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Samstag, 23. Februar 2013 – Gaucks Rede

Hello, Freunde Europas,

Bundespräsident Gauck hat über Europa gesprochen, jene bezaubernde phönizische Prinzessin, die ein göttlicher Stier schwimmend nach Kreta brachte und sie dort verführte.

Als Stier, als Zeus? Verführte, vergewaltigte? An der Wiege Europas eine sexuelle Gewalttat? Geschlechterkampf als Grundzug eines Kontinents, dessen Gedanken und Lebensführung den Planeten erobert hat? Erstaunlich, mit welcher Empathie der Pastor, bislang als Erotiker nicht aufgefallen, sich in die delikaten Ursprünge eines nie zur Ruhe gekommenen Kontinents einfühlen konnte.

In Griechenland wurde die Macht des Unbezweifelbaren gebrochen. Eine Hierarchie der Priester hatte keine Chance. Erkennen wurde zum Mittelpunkt des früheuropäischen Lebens. Nicht in Zurückgezogenheit und Selbsterleuchtung, sondern in streitbarer Geselligkeit, die sich der Meinung der Mehrheit anvertraute.

Der Mensch hat Vernunft. Jeder einzelne Mensch hat Vernunft. Kein Mensch hat stellvertretend Vernunft für den andern. Jeder Mensch kann seine Vernunft artikulieren, kein Mensch hat das Recht, für den anderen zu sprechen. Wenn alle mitsprechen, wenn alle mitentscheiden, hat das Volk die Herrschaft übernommen und die Herrschaft weniger, adliger, mächtiger oder reicher Bevorzugter gebrochen.

Kein Anfang ist perfekt. Frauen waren in Athen vom politischen Geschehen ausgeschlossen, in Sparta waren Frauen mächtiger als die Männer. Doch Sparta war Militärstaat, Athen eine Demokratie. Das ist verwirrend, wie vieles in Europa

verwirrend blieb. Spätere Revolutionäre sahen eher in Sparta ihr Vorbild denn in Athen.

Noch wird den Kindern erzählt, Griechen hätten die Demokratie erfunden. Die Deutschen galten als besonders griechenfreundlich, doch ihre Dichter und Denker ignorierten die Polis der Gleichen. Sie wollten genial und ungleich sein.

Den Verwirrungen ging Pastor Gauck nicht aus dem Weg, den Verlockungen einer weltlichen Predigt widerstand er. Seine Wortgewandtheit nutzte er nicht, um das Unstimmige Europas zu überdecken. Auch Sklaven gab es noch in der Wiege Europas, ein großer Philosoph hielt den Unterschied zwischen Freien und Unfreien für berechtigt. Die meisten seiner Denkerkollegen hatten diese Unterschiede längst verworfen. Alle Menschen sind gleich. Bei aller Verschiedenheit.

In Tragödien und Komödien, die vor dem ganzen Volk aufgeführt wurden, waren Frauen den Männern oft überlegen. Selbst der größte Philosoph nannte eine Frau seine Lehrerin.

In den Anfängen Europas wurden in vielen Debatten und sozialen Kontroversen die Menschenrechte erkämpft. Das heutige Europa steht im Schatten Amerikas und Amerika will vom alten Griechenland nichts wissen. Es ist eifersüchtig auf die Rolle Griechenlands und will selbst Menschenrechte und Demokratie erfunden haben. Freiheit soll das Geschenk ihres amerikanischen Gottes sein, der ein biblischer Gott und Erfinder der Theokratie ist, des Gegenteils der Demokratie.

In Europa und Amerika finden seit dem Ende des 2. Weltkrieges Geschichtsfälschungen der Extraklasse statt. Alles Humane, das griechischem Boden entsprang, wird den Heiden entwendet und den Traditionen des Heiligen zugesprochen. Alles Schreckliche der Religionen wird den Ungläubigen zugesprochen.

Die Heilige Schrift des christlichen Westens beruht auf dem Hass gegen den selbstbestimmten Menschen der Polis und fordert Unterwerfung unter einen Gott des Jenseits, der Welt, Mensch und Natur für Fehlkonstruktionen hält und das Ziel des Lebens im Tod, in der Zerstörung des Menschlichen und Natürlichen sieht.

Europa hat gemeinsame Grundwerte. Doch die Grundwerte sind gespalten und bekämpfen sich bis aufs Messer – wenngleich unter der Decke herzlicher Einhelligkeit. Europa ist nicht nur gespalten, sondern schizophren. Seine Spaltungen verleugnet es und hält sich für glaubwürdig und aufgeschlossen.

Es führt keine Kanonen-Kriege mehr gegen Länder der Welt, die keine Kanonen haben und wehrlos sind. Das tat es früher, so wurde es zur Beherrscherin der Welt. Heute werden Kriege gegen die Welt mit Wirtschaft, mit Produzieren von Dingen und Macht über das Geld geführt. Die auferzwungenen Wirtschaftsregeln der Europäer haben den Erfindern der Regeln immensen Einfluss in der Welt gesichert.

Doch die Zeit der wirtschaftlichen Überlegenheit geht ihrem Ende entgegen. Inzwischen hat die unterlegene Welt derart aufgeholt, dass Europa und Amerika sich verbünden wollen, um dem Ansturm der „Dritten Welt“ Paroli zu bieten. Europas Macht lässt nach. Das kann es schwer verkraften und unternimmt alles, um im Schatten des Großen Bruders Amerika weit vorne mitzuspielen.

Es herrscht Nervosität und Hektik in Europa, weil es seine Vormachtstellung zu verlieren droht. Alles konzentriert sich auf Wirtschaft. Geist muss sich dem Geld unterordnen. Auch innerhalb Europas verschärft sich die Rivalität der Partner. Deutschland spricht gern von Solidarität, handelt aber, als hinge sein Reichtum nicht vom Reichtum ganz Europas ab. Deutsche Politiker haben nicht verstanden, dass man im europäischen Verbund nur zusammen durchkommt – oder zusammen untergeht.

Die beiden Kulturen, die sich in Europa unter der Decke treten und über der Decke in den Armen liegen, sind Griechentum und Religion. Nicht irgendeine Naturreligion, sondern eine, die Macht über alle Dinge in der Welt erringen will. Christen nennen es Erlösung. Sie wissen besser, was die Welt zu ihrem Glück braucht als diese selbst.

Der Glaube, mit dem sie die Welt erobern, tritt in verwirrender Pose auf: mit Leiden wollen sie siegen, mit Ohnmacht die Macht erringen. Das Eroberungsspiel mit Widersprüchen beherrschen sie perfekt. Kritisiert jemand ihre Macht, verweisen sie auf ihre Ohnmacht. Verhöhnt man ihren Gekreuzigten, verweisen sie auf den ersten christlichen Kaiser in Rom, der seine Macht im Namen des Kreuzes errang: in diesem Zeichen sollst du siegen.

In diesem Zeichen besiegten sie inzwischen die ganze Welt, landeten auf dem Mond und wollen demnächst den Mars besiedeln, wenn sie die Erde verseucht und zerstört haben.

Das christliche Europa ist ein Meister der Widersprüche. Es glaubt die Menschen zu lieben, die es in Elend und wirtschaftliche Not führt und rechtfertigt sich, es würde der Menschheit Fortschritt und Wohlstand bringen. Doch jeder Fortschritt müsse mit unvermeidlichen Nachteilen bezahlt werden.

Ohne Technik und Wohlstand haben außereuropäische Völker unendliche Zeiten inmitten einer fürsorglichen Natur gut und friedlich gelebt. Kriege waren Ausnahmen, die die Regel des Miteinanders bestätigten. Bis heute haben die Völker der Welt nicht den Mut aufgebracht, die Bilanzen der westlichen Lebensweise mit den Bilanzen der „Naturvölker“ schonungslos zu vergleichen. Allzuschnell wird der Vergleich hierzulande mit Verhöhnung des „Edlen Wilden“ verhindert.

Wenn die westliche Naturzerstörung den Untergang der Menschheit bewirken sollte, hätten die Naturvölker das bessere Leben gelebt. Das können sie heute nicht mehr beweisen, denn sie sind zur Übernahme des westlichen Lebensstils gezwungen worden.

Wenn Faschismus Zwangsbeglückung bedeutet, ist die gesamte westliche Kultur eine faschistische, die anderen Lebensmodellen keine Chance einräumt. Kein Volk, kein Mensch, kann in der „größten Freiheit aller Zeiten“ in Freiheit und Unabhängigkeit seine Lebensweise selbst bestimmen. Der Westen lebt von seinen Verblendungen. Daran wird er auch krepieren.

Weiße Missionare haben die Mär erfunden, dass Menschen in Einheit mit der Natur deren Dämonen, Grausamkeiten und Tücken untertan wären. Warum mussten alle Naturvölker zur Annahme der überlegenen materiellen Kultur mit Gewalt bekehrt werden? Wie viele Völker würden noch heute nach uralter Tradition leben, wenn man sie nicht zu ihrem fremdbestimmten „Glück“ gezwungen hätte? Wie kann die westliche Kultur von ihrem Lebensstil überzeugt sein, wenn sie ihre frohen Coca-Cola-Botschaften der Welt mit offener und versteckter Gewalt aufdrängen muss?

Von Freiheit und eindrucksvoller Ungleichheit kann nirgendwo auf der kapitalisierten Welt die Rede sein. Wer die Regeln der Technik und des Geldes nicht beachtet, ist zum Untergang verurteilt. Die Kultur der Welt war noch sie so planiert und gleichgeschaltet wie in der Kultur der unvergleichlichen Individuen. Der Unterschied an Besitz verstärkt nur die Despotie des eindimensionalen Besitzdenkens.

Die Unterschiede der Quantität liquidieren die Unterschiede der Qualität. Die Unterschiede der Begabungen und Neigungen enden an den uniformierten Machtgesichtern, Luxusmarken und Lebensstilen der Eliten, die immer mehr in parallelen Welten und isolierten Revieren gegen den Rest der Welt zueinanderfinden.

Die Führer der Welt haben kaum noch Berührung mit der Welt. Wie die Menschheit lebt, was sie will, worunter sie leidet, was sie glücklich macht: die „Ungleichen“ wollen am besten wissen, was die Menschheit für ihr Glück benötigt. Die Wirtschaftsweise Europas vernichtet untergründig die größte Errungenschaft Altgriechenlands: die gleiche Würde des Menschen, politisch übersetzt in Demokratie und Rechtsstaat.

Bald werden wir rund um den Planeten in vorbildlichen Demokratien leben, die in Wirklichkeit totalitäre Zwangsbeglückungen sind und niemandem die Chance geben, gegen Unterdrückung und Fremdbestimmung aufzubegehren. Wogegen wollen sie rebellieren? Gegen exzellente Demokratien auf dem Papier?

Die öffentlichen Begriffe verkehren sich immer mehr ins Gegenteil ihrer bisherigen Bedeutungen. Freiheit ist Zwang zum Reichwerden, Gleichheit Zwang zu Laptop und Ganzkörperrasur, Brüderlichkeit Degradierung zu Hilfsobjekten von Charity und Gnade.

Obwohl Gauck Pastor ist, sprach er in selbstkritischer Objektivität von der Mischmoral des christlichen Ethos, die bei heiliger Motivation auch das Böse erlaubt. Das Böse bei untadeliger Gesinnung ist das Beste, das man Nächsten und Fernsten antun kann. Das Gute bei böser Gesinnung ist das Schlimmste, was die Welt erdulden muss. Eindeutige gute Taten gibt es nicht. Tugenden der Heiden sind goldene Laster. Untugenden der Frommen schmutzige Liebestaten. Der richtige Glaube entscheidet.

Wer den wahren Gott Europas und Amerikas auf seiner Seite hat, kann nicht mehr sündigen. Die Unfehlbarkeit des Westens ist jenseits von Gut und Böse angekommen, was bedeutet, alles Böse, was er tut, ist automatisch gut. Denn es wird von Guten getan, die in der Wahl der Mittel und in der Selbsteinschätzung als Gute nicht mehr irren können.

Das Geheimnis der christlichen Mischmoral besteht darin, dass das Gute benutzt werden kann, um das Böse zu legitimieren. Du sollst nicht töten? Unbedingt – es sei, du wirst von Bösen angegriffen. Du sollst Vater und Mutter ehren? Unbedingt – bis sie verbraucht und dement sind; dann kannst du sie in Gettos abschieben. Du sollst Weib und Kinder lieben? Unbedingt – es sei, sie wollen nicht mehr deinen Betrieb übernehmen und ein einfaches und schlichtes Leben führen. Dann sollst du sie enterben und nie mehr ihrer gedenken. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst? Unbedingt – es sei, dass du dich selber nicht liebst und dein Leben in nichtigem Erfolg verpfuschst. Dann darfst du auch das Leben jener verpfuschen, die von dir abhängig sind.

Es fiel Gauck sichtlich schwer, vom großen Zwiespalt Europas zu reden, das sich nicht entscheiden kann zwischen Offenbarung und Vernunft. Doch er zwang sich zur Redlichkeit. Es geht nicht um Glauben gegen Unglauben, es geht um die Wahl des rechten Glaubens. Es geht nicht gegen den Glauben an ein höheres Wesen. Schon gar nicht gegen den Glauben an das allerhöchste Wesen – den Glauben an die Natur. Es geht um die Prüfung der Geister, was sie zu einem guten Leben auf Erden beitragen.

Trägt ein Glauben dazu bei, die Menschen zu lieben und zu herzen, ihnen zu vertrauen und beizustehen, her mit diesem Glauben, der solche Wohltaten vollbringt. Davon können wir gar nicht genug kriegen.

Doch alles gegen den Glauben an einen männlichen Gott, der sich erkühnt, die Welt aus Nichts erschaffen zu haben, um sie demnächst wieder ins Nichts zurückzuschicken. Der sich brüstet, seine Kreaturen zu lieben, doch die Majorität ins ewige Feuer schickt. Der die Natur mit Auszeichnung erschaffen haben will, sie aber sofort wieder vertilgen wollte, weil sie irreparabel böse war. In der Apokalypse will er sie endgültig vernichten. Von dem Supergau profitieren wenige Gläubige, die vor dem größten Moloch der Weltgeschichte die Knie beugen.

Es geht um den Erlöserglauben, der sich mit beispielloser Energie, Raffinesse und Gewalt die Erde untertan gemacht hat. Es geht um den christlichen Glauben, dessen Werte Europa und Amerika verbinden. Es geht um den europäischen Glauben, der auf Herz und Nieren untersucht werden muss.

An dieser Stelle zitterte die Stimme Gaucks. Manche Zuhörer glaubten gar, der Redner sei einem körperlichen Kollaps nahe gewesen. Doch der erste Mann der Republik hielt sich tapfer und sagte, was man sagen muss, wenn man die Wahrheit liebt. Das Publikum war wie gebannt. Obwohl es schon viele Reden über sich hatte ergehen lassen, diese Rede war eine außerordentliche. Keine normale Übung in Rhetorik und Wortgeklingel. Gauck sprach wie einer, der sich von allem europäischen Selbstbetrug befreite. Es war wie ein therapeutischer Akt. Als Gauck endete, musste er gestützt werden. Das Publikum war wie in Trance. Man hätte eine Nadel fallen hören.

Das war die lang erwartete Rede unseres Bundespräsidenten, nachzulesen in jeder Gazette. Das Land ist seitdem in Aufruhr.

Vielleicht war es aber auch nur ein Traum.