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Samstag, 23. Juni 2012 – Demokratie und Kapitalismus

Hello, Freunde der USA,

was wäre, wenn die USA nicht mehr führende Weltmacht wäre? Welche Macht träte an ihre Stelle? China, Russland? Europa ganz bestimmt nicht, urteilt harsch und klar Zbigniew Brzezinski, ehemaliger Sicherheitsberater Jimmy Carters.

Für ihn ist Europas Zukunft vorbei. Der alte Kontinent war einmal für viele Schwellenländer ein politisches Stimulans, ein vorbildliches Modell, dass uralter Hass unter Nachbarn begraben und stabile übernationale Bündnisse geschlossen werden können. Im Zeichen lebendiger Demokratie und eines menschenrechtlichen und ökologischen Denkens.

Inzwischen lachen die ehemaligen Schwellenländer über ihre Leitbilder von gestern, die nichts anderes mehr zu tun haben, als ihren Zaster zusammenzuhalten, wozu sie gar die Hilfe ihrer Ex-Schützlinge benötigen.

Asylrecht für alle Flüchtlinge und Vertriebene in der Welt, stand einmal im Grundgesetz. Dort steht es immer noch, aber von so vielen Zusatzklauseln eingekesselt und erstickt, dass es zum blanken Hohn seiner selbst geworden ist.

Zur Ökokonferenz nach Rio hat Merkel nicht mal nötig, selbst hinzufahren. G-20-Gipfel sind zu Klassentreffen von Mächtigen verkommen, die nur noch die Macht besitzen, notwendige Reformen zu verhindern. Europa wollte vorbildlich sein, gleichzeitig unterwarf es sich dem Wallstreet-Kapital.

Europa als Modell für die Welt, als Pol der Friedfertigkeit, des wirtschaftlichen Erfolgs und des globalen Einflusses? Das alles

ist für Brzezinski vorbei. Die Zukunft gehöre Asien. Und immer noch den USA – wenn sie sich am Riemen reißen.

Für Europa bleibt nur die schonungslose Nachrede: „Zu reich, zu passiv, zu selbstzufrieden, zu sehr auf sich selbst fixiert.“ Europa befinde sich auf dem Weg, das behaglichste Seniorenheim der Welt zu werden.

Diese Analyse ist einseitig machtpolitisch ausgerichtet. Es kann nicht nur darum gehen, welche Einzelnationen zukünftig das Sagen haben. Es müssen grundsätzliche politische Fragen gestellt werden: Wie soll die Welt aussehen, in der die kommenden Geschlechter miteinander auskommen? Mit welcher Moral, in welchen politischen Formationen? Mit welcher Wirtschaft, mit welcher Natur?

Darüber darf heute nicht nachgedacht werden, denn das wäre eine Weltutopie. Das „Auspinseln“ von Utopien ist heutzutage verboten. Von allen Seiten. Linke fürchten utopischen, also schwärmerischen Sozialismus, Neoliberale stellen alle Utopien unter Faschismusverdacht, um ihre schärfsten Kritiker aus dem Weg zu räumen.

Warum verebben kapitalismuskritische Bewegungen wie Occupy, Attac regelmäßig und schmelzen wie Schnee an der Sonne? Weil sie grundsätzlich nicht entwickeln dürfen, wohin die Reise gehen soll. Immer hübsch konkretistisch in die Fallen der Medien tappen, die längst gelernt haben, alles Neue professionell zu begrüßen und zu beerdigen.

Zu begrüßen, weil wieder mal eine neue Sau durchs Dorf gejagt wird, wovon die Medien leben. Zu beerdigen, weil solche Events dem System nicht lästig werden dürfen. Sonst gibt’s Saures. Man protegiert gern die jungen Totterer. Doch wehe, die meinen, was sie sagen und wollen tatsächlich die Welt verändern. Dann ist Schluss mit lustig.

Die Jungen haben die konkretistische Schere schon im Kopf, lassen sich keine Zeit, geben sich keine Muße für Grundsatzdebatten, müssen sofort Stellung zum Fiskalpakt eins bis zwo liefern, ohne zu wissen, wohin der Jakobsweg führen soll.

Das Establishment ist gewitzt und mit allen Wassern gewaschen. In den Medien sitzen reihenweise ehemalige 68er, die genau wissen, womit sie selbst kastriert wurden. Ihre Verstümmelungen geben sie gratis an den Nachwuchs weiter. Sie sollen es nicht besser machen, damit die verknöcherten Herrschaften sich nicht als Versager vorkommen.

Noch immer gilt Marxens Satz unangefochten bei Nachfolgern wie Gegnern: Die Philosophie hat die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.

Einen denkfeindlicheren Satz hat die Welt noch nie gehört. Alle Tätigkeiten unterhalb der pompösen Weltrevolution werden zu Makulatur erklärt. Alle Nachdenklichkeit, jedes Lesen eines Buches ist Versündigung an der nächsten Agitation. Jede moralische Entscheidung, die Politik werden soll, ist ethischer Kitsch und mentales Aspirin. Jeder Gedanke ist idealistische Schaumbildung und Blasphemie an der Materie.

Das war die sozialistische Kreuzigungsvariante. Die kapitalistische klingt so: Wessen Gehirn nicht benutzt wird zu wachstumsankurbelnden Innovationen, der müsste vom Verfassungsschutz observiert werden.

Beide Ideologien waren sich ähnlicher, als sie sich je zugaben. Hätte sich auch schlecht gemacht, den famosen Kalten Krieg mit der Erklärung zu begründen: die anderen müssen wir niederhalten, weil sie eine Gefahr sind für die Welt – sie sind uns zu ähnlich.

Inzwischen haben wir keinen Kalten Krieg mehr, aber viele kleinere heiße und drohende brandheiße. Doch der symmetrische Selbsthass hat sich nicht verändert. Man nehme die Scharia, die Tora oder das Euangellion, und man hat genügend Klone in der Welt, die man ausradieren muss, weil ein Erlöser dem andern wie aus dem Gesicht geschnitten ist.

Es ist wie beim Mütterstreit vor Salomon: wessen Baby ist die Welt? Hier sind es nicht zwei, sondern drei Mütter – genau genommen Väter – die eher die Welt in Trümmer legen als sie den unausstehlichen Rivalen zu überlassen.

Marx war, bitte nicht vergessen, Retter des Kapitalismus – den er lediglich ein wenig erneuern wollte, weil er zu blöd war, seine auftretenden Widersprüche in den Griff zu kriegen. Alles, außer einem bisschen Verteilungsgerechtigkeit, sollte bis aufs Jota gleich bleiben. Nur technische Ausbeutung der Natur und Malocherethos würden das Reich der Freiheit schaffen.

Frieden, klassenlose Gesellschaft, Demokratie und Nachdenken: wird‘s alles nicht geben, bevor die Geschichte – Synonym für den Himmel – nicht das Paradies herabgelassen haben wird.

Fortschritt durch Lernen der Menschheit, durch Denken und Debattieren? Wozu noch Reflektieren, sind doch alle Probleme in der dialektischen Zauberküche schon gelöst und im Tresor der Geschichte gespeichert. Die Lösungen müssen nur noch getan und in die Realität übertragen werden. Das war‘s.

Die Tat wurde zur Grabrednerin des Gedankens. Das war bei Stalin, bei Hitler so und ist es beim geschichtsbesoffenen Neoliberalismus nicht anders, der seine Heilsgeschichte nur anders nennt: Zukunft, Evolution, nach vorne schauen.

Vom Wirtschaftsführer bis zur Kita-Vorsitzenden gibt’s keinen Entscheidungsträger mehr, der sich Muße und Gedanken gestatten würde und nicht in Unternehmerdeutsch nach vorne schaute. Muße wird als Faulheit übersetzt, das zwar als Therapeutikum für Ausgebrannte dienen mag, aber nicht zum Betätigen des eigenen Kopfes.

Der Müßiggänger Aristoteles hat das größte wissenschaftliche Werk aller Zeiten erstellt, sonst nichts. Die Müdigkeit der Studenten, ihre Leseunwilligkeit und –inkompetenz sind alles Früchte vom Baum der freiwilligen Erkenntnislosigkeit.

Der Westen war vulgär materialistisch, der Osten dialektisch materialistisch. Am Ende fiel alles zusammen: der Osten warf das Handtuch, weil sein Ausstoß an dialektisch materialistischen Konsumgütern nicht mithalten konnte mit der westlichen Produktion vulgär materialistischer Konsumgüter.

Die heimliche Konvergenz von Sozialismus und Kapitalismus ist der Grund, warum es heute keine Alternativen zur Herrschaft des Mammons gibt. Weil der Sozialismus noch nie eine ernsthafte Alternative war.

Die Linken repetieren nur immer ihre drei Sprüchlein: mehr Hartz4, mehr Rente und mehr Reichensteuer, alles andere soll bleiben, wie es ist. Vor allem das Malocherethos und die Ausbeutung der Natur, die nach Marx gar nicht gerettet werden müsste, ist doch die Materie das siegende Element der Historie.

Die Linken sind gegen das BGE genau so allergisch wie die katholischsten CSU-Hinterbänkler: sein Leben verdienen – ohne zu verdienen? Undenkbar. Die Linken haben noch nicht mal begriffen, dass unabhängige Menschen wesentlich leistungsfreudiger wären als abhängige Lohnempfänger. Sie müssen vergessen haben, dass Marx die entfremdete Arbeit, das sich Verkaufenmüssen in den Mittelpunkt seiner Kritik stellte. Arbeit ohne sich zu verkaufen, gibt es in der Despotie der Monopole nicht.

Von Gerechtigkeit wollen Ex-Marxisten schon lange nichts mehr wissen. Sonst müssten sie mit Vehemenz die Forderung stellen, die ungeheuren Geldmassen der Welt unter die Menschheit zu verteilen.

Womit soll das BGE finanziert werden, hieß noch vor kurzem das entscheidende Gegenargument gegen finanzielle Unabhängigkeit. Wie wär‘s mit dem Bruchteil jenes Geldes, das man den Banken in den Hintern schiebt, um sie wieder einmal vor sich selbst zu retten?

Immer neue Forderungen an den armen Staat! Der Staat wird überfordert! jammern die Hüter eines Dinges, das es in einer Demokratie gar nicht geben darf: des Staates. Der Staat zahlt gar nichts. Es zahlt die Regierung, die vom Volk gewählt wurde. Nein, es zahlt das Volk dem Volk. Es zahlen jene, die das Geld des Volkes eingesäckelt und es nun an diejenigen zurückzugeben haben, die es hauptsächlich erarbeiteten.

Die Linken werden sich nicht untreu, wenn sie in die Mitte der Parteien rücken. In der Klumpenbildung der Kapital-Sozialisten und Sozial-Kapitalisten liegen sie richtig.

Der Kapitalismus liebt die Demokratie. Dort herrschen Gesetze, funktionieren die Börsen und haben die Gewerkschaften die Arbeiter im Griff, damit sie nicht zuviel verlangen und den eigenen Staat wettbewerbsfähig halten. Gewerkschaften sind keine Internationalisten, das Hemd des eigenen Tarifvertrags ist ihnen näher als die billige Hose aus China.

Hört auf mit dem Geschwätz von der internationalen Solidarität, die Gewerkschaften sind die besten Verteidiger des nationalen Sozialismus.

Colin Crouch ist der Meinung, dass Demokratie zurzeit zwar ein wenig nachlässt, aber sie wird nicht verschwinden, die Tycoons lieben sie zu sehr.

Gewiss, es gab mal Ausnahmen in Chile oder sonstwo in der Pampa. Nicht, dass die Magnaten allzuviel Demokratie liebten. Es soll immer genau so viel Demokratie wie nötig und genau so wenig Demokratie wie möglich geben.

Das Volk soll durch Legitimation bestochen werden. Haben sie das Gefühl, selbst eine Stimme zu haben und wichtig zu sein, werden sie ihre Selbstzufriedenheit mit politischer Abstinenz bezahlen. Man bekommt nichts geschenkt im Leben. Diktaturen und sonstige Despotien sind viel zu instabil. Kaum macht das Volk einen kleinen Aufstand, schon ist die Beute in Gefahr. Auch die Schweiz mit ihrem Schutz mafiöser und despotischer Schätze ist nicht mehr das, was sie früher einmal war.

Crouchens Analyse leidet an der üblichen Tiefen-Unschärfe. Der Kapitalismus liebt nicht die Demokratie, sondern die christliche Demokratie. Dort werden Tycoons zur Obrigkeit gerechnet und der muss man auf jeden Fall untertan sein. Zudem hat jeder in seinem Stand zu bleiben, selbst die Sklaverei wurde durch Gottes Willen abgesegnet.

Ist das amerikanische System vom Tellerwäscher zum Millionär nicht ein Einwurf gegen die lutherische Untertanenmentalität? Nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten sieht man, dass in einem noch immer jungfräulichen Staat die Hierarchie auf keinen Fall festgelegt ist. Durch Dauergerangel müssen die Stände immer erobert und besetzt werden. Amerika fühlt sich nach wie vor in den Pubertätsjahren.

Durch den ununterbrochenen Strom der Flüchtlinge und Einwanderer hält sich der riesige Kontinent für zeitlos attraktiv, obgleich seine Anziehungskraft rund um den Globus heftig nachgelassen hat. In muslimischen Staaten gelten die Yankees als hässliche Amerikaner und verhasste Befehlsempfänger der Israelis.

Der Unterschied zwischen untertänigen Lutheranern und Calvinisten, die der Devise folgen: Jeder ist seines Glückes Schmied, besteht in der unterschiedlichen Deutung des Standes. Bei Luther war Stand der weltliche Beruf auf Erden, den jeder kannte, weil er ihn ein Leben lang lebte. Bei Calvin war der prädeterminierte Stand im Himmel und niemandem bekannt. Durch Wirken auf Erden musste er erarbeitet und erraten werden. Je erfolgreicher der Mensch in seinem Handeln, desto höher die Wahrscheinlichkeit, einen der seltenen und vorbestimmten Plätze im Himmel zu ergattern. Sicher allerdings konnte man nie sein, was den irdischen Ehrgeiz nur umso mehr anspornte.

Das war der innenpolitische Aspekt. Der außenpolitische lag in der patriotischen Einschätzung des Landes im Vergleich zum Rest der Welt. Der geringste Amerikaner fühlt sich als Mitglied der auserwählten Nation den Mächtigsten aller andern Ländern himmelweit überlegen. Der Geringste in Amerika ist der Größte im Rest der Welt. Dieser nationale und individuelle Stand ist genau so unveränderlich wie bei Luther der Stand des Schuhmachers.

Da die historischen Lügen, Demokratie sei Erfindung des Christentums, Freiheit ein Geschenk Gottes an die Menschheit (so Dabbelju Bush), aus Amerika stammen, gelten dort Kapitalismus und Demokratie als eineiige Zwillinge. Auch das heilige Reichwerden ist eine Erfindung der Erwählten, Reichtum gilt als Lohn des Himmels für gehorsamen Glauben.

Die alten Griechen können die wahre Demokratie nicht erfunden haben, denn sie sind verstockte Heiden. Auch hier gibt’s eine geheime Ähnlichkeit zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Dogmatische Marxisten vergessen nie, die athenische Polis als Sklavenhalterdemokratie zu bezeichnen. Das wäre nicht falsch, allerdings wird selten hinzugefügt, dass die Forderung nach Menschenrechten und Abschaffung der Sklaverei ebenfalls aus Athen stammt. Von einer uramerikanischen Sklavenhalterdemokratie hört man höchst selten.

Die unlösbar scheinende Ehe zwischen Demokratie und Mammonismus hat den Vorteil, dass man alle Gegner des Kapitalismus als Feinde der Demokratie denunzieren kann. Ein weiterer Grund für „Systemgegner“, keine ernstzunehmende Alternative in petto zu haben: wer will schon in den Ruch kommen, Demokratie abzuschaffen, wenn er die Ausbeuter an die Kette legen will? Das prekäre Verhältnis von Marxisten zur Demokratie haben wir damit noch gar nicht erwähnt.

Sind Demokratie und Kapitalismus vereinbar? Das war eine der Urfragen der Demokratie von Anfang an, ein Problem, das die Polis nie zur Ruhe kommen ließ, der Hauptgrund ihrer Instabilität und ihres baldigen Verfalls.

In einer Herrschaft des Volkes sind alle Mitglieder einander gleich. Nicht im äffischen Sinn körperlicher und geistiger Uniformität, sondern im Sinne politischer Gleichwertigkeit. Hierarchien kann es nicht geben: keiner ist jemandes Herr, niemand ist jemandes Knecht.

Doch wie steht‘s mit wirtschaftlicher Gleichheit? Wenn Freiheit herrscht, müsste auch die Freiheit herrschen, mit seinem Pfund unbegrenzt zu wuchern. Doch kann er das, besteht die Gefahr, dass unmäßige Unterschiede wirtschaftlicher Macht die politische Gleichwertigkeit unterminieren und die Freiheit der Armen gefährden.

So steckt in jeder Demokratie der Hang zur Herrschaft der Reichen, der Mächtigen und der Gebildeten. Wenn diese wilden Triebe nicht regelmäßig so weit beschnitten werden, dass jeder freie Bürger auf dem Marktplatz jedem anderen freien Bürger auf gleicher Augenhöhe begegnen kann, bleibt die Demokratie auf der Strecke.

Schon lange haben sich unsere Eliten in besonderen Vierteln und Herrschaftsetagen abgesondert. Heute ist es nicht mehr möglich, dem Vorstand der BASF auf einem Volksfest zu begegnen und zu einem Streitgespräch über Chemie und Naturschutz einzuladen.

Ob eine Demokratie noch intakt ist oder sich schon in eine Meritokratie (Herrschaft der Leistungsträger), Plutokratie (Herrschaft des Geldes), Aristokratie (Herrschaft der Besten), Oligarchie (Herrschaft der Wenigen) oder aber in eine Ochlokratie (Herrschaft des Pöbels) verwandelt hat, zeigt – ein Blick auf den Marktplatz.