraucht wird. Zeugen sind zumeist zufällige Beobachter eines Geschehens, die aus Distanz berichten, was sie gesehen und gehört haben. Reich-Ranicki war nicht zufällig im Warschauer Getto, seine Erinnerungen sind Berichte eines Opfers, das – zusammen mit seiner Frau Teofila – zufällig den Schergen entkam.

Wenn die medialen Beobachter des Zeitzeugens geschwiegen hätten, hätte ich sie für authentisch gehalten. Doch sie folgen Vorurteilen, die sie zu Grunddogmen ihres Mittlerjobs gemacht haben: nichts auf der Welt hat sich ereignet, was nicht

monopolistisch durch ihre Hände gegangen ist. Alles ist beschreibbar. Alles muss durch ihre Kunst des Schreibens abgebildet werden.

Hat es der Fortschritt der Maschinen nicht so weit gebracht, dass jeder den Redner fast in Echtzeit selbst hören und sehen konnte? Und konnte er nicht, hätte er die Rede in jeder Gazette oder im virtuellen Netz nachlesen können. In Einsamkeit und Freiheit. Ohne belästigt zu werden von sekundär posierter Feierlichkeit, die für viele sekundäre Zeitzeugen nicht feierlich genug war. Dieses Blitzlichtgewitter, diese dreisten Fotografen ohne würdige Berufstalare. Wie wär’s mit Lutherbäffchen und priesterlich geweihten Kameras?

Bevor aus dem Akt gemeinsamen Erinnerns nicht ein bleierner Gottesdienst mit ökumenischer Quote geworden ist, wird die von Jahr zu Jahr sich überbietende Sensibilität professioneller Beobachter nicht rasten und ruhen, bis kollektives Lernen in eine Messe der Selbstergriffenen deformiert wurde.

Doch Lernen ist profan und dem sakralidentischen Ritual nicht angemessen. Und Lernen aus der Geschichte? Wurde gerade vor wenigen Tagen vom besten aller Nachkriegsredner – Richard von Weizsäcker – bei Anne Will rüde vom Tisch gefegt. Wozu hat er seine berühmte Rede gehalten, wenn nicht zum kollektiven Lernen?

„Damit sich sowas nicht wiederholt“, formuliert eine junge Frau vor ZDF-Kameras den Sinn des Rituals. „Sowas“ kann nur vermieden werden, wenn genügend Menschen zur Einsicht kommen, dass „sowas“ vermieden werden kann. Ohne emotionales und intellektuelles Lernen ist das ausgeschlossen.

Das klingt nach Pflichtunterricht in Auschwitz-Geschichte, weg mit solch abstrakten Kopfgeburten. Das Gefühl, ein Gefühl zu haben, muss in eine archivierbare Form gegossen werden, dass man nachweisen kann, auserwählter Zeuge der letzten Zeitzeugen gewesen zu sein.

Die Unechtheit der sekundär Authentischen erkennt man an ihrer sprungbereiten Entrüstung, ja aggressiven Empörung über alle, die die Frechheit besitzen, sich der Aura der Ergriffenheit zu entziehen und sich betont banal zu zeigen. Hat man bei Hannah Arendt nicht gelesen, das Böse sei banal? Kann dann die Erinnerung an das Böse wie ein säkularer Gottesdienst zelebriert werden?

Welche politischen Schlussfolgerungen wurden gezogen? Welche neuen Erkenntnisse werden den Geschichts- und Religionsunterricht reformieren, weil die alten sich als Rohrkrepierer erwiesen? Wenn immer mehr Jugendliche immer weniger über das Dritte Reich wissen, sollten nicht alle Mitglieder der Kultusministerkonferenz wegen konsequenzlosen Plapperns geschlossen zurücktreten?

War es nur Zufall des sarkastischen Zeitgeistes, dass die Öffentlichkeit synchron zur Gedenkfeier erfuhr, dass ein Fünftel aller Jugendlichen fast nichts über die deutsche Vergangenheit weiß? War es Zufall, dass am gleichen Tag der Versuch eines englischen(!) Verlegers scheiterte, Hitlers „Mein Kampf“ zu veröffentlichen?

Die Ergriffenen wollen das Elend verhindern, aber die Quelle des Elends nicht zur Kenntnis nehmen, um sie durch Einsicht auszutrocknen. Ihre zelebrierte Ergriffenheit könnte Schaden nehmen, wenn sie sich dem Geist des Bösen aussetzte. Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Wie kann man den Drachen zur Strecke bringen, wenn man ihm nicht in den Rachen greift, um ihn von innen aufzuschlitzen?

Man begnügt sich, das Böse mit überbietender Entrüstung und aus gehöriger Entfernung zu bespeien. Waren die Mitglieder der Wannsee-Konferenz nicht ekelerregend sachgemäß und kaltblütig beim Organisieren des Grauens, dass sie ihren grauenhaften Entschluss mit Frühstück und Cognac besiegelten?

An solch lächerlichen Übungen in korrekter Abscheu sieht man, dass man von den Tätern nichts begriffen hat. Hätten die Täter diabolische Triumphgesänge anstimmen sollen, um in ihrer Verworfenheit von deutschen Hochmoralisten, die sonst in ihrem Leben auch nicht viel von Moral halten, als authentisch anerkannt zu werden?

Wie oft muss man in Literaturbesprechungen hören, dass Autor X und Autorin Y sich erfreulicherweise des moralischen Zeigefingers enthielten? In der Ästhetik ist das Gute und Vorbildliche zur Kategorie des Lächerlichen, Spießigen und Langweiligen verkommen. Die Spießer im Theater, die gewöhnlicherweise die kollektive Moral im unaufhaltsamen Niedergang zu sehen pflegen, wollen auf der Bühne, in der Vernissage, im gehobenen Film, bei anspruchsvoller Lektüre, mit Bösem in allen Variationen karessiert werden, auf dass sie auf dem Nachhauseweg erleichtert aufatmen können, wenn sie im polizeilich geschützten Guten des Alltags wieder untertauchen können.

Die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen bewegt sich inzwischen auf dem Niveau, sich magisch zu bekreuzigen, wenn der Name des Führers in grammatisch korrekter Form ausgesprochen wird. Selbst der biedere Lammert gab sich korrekt sündenstolz, als er in der Begleitrede zu Reich-Ranicki die Deutschen als weltbeste Erinnerer pries. 20% antisemitische Strömungen in der deutschen Gesellschaft seien 20% zu viel. Gut gebrüllt, Löwe. Doch keine einzige Vermutung geäußert, wie die 20% zu erklären sind.

Nicht nur die terroristischen Taten der Neonazis wollte er verwerfen, auch deren Hassgefühle auf keinen Fall akzeptieren. Taten kann man verbieten, ahnden und bestrafen, Gefühle nicht. Wer sie bekämpfen will, muss sie zuvor verstehen und akzeptieren, wie der Gefängnis-Therapeut die unliebsamen Gefühle seiner kriminellen Klienten akzeptieren muss, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sie als Fleisch von ihrem Fleisch anzuerkennen und sie dadurch – unschädlich zu machen.

Wer seine Gefühle verdrängt und verabscheut, wird sie niemals zur Raison bringen. Je mehr sie sich abgelehnt fühlen, je wütender und unberechenbarer werden sie.

Komme mir keiner und sage, Politiker seien keine Therapeuten. Wenn sie unfähig sind, die marode Gesellschaft mit dem Blick der Verstehenden anzuschauen, sind sie Maschinisten des Geldes und der Macht, aber keine denkenden und fühlenden Lenker menschlichen Geschehens. Wer glaubt, die Lizenz zum emotionalen Dummstellen zu besitzen, der mag Bankdirektor werden. Als Repräsentant einer Gesellschaft, die stets das Gute will und allzu oft das Böse schafft, ist er untauglich.

Das Böse können wir nicht bekämpfen, indem wir es an den Pranger stellen und aus selbstgerechter Distanz beschimpfen. Wer von Menschen nichts versteht, kann keine Verantwortung für sie übernehmen.

Was ist schief gelaufen, dass Juden zunehmend wieder Ängste in unsrer porentief vergangenheitsbereinigten Gesellschaft haben müssen? Welche Schande für die beliebteste Nation der Welt.

Die SZ bringt ein Gespräch mit einer Hauptschullehrerin, die „zu erklären versucht, was schief gelaufen ist“. Und wie lautet die Erklärung?

Das kann ich eigentlich nicht erklären. Ich war selber schockiert, als ich das gehört habe.“ Schon immer waren es die besten Erklärungen, die nichts zu erklären hatten. In ihrem fabelhaften Unterricht könne so was nicht passieren, behauptet die – ganz sicherlich engagierte – Lehrerin. Doch wie andere Schulen mit dem Thema umgingen, wisse sie nicht.

Natürlich weiß man nicht, wenn man nicht wissen will. Was der Kollege treibt, ist Sache des Kollegen. Das uralte Immunisierungsspiel der Pädagogen, die sich nur vereinzelt definieren. Hier hackt keine Krähe der anderen ein Auge aus. Und warum interviewt die schlaue SZ nicht einen Kultusminister, der wissen müsste, was grundlegend in seinen Schulen geschieht? Gibt es keine wissenschaftlichen Untersuchungen, keine demoskopischen Befragungen, keine durchschnittlichen Erfahrungen? Wer ein Thema dieser Brisanz auf solch dementer Basis zu recherchieren versucht, sollte bei Aldi die Regale füllen.

Harry Nutt und Frank Schirrmacher, führende Edelfedern der Frankfurter Rundschau und der Frankfurter Allgemeinen, haben die Rede Reich-Ranickis zu deuten und zu vermitteln versucht.

Nutt verzichtet auf emphatische Girlanden und übt sich in strengem Lakonismus, womit er dem biografischen Lakonismus des Redners gerecht werden will, den er „Protokollanten des Holocaust“ nennt. Er habe gar keine Rede gehalten, sondern zu „Protokoll gegeben, was er erlebt hat.“ Andere hätten gemahnt, appelliert oder in die Zukunft geschaut, Reich-Ranicki „trug nur einen Text vor“. Kann ein Protokollant ergriffen sein? Kann er Opfer sein? Ist er nicht die objektive Coolness in Person?

Ganz anders als Nutt stellt Schirrmacher – der seine ganze Karriere dem Redner zu verdanken hat – die Macht der öffentlichen Rede in den Vordergrund, mit der das „kalte Ungeheuer Staat dem Bürger seine Seele“ zeige. In zynisch verkommenen Gesellschaften sei die öffentliche Rede die einzige Möglichkeit des Staates, „im tiefsten Sinne des Wortes Gutes zu tun.“ Das klingt gewaltig und erinnert an die Macht protestantischer Kanzelreden.

Schirrmacher stellt Reich-Ranickis Rede in eine Reihe mit der berühmten Rede Richard von Weizsäckers vom Mai 85, die er wirkungsvoll, ja historisch nennt. Weizsäcker habe mit dieser Rede das Selbstbewusstsein des Staates gestärkt. „Die öffentliche Rede kann zur Hausapotheke einer Gesellschaft werden.“ Nicht Feldherren und Monarchen will Schirrmacher loben, sondern Politiker, die mit ihrer Rede die Menschen erreichten.

Der Gedenktag im Beisein von Weizsäcker und Reich-Ranicki habe ein Unvorstellbares bewiesen: die Erinnerung des Opfers und die Bitte um Vergebung des Täters können zueinander finden. Eben dies sei Aufklärung von ihrer besten Seite: die „Einübung ins Unvorstellbare“.

Bei Nutt hat Reich-Ranicki gar keine Rede gehalten, bei Schirrmacher eine fulminante Aufklärungsrede. Warum für Schirrmacher der Staat  per Reden Gutes tun kann, obgleich er ein kaltes Ungeheuer ist, bleibt verwunderlich.

Beide Herren befinden sich in der Tradition überschätzter abendländischer Rhetorik, Schirrmacher durch Anleihen bei der Macht des christlichen Wortes, Nutt durch Reduktion der Rede auf schlichte Erzählung und Wiedergabe der Fakten, die für sich selbst sprächen. Doch keine Fakten reden für sich selbst, der Mensch muss sie entschlüsseln, wenn er sie verstehen will.

Schirrmacher sieht die Macht großer Männer in der Geschichte bestätigt, die nicht nur durch staatliche Gewalt Unheil anrichten, sondern durch das passende Wort zur rechten Zeit ihre Gesellschaften heilen könnten. Was hätte Schirrmacher zu den Äußerungen Weizsäckers gesagt, Demokratie brauche keine Tugenden, aus der Geschichte könne der Mensch nichts lernen? Doch mit hohen Tieren wird nicht gestritten, Widersprüche fallen durch den Rost.

Nutt wie Schirrmacher setzen auf die Aura großer Männer und deren Aufklärungswirkung auf das Volk. Nutt durch den bescheidenen Lakonismus eines Faktenprotokolls, Schirrmacher durch die bombastische Rede, die das Unvorstellbare zuwege bringe. Beide Herren befinden sich in der Tradition des Alten Fritz, der Revolution und patriarchalischen Aufklärung von oben. Alles für das Volk, nichts durch das Volk.

Ungewollt bestätigen beide die Kritik, dass Gedenktage elitäre Veranstaltungen sind, die vom dumpfen Untertan dankend entgegengenommen werden müssen.

Aufklärung jedoch ist keine Einübung ins Unvorstellbare, sondern Lernen des Wirklichen und Wünschbaren. Das Unvorstellbare als Grauen ist längst zum Inventar unserer Realität geworden.

Aufklären heißt: die schrecklichen Elemente der Realität ungeschönt wahrnehmen, ihre Ursachen ergründen, um streitend und auseinandersetzend humane Perspektiven zu entwickeln, die man dem Verderben als bessere Alternative entgegen halten kann.