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Samstag, 27. Oktober 2012 – Prolls

Hello, Freunde der Überstunden,

nicht nur, dass viele zu wenig verdienen, um „unabhängig“ ihr Leben zu fristen. Der Kapitalismus entwickelt sich zur offenen Kleptokratie oder zum Räuberhordensystem. Jährlich werden in Deutschland etwa 1,4 Milliarden Überstunden geklaut. Diese Zeit „schenken“ Arbeitende ihren Firmenbesitzern, damit jene nicht verhungern.

Fast 3% der gesamten Arbeit werden zum erzwungenen Almosen an die Habenden. Im Kleinen ein bestrafungswürdiges Erpressungsdelikt, im Großen eine nationale Ehrentat zur Befeuerung der dampfenden Lok. Darauf sind sie noch stolz, die Leitungseliten, dass sie so lang umtriebig sind, fern von Frau, Kind und politischer Nachbarschaftspflege.

Früher gab es noch Rollenvielfalt und Rollenüberlappung. Heute sind Väter keine Väter, keine Liebhaber, keine Nachbarn, keine Bürger und Demokraten mehr. Nicht im normalen Leben zu stehen, wird zum Zeichen des Exquisiten.

Arbeit-Geber haben nicht das geringste Problem, ihre Abhängigen kollektiv zu bestehlen. Arbeit ist keine Methode, über die Runden zu kommen. Arbeit wird zur Ehre, den Reichen täglich eine milde Gabe überreichen zu dürfen. Die ganze Lebensenergie eines Menschen wird zur Opfergabe für Fronarbeit – die man im eigenen Kopf für frei und selbstbestimmt hält.

Doch Hilfe kommt von Gehirnexperten, die in wissenschaftlicher Selbsterfahrung bewiesen haben, dass es doch noch Höheres gibt als das niedere Erdenleben. Wenn du nicht mehr weiterweißt,

mach eine betörende Nahtod-Erfahrung und du bist wieder fit für viele weitere unbezahlte Überstunden. Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.

Nein, kein Lichtlein, sondern ein rundum weißgoldenes Licht, eine wunderbare Musik, du siehst die fremdeste, beglückendste Welt, Blumen, lachende Menschen, Schmetterlinge und eine wunderschöne Frau als Engel.

Der Harvard-Gehirnexperte Eben Alexander hat seine bisherige Ungläubigkeit widerrufen und den Himmel persönlich erkundet. Die betörende Stimme flüstert dir zu, was du von deiner Frau noch nie gehört hast: „Du wirst geliebt und geschätzt, herzlich, für immer, du kannst nichts falsch machen.“ Wer‘s nicht glauben kann, lese sein revolutionäres Buch „Beweis des Himmels“, in dem er mit Heisenberg schlüssig beweist, dass unterhalb der Atome alles mit allem verbunden sei, der Beobachtende mit dem Objekt der Beobachtung, der Mensch mit Gott.

Womit auch schon die gottlose Moderne entlarvt wäre: „Ich spüre, dass alle Verluste, die wir auf Erden erdulden müssen, in Wahrheit Varianten eines sehr zentralen Verlustes sind, dem Verlust des Himmels.“

Wie man verlieren kann, was mit uns ständig subatomar verbunden sein und uns ständig beobachten soll, kann man nur bei progressivem Gehirnverlust in einer Elite-Uni von sich geben.

George Dabbelju und zwei Drittel aller Amerikaner kennen diese Nahtod-Erfahrung, sie nennen es Wiedergeburt. Bei der man allerdings nur den Mann Jesus sieht, keine wunderschöne Frau. Wiedergeburt der ersten und zweiten Klasse. Ortskrankenkassen bezahlen nur zweite Klasse. (Ansgar Graw in der WELT über den Hirn-Experten Eben Alexander)

 

Der Gott der bedingungslosen Liebe holt in Deutschland inzwischen seinen uralten Folter- und Instrumentenkasten aus dem Keller, den die laschen Vertreter des Zweiten Vatikanischen Konzils dorthin verfrachtet haben, um sich dem noch lascheren pazifistischen Zeitgeist nach dem Zweiten Weltkrieg schmählich anzupassen.

Aggiornamento wurde fälschlicherweise mit Anpassung übersetzt. Selbst der naive Papst Johannes XXIII. hatte nicht verstanden, was er meinte. Er war von einem Optimismus beseelt, den man schon ruchlos nennen müsse, so Blasphemie-Experte Robert Spaemann in der WELT.

Die wichtigsten Punkte der Frohen Botschaft wurden unterdrückt und ausgeklammert: „Am Ende wird es einen großen Abfall geben, und die Geschichte läuft zu auf einen Antichrist. Man hat alles, was auf Streit und Konflikt hindeutete, eliminiert, bis in die Gesangsbücher hinein. Man wollte den emanzipatorischen und kulturrevolutionären Zeitgeist segnen.“ So der Professor für Philosophie.

Das Konzil habe die Katholiken lau und kraftlos gemacht. Dabei habe sich die Kirche immer in einem Kampf befunden, angetan mit Waffen des Lichts, Helm des Glaubens und so weiter. „Heute ist das Wort Feind anstößig geworden, das Wort „Liebet eure Feinde“ kann gar nicht mehr zur Anwendung kommen, weil wir keine Feinde mehr haben dürfen. Wir brauchen das, was der Papst „Entweltlichung“ nennt.“

Es muss für Feindesliebhaber schon schrecklich sein, niemanden zu haben, dem man erst die Fresse polieren kann, um ihn anschließend tüchtig zu lieben. Da hast du doch deinen geliebten Feind, Gevatter Spaemann: die Welt. Je mehr ihr sie zertrümmert, je mehr habt ihr zu lieben. Wie hieß der Titel einer Doku über Umweltzerstörung? Sie töten, was sie lieben. (Lucas Wiegelmann interviewt Robert Spaemann in der WELT)

Was sind Chavs? Gibt es auch Blasphemie gegenüber Menschen? Hat der Schöpfer nicht ein blasphemisches Verhältnis gegenüber denen, die er zur Verdammnis vorherbestimmt? Welcher Hohn, es gebe nur ein rufschädigendes Verhältnis gegen Gott, den noch kein Mensch gesehen hat. Dass dieser Herr 99,9% der Menschen in Ewigkeit verheizt – ist das die Liebe eines Vaters zu seinen Kindern?

Als Margret Thatcher die englische Industrie plus Gewerkschaften vom Leben in den Tod beförderte, wurde die überflüssige Arbeiterklasse zum Dämon der Mittel- und Oberklassen. Das primäre Opfer muss sekundär blamiert und gebrandmarkt werden. Wer versagt, wird verhöhnt, wer unschuldig ist, noch mehr.

Und also begann der Aufstieg von Tony Blair, einem Labourführer, der im Chor der Oxbridge-Boys munter mithöhnte und dabei – mit Hilfe des Soziologen Anthony Giddens – die Abschaffung von links und rechts einläutete. Daraus machte der fixe Soziologe Ulrich Beck sogleich eine nagelneue Epoche, die er die dritte Moderne nannte und längst sang- und klanglos in der Versenkung verschwand.

Unter dem Motto: Gerechtigkeit ist modern, hatten die beiden Edelsozialisten im Schröder-Blair-Papier den Weg frei gemacht, die altbackene „Gerechtigkeit ist gerecht“ den Hühnern zu verfüttern. Die ganze deutsche Presse, unter ihnen linke Gazetten wie die TAZ, hatten die Schnauze voll von Klassenkampfparolen und klumpten alle in der Mitte.

Wer es zur Klumpenbildung nicht schaffte, gehörte nicht zum bürgerlichen Lager. (Kretschmann vor zwei Tagen: natürlich bin ich bürgerlich, was soll ich denn sonst sein?) Bürger war, wer Väterchen Staat nicht auf der Tasche lag. Zwar gab es keine Arbeitsplätze, doch wer keine Arbeit hatte, der konnte nicht unschuldig sein.

Während die ununterbrochene Rationalisierung der Produktion systematisch Arbeitsplätze vernichtete, rieb man sich in post-sozialistischen Kreisen die Augen, wie viele Leute zunehmend überflüssig wurden. Schon vor Dekaden veröffentlichte Jeremy Rifkin das Buch „Das Ende der Arbeit“, in dem er die Menschheit darauf vorbereiten wollte, dass die zunehmende Computerisierung und Maschinisierung der Moderne immer mehr Menschen „frei setzen“ würde, um Sinnvolleres zu tun als entfremdete Maloche zu leisten.

Das verschwieg man in politischen Kreisen und redete lieber von der neuen Dienstleistungsgesellschaft. Vom Schuheputzen bis zum aufstrebenden Prostitutionsgewerbe gab es noch allerhand zu tun, um unsere Gesellschaft bei Laune zu halten.

In seinem Buch „Prolls – Die Dämonisierung der Arbeiterklasse“ beschreibt der Historiker und Journalist Owen Jones die Entwicklung der Blasphemisierung der Arbeiterklasse. „Als die Industriearbeit verschwand, trat nichts an ihre Stelle“, so Owen. In vielen Kommunen gab es keine sichere, respektierte Arbeit mehr.

Alle Medien, auch in Deutschland, heulten gegen die Vollkaskomentalität und das jämmerliche Sicherheitsdenken der Abgehängten. Es wird wohl eine Verschwörung sein, zu behaupten, in meisterlicher Choreographie hallte die Öffentlichkeit wider von Hohn- und Hassgesängen gegen das spießige, verlässliche und sichere Glück der Überflüssigen. Die nachkommenden Generationen wurden auf prekäre Verhältnisse vorbereitet.

Die heutige Dämonisierung der Chavs sei das „Triumphgeheule der Reichen, die von unten nicht mehr bedroht sind und sich über die Arbeiter lustig machen“. Es sei zum guten Ton der Bessergestellten geworden, über die Proleten sarkastisch herzufallen. In England gibt’s inzwischen „Reiseführer zu den Prolls“, Fitnesskurse zur körperlichen Bekämpfung der Versager mit Werbeslogans wie: „Verschwenden Sie ihre Zeit nicht mit Sandsäcken und Holzbrettern, schlagen sie lieber einem Proll die Zähne ein.“

Prollfrauen würden früh „werfen“, vermutlich überflüssige Fresser, die vom Staat durchgefüttert werden müssten. Reiseunternehmen boten garantiert prollfreie Urlaubstage an.

Wie kann eine sinnvolle Integration mit Fremden gelingen, wenn schon die Unteren aussortiert werden?

Wie entsteht ein Proll? Er macht sich selbst dazu. Die Ideologie des Freien Willens war die beste Erfindung Augustins, um Gott und alle oberen Klassen von aller Schuld freizusprechen. Denn wer wirklich wolle, könne auch. Du kannst, denn du sollst, hatte Kant den neoliberalen Hohngesängen vorgearbeitet. Dass er gleichzeitig den radikal bösen Willen einführte, steht auf einem andern Blatt.

Man könnte sagen, die Diskriminierung der Verlierer sei ein Rassismus innerhalb der eigenen Rasse. Niemand aus den mittleren Schichten kennt die Wohn- und Lebenssituation der Armen. Die Kinder der Besseren gehen in eigene private Schulen, nur Versager schicken ihre Bälger in staatliche Schulen, die einen entsprechenden Ruf genießen.

Eine Arbeiterklasse, die nicht mehr ernsthaft mit Generalstreik, Umverteilung oder Revolution drohen kann, wird nur noch zum lächerlichen Punchingball der Abräumer und Absahner. „Die Kluft tut sich früh auf und schließt sich nie mehr“.

Ambros Waibel, der das Buch von Owen in der TAZ vorstellt, kennt die Arbeiterverhältnisse, dort ist er selber aufgewachsen. Sein biografisches Resumee ist bitter. Wenn er heute seinen Kindern zeigt, wo er früher aufwuchs, sagen sie: Oh wie hässlich.

 

Woher die Verachtung der Armen? Selbst der humanistische Adam Smith empfindet in seinem ethischen Frühwerk nicht das geringste Mitleid mit den Zukurzgekommenen. „Der Mangel an Vermögen, die Armut, erweckt an und für sich wenig Mitleid. Ihre Klagen pflegen nur allzu leicht eher Verachtung als Mitgefühl zu erwecken. Wir verachten den Bettler und mag uns seine Zudringlichkeit auch ein Almosen abnötigen, wir werden doch kaum jemals ein ernstliches Mitleid mit ihm fühlen.“

Tiefes und aufrichtiges Mitgefühl bringt Smith hingegen für den Reichen auf, der in Armut stürzt, selbst wenn dies ohne eigene Fehler kaum möglich sein konnte.

Erst in seinem zweiten Buch plädiert Smith für Verbesserung der Lebensumstände der unteren Schichten. „Und ganz sicher kann keine Nation blühen und gedeihen, deren Bevölkerung weithin in Armut und Elend lebt.“ Möglich, dass Smith mit seiner neuen Kapitalistenlehre hoffte, den Wohlstand der ganzen Bevölkerung zu heben und so die absolute Armut abzuschaffen.

Wer in der Gegenwart aber am meisten zur Verachtung gegenüber den Prolls beitrug, waren die proletischen Vertreter der Prolls selbst, die auf der Karriereleiter nach oben geklettert waren und von oben ihre ehemaligen Genossen verachteten. Wenn Müntefering keine Klassen mehr erkennen konnte, wenn Clement und Schröder mit Abscheu von Parasiten sprachen, die auf Kosten der Gesellschaft in Hängematten ihr Dasein verbrachten, so sprach der blanke Selbsthass, projiziert auf jene, die den Aufstieg nicht schafften.

Schon die Losung, jeder könne den Aufstieg schaffen, wenn er nur wolle, bedeutete einen Aufruf zur Entsolidarisierung der Proleten. Löst euch von den Losern, sagt ab jeglicher Solidarität mit euren Brüdern, Schwestern, Freunden und Kameraden. Passt euch den feinen Pinkeln an, raucht Zigarren, tragt feine Zweireiher, zieht in vornehmere Gegenden. Selbst dem Kampfbegriff links wurde abgeschworen.

Eine kollektivere Verblendung der gespaltenen Arbeiterklasse war nicht denkbar. Gerechtigkeit wurde zu einem Nichtbegriff, der ein Jahrzehnt lang aus der Nomenklatur der Öffentlichkeit verschwand. Selbst „linke“ Herz-Jesu-Marxisten wie Geißler konnten nicht zwischen absoluter Verelendung und relativer Verarmung unterscheiden. Man muss nicht unbedingt verhungern, um arm und vernachlässigt zu sein. (Obgleich die Zahl der Hungernden in der Gesellschaft stetig zunimmt.)

Schon Sismondi, der klassische französische Ökonom hatte den Sinn der Wirtschaft darin gesehen, allen Bürgern der Gesellschaft „die Teilnahme an den Annehmlichkeiten des physischen Lebens“ zu ermöglichen. Es sei nicht wahr, dass der Reichtum als Zeichen des Wohlstandes eines Staates gelten könne, sondern nur die Tatsache einer gerechten Verteilung.

Diese Definition greift noch zu kurz, es geht nicht nur um physische Annehmlichkeiten. Wer sich auf Grund seiner Herkunft kein realistisches Bild machen kann über Gott und die Welt, wer nicht das Gefühl erwirbt, an seinem Schicksal selbst mitwirken zu können, wer vor allem von der Verachtung der Mächtigen leben muss: der vegetiert in einer Gesellschaft mit menschenunwürdiger Armut.

Die neue Formel des Klassenkampfes darf nicht länger lauten: nach oben! – danach alle Brücken hinter sich abreißen! Denn Oben sitzen alle, die von davon leben, dass es ein Unten gibt. Aufstiegsverheißungen sind das „Teile und Herrsche“ willkürlicher Chancenverteiler.

Die neue Formel muss lauten: Holt sie runter vom hohen Ross. Es darf kein Oben und kein Unten mehr geben. Jeder Mensch ist unmittelbar zum Menschen.