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Samstag, 22. September 2012 – Optimismus

Hello, Freunde der arabischen Revolution,

wichtige Leute warnen gern, sie wollen bei Misserfolg Recht behalten. Ermuntern, bestärken ist nicht ihre Sache, schon gar nicht bei langfristigen Prozessen.

Nach dem 2. Weltkrieg hätten die Amerikaner davor warnen können, die Deutschen für lern- und demokratiefähig zu halten. Sie hätten falsch gelegen. Doch niemand hätte sie zur Rechenschaft gezogen, die Deutschen für irreparable Teufel gehalten zu haben.

Man stelle sich Eltern vor – die es nach dem Krieg noch massenhaft gab –, die ihren Kindern einbläuen, sie sollten ja nicht glauben, in ihrem zukünftigen Leben tüchtige und verlässliche Menschen zu werden. Wer seinem Kind nichts zutraut, vermasselt dessen Zukunft. Jede Einschätzung von Autoritäten dient als Leitmotiv der Abhängigen, ihren Eltern und Erziehern Recht zu geben, auch wenn sie sich selbst dabei beschädigen.

Wenn Gott den Menschen sagt, dass sie defekte Wesen sind, so werden die Sündenkrüppel sich gegenseitig massakrieren, um ihrer obersten Autorität nicht Unrecht zu geben. Nach diesem Prinzip funktioniert die ganze Heils- und Unheilsgeschichte des Westens.

Optimistische und pessimistische Prognosen sind keine neutralen Beobachtungen. Sie wirken im Sinn einer Selbstbestätigung.

Peter Scholl-Latour und Henry Kissinger haben „schon immer“ davor gewarnt, den arabischen Aufbruch als verheißungsvollen Weg muslimischer Länder in Freiheit und Demokratie zu betrachten. Nun gab es

viel Aufruhr und Getümmel in muslimischen Ländern wegen eines aufhetzenden Mohammed-Films. Die Bedenkenträger schienen wieder einmal Recht zu behalten, wenn sie vor dem Traum einer wachsenden Verträglichkeit der Kulturen warnten. Einmal fanatischer Muslim, immer fanatischer Muslim.

Schaut man aber genauer hin, ist der arabische Aufruhr nur die Sache fanatischer Minderheiten wie der Salafisten und Wahabiten. Jene Stimmen, die vor Intoleranz warnen und demokratische Spielregeln anmahnen, werden im Westen gar nicht gehört. Die meisten Medien sind nur an alarmistischen Zerrbildern fremder Kulturen interessiert.

Karim El-Ghawary in der TAZ hält dagegen und berichtet en detail von den wirklichen Reaktionen in muslimischen Ländern. Nur 20 Männer waren es in Kairo, die gegen das Video demonstrierten. In Bangladesh und im Südirak wurde friedlich demonstriert. Die Muslimbrüderschaft in Ägypten beruhigte ihre Anhänger, auch in Tunesien hat sich der Wind gedreht. Die Ennahda-Partei geht in Konfrontation zu den Salafisten.

Die deutsche Presse ist weder fähig noch willens, den arabischen Aufbruch kritisch-wohlwollend zu vermitteln. Es schlägt die Stunde der großen alten Schmäh-Warner.

Nur bei Goethe, dem Multikulti-Poeten, verschwimmen Orient und Okzident. Das ist nur erklärlich, wenn man den Faktor Religion aus großer Höhe – nicht mehr sieht. Heute erleben wir die blinde Gegenreaktion: Arabern und Muslimen kann man nicht über den Weg trauen.

Schönes Thema für eine germanistische Doktorarbeit – bei der man bestimmt nicht abkupfern kann: Inwiefern Goethe nicht unschuldig ist an einem SPD-Mann namens Sarrazin.

 

Nur keine übertriebenen Erwartungen im Guten, lieber solche im Bösen. Das klingt nach Realpolitik und heroischer Resistenz vor dem Inferno, dem Lieblingssport der Walhalla-Germanen. Warn-Propheten tragen dieselbe Verantwortung für die Zukunft wie Zuversichts-Propheten. Doch nur die Zuversichtlichen werden zur Kasse gebeten, wenn sie sich geirrt haben. Welchen Schaden die Warner durch unterlassenes Ermuntern und Bestärken anrichten, bleibt stets im Dunkeln.

Käme ein junger Mann, der es zu etwas gebracht hat, zu seinem alten griesgrämigen Lehrer mit dem kessen Satz: Das hätten Sie mir nicht zugetraut, dass ich OB von Freiburg werde, was sagen Sie jetzt? Ein unerschütterlicher Grantler würde sich beileibe nicht widerlegt fühlen. Im Gegenteil, er würde zurückschlagen: ist doch keine Kunst, in Freiburg kann selbst ein Grüner OB werden.

Die Warner und Miesmacher haben es geschafft, sich das Image der Nüchternen und Illusionslosen zu sichern und ihren Gegnern das Image der leichtsinnigen Berufsoptimisten zuzuschieben. Zuversicht bedeutet nicht kritikloses Überschätzen, sondern Wissen um menschliche Entfaltungsmöglichkeiten und die Gefahren des Scheiterns.

Der Unterschied zwischen Pessimismus und Optimismus entscheidet über die Weltpolitik und das Schicksal der Menschheit. Also kein Grund für Tagesschreiber und Intellektuelle, darüber einige Zeilen zu verlieren. Wer heute sagen würde, er glaube unbeirrt an das Gute im Menschen, löste einen Schreikrampf in jeder vornehmen Redaktionsstube aus.

Was war der Unterschied zwischen dem beleibten Lehrer und seinem täglich Gymnastik treibenden Schüler? Der eine war Optimist, der andere Pessimist, was die Lernfähigkeit des Menschen anlangte. Stopp, der eine war zuversichtlich, der andere sah schwarz. Die kleine Differenz zwischen Zuversicht und Untergangsstimmung ist der Unterschied zwischen Demokratie und Faschismus.

Sokrates hielt den Menschen für lernfähig und vernünftig – und war dennoch kein rosaroter Optimist, der auf Teufel-komm-raus an ein gutes Ende glaubte.

Optimismus ruht auf dem Glauben an eine übermenschliche Macht, Zuversicht auf dem an die autonomen Fähigkeiten des Menschen. Hätte Sokrates an ein gütiges Geschick geglaubt, wäre sein leidenschaftlicher Einsatz auf der Agora überflüssig und unverständlich gewesen.

Was die Natur dem Menschen an Einsichtsfähigkeit schenkt, ist eine Gabe, die sich der Beschenkte zur Aufgabe machen muss. Ich muss mir erst aneignen, was ich in mir habe. Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. (Klar, dass der Frankfurter Macho nur die Väter erwähnt, Mütter haben den Kindern nichts mitgegeben.)

Benutzt eure Denkfähigkeit und lasst sie nicht leichtsinnig verkommen – in der eingebildeten Selbsteinschätzung, ihr hättet Selbstüberprüfung nicht mehr nötig. Das ist der Sinn des Satzes: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Mein Wissen muss ich mir erarbeiten. Der Anlage nach liegt alles komplett in mir, doch wenn ich es nicht aktiviere, wird es zur routinierten Torheit verkommen.

Was sportliche Fähigkeiten betrifft, würde kein Mensch widersprechen, dass man trainieren müsse, um fit zu werden. Das Trainieren der Denkfähigkeiten ist keine Vorbereitung für Jauchs Wissensabfrage. Die 08-15-Schule ist eine Inhalierstation von Dingen, die ich nach dem nächsten Test wieder erbrechen kann.

Denken wird den Kindern in der Schule abgewöhnt. Eine von Schavan geliebte Schule ist das Gegenteil einer philosophischen Anstalt, inklusive aller Hochschulen und besonders der Exzellenz-Universitäten. Wer nur Scheine machen muss, kann seinen Neokortex nicht in Schwingung bringen.

Die sokratische Hebammenkunst war ein Trainingsprogramm zum Erlernen der eigenen Denkfähigkeit, die unter Traditionen und Tabus erstickt worden war. Erst musste man seine Verkrustungen abtragen, um seine kindlichen Potentiale zu heben.

Mäeutik wird immer des Sadismus verdächtigt, der Überlegene überführe den Naivling, um ihn dem Spott der Zuschauer auszuliefern. Das Gegenteil ist der Fall. Ein sinnvoller Dialog ist die einzige Form der Konkurrenz, in der beide Wettbewerber voneinander profitieren.

Das neoliberale Hauen und Stechen kennt nur Gewinner und Verlierer. Ein gekonntes Gespräch kennt nur lernende Profiteure und Klügergewordene – auch wenn der Disput in ratloser Aporie endete.

Ein weiterer Beweis, dass der christliche Antagonismus zwischen Egoismus und Altruismus katastrophaler Unfug ist. Ist der Mensch ein zoon politicon, dann nicht aus saurer Pflicht, sondern aus Lust am bereichernden Umgang mit Menschen. Ich werde erst Ich, erst Individuum, wenn ich unter Menschen bin, von ihnen lerne, mit ihnen streite, ihre Sympathie gewinne, sie achte und schätze.

Es ist kein Zuckerlecken, in einem überprüfenden Gespräch das Ausmaß seiner Ignoranz wahrzunehmen und zuzugeben. Wer dieser Schamprobe ausweicht und sich nur als Bildungsbesitzer darstellt, ähnelt jenen Leuten, die ihre Bücher nicht führen, sich für vermögend halten, obgleich sie in Wirklichkeit schon längst insolvent sind.

Ein gutes Gespräch, das zur Sache geht, erkennt man daran, dass man sich nützt, wenn man dem andern nützt. Das Ego und das Alter Ego verschmelzen nicht, im Gegenteil, jeder wird sich seines Egos illusionslos bewusst. Und dennoch kommt‘s zur unvergleichlichen Begegnung, nur der Vereinigung von Liebenden vergleichbar, weshalb ein sinnvolles Gespräch auch als erotischer Akt beschrieben wurde.

Spätestens nach seinem Todesurteil hätte Sokrates allen Grund gehabt, auf Demokratie, Vernunft und das Gute im Menschen bitter und enttäuscht zu fluchen. Kein moderner Dramatiker hätte sich die Gelegenheit entgehen lassen, das ganze postmoderne Brimborium aus Schiffbruch und Bankrott dem Todesgeweihten ins Drehbuch zu schreiben.

Nichts davon bei dem tragik- und selbstmitleidsunfähigen Fundamentalisten der Vernunft. Kein Wunder, dass dieser Hardcore-Liebhaber der Menschheit fast von keinem ach so ambivalenten, hin und her geschüttelten und zerrütteten, ins Scheitern vernarrten Profiskeptiker der gegenwärtigen Literatur und Bühnenkunst zum Gegenstand der Darstellung gewählt wird.

Die sancta simplicitas der Rechtgläubigkeit legt gern noch ein Scheit auf den Holzstoss der medialen Verfeuerung des unausstehlich heidnischen Verstandes. Was ein gewisses Maß an Komplexität unterschreitet, ist von Luhmanns Aus- und Binnendifferenzierungsrastern nicht mehr erfassbar. Sokrates ging ungebrochen in den Tod. Das verzeiht ihm kein anämisches Genie der allerheiligsten Vergeblichkeit.

Bei Platon schon ganz anders, zwar nicht von heute auf morgen. Erst versuchte er alles im Guten. Dreimal glaubt er, Despoten in Unteritalien von seiner Politeia überzeugen zu können. Wird rausgeschmissen, als Sklave verkauft, von Freunden ausgelöst. Seine positive Sicht auf den Menschen musste viele Prüfungen erleben, bis sie erschöpft in Stücke brach – und den Faschismus erfand.

Und seid ihr nicht willig, so brauch ich Gewalt. Was sein Lehrer unbeirrt im Guten, musste er nach vielen Enttäuschungen mit der Bestie Mensch mit staatlicher Gewalt erproben. Sein idealer Staat unterwirft den Menschen von der Wiege bis zur Bahre dem Diktat des Beglücktwerdens. Hier gibt’s keinen eigenen Weg, keine Lizenz zur abweichenden Benutzung des Denkapparats.

Sokrates, schreibt Popper, wäre in der Polis seines genialen Schülers als erster unters Schafott geraten. Ein Faschist ist kein geborener Menschheitsfeind. Er kann nur nicht mehr an den Menschen glauben, den er mit Gewalt beglücken muss.

Der Verzweiflungstat von Eltern, lieber ihre Kinder zu töten, als sie einem ungewissen oder miserablen Leben zu überlassen, entspricht die Erfindung einer perfekten politischen Beglückungsmaschinerie – um sein Volk für immer ins Licht zu führen. Keinem Menschen, der ehrlich zu sich wäre, ist dieser Impuls unbekannt. Seine Kinder will man mit aller Gewalt glücklich sehen. Erlebt man dann seine Ohnmacht, will man lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Faschismus ist die Gefahr aller „zu viel“ liebenden Eltern, die es nicht ertragen, nicht Gott gleich zu sein. Die Ideologie der christlichen Gottebenbildlichkeit extremisierte den Platonismus ins Universelle.

Genau genommen war Sokrates kein Optimist, der vom guten Ausgang einer Begebenheit bedingungslos überzeugt gewesen wäre – unabhängig vom Tun und Machen der Betroffenen. Gläubiger Optimismus unterscheidet sich diametral von autonomer Zuversicht, die immer nur sprechen kann: ihr habt die Chance, euer Vorhaben zu verwirklichen, wenn ihr alles tut, was in eurer Macht steht.

Amerikaner sind Optimisten, weil sie an den guten Willen ihres Gottes glauben, der die Fäden der Geschichte in der Hand hält. Sie vertrauen nicht der Menschheit, sondern allein dem Himmel, von dem sie sich erwählt fühlen. Auch das stimmt nur bedingt. Sie sind Optimisten nur in Bezug auf ihr eigenes auserwähltes Schicksal. Was den Rest der verworfenen Menschheit betrifft, sind sie Pessimisten – oder kalte Gleichgültige.

Eine Selektionsreligion sieht nur das Schicksal des Weizens optimistisch. Was aus der Spreu wird, scheint den Frommen gleichgültig. Oder sie verspüren gar eine klammheimliche Genugtuung, dass es den Sündern recht geschehe, wenn sie für ihr Lotterleben büßen müssen.

Die Amerikaner glauben nicht an den Menschen. Insofern trügt ihr Optimismus, wenn er universelle Zuversicht verbreiten will. Tief im Innern verachten – oder bedauern – sie die verlorene Menschheit, die ihrem gerechten Schicksal nicht entgehen wird.

Auch Leibniz ist nur gläubiger Optimist. Genau besehen sieht er schwarz, denn seinem Gott traut er wenig zu. Die beste aller möglichen Welten ist beileibe keine gute oder gar perfekte Sache. Sie ist, wie sie ist: eine bessere zu erschaffen, war der Schöpfer nicht fähig.

Voltaires hätte sich seinen Spott über den lächerlichen Optimismus von Leibniz angesichts des Erdbebens von Lissabon sparen können. Der Hannoveraner glaubte mitnichten an eine fehlerfreie Schöpfung. Ein sündenfreies Paradies zu schaffen, dazu war der Creator nicht fähig, dessen Allmacht mehr als begrenzt war. In diesem Punkt hätte der Franzose vor der eigenen Tür kehren können, denn als Deist glaubte auch er an einen fürsorglich-rationalen Gott.

Die Antipoden zu den optimistischen Amerikanern sind die pessimistischen Deutschen. Ihre nationale Düsternis erhielt eine metaphysische Begründung bei Schopenhauer und gipfelte im welthistorischen Pessimismus des Oswald Spengler, der das Abendland kaltlächelnd nach ehernen Gesetzen untergehen ließ.

Doch vieles am deutschen Schwarzsehen war taktischer Natur. Es war Zweckpessimismus in der geheimen Hoffnung, durch unverhoffte Wunder und Zeichen doch noch widerlegt zu werden. Keine erlösungssüchtige Nation wie die deutsche tritt einfach ab, ohne verzweifelten Widerspruch einzulegen. Wer permanent von großer Not redet, hofft im Untergrund auf Erlösung aus der Not. Aus tiefer Not schrei ich zu Dir, Herr Gott, erhör mein Rufen.

Trauen sie die Heilstat ihrem Gott nicht mehr zu, müssen sie die Errettung in eigener Regie durchführen. Die Deutschen waren zu Faschisten geradezu prädestiniert. Je ungerechter sie ihr Schicksal empfanden, je mehr setzten sie auf eine Lichtgestalt, die sie vor aller Welt rehabilitieren sollte.

Der jüdische Historiker Fritz Stern schrieb über den Zusammenhang von Geschichtspessimismus mit der Gefahr einer faschistischen Selbstbefreiung durch Tod und Verderben ein instruktives Buch: „Kulturpessimismus als politische Gefahr“.

Wo steht die Menschheit heute? Der forcierte Optimismus der Amerikaner ist am Kippen. Im Sog des Niedergangs steht der ganze christliche Westen. Die Deutschen sind längst wieder bei ihrem Lieblingsspiel, dem taktischen Schwarzsehen und der heroischen Apokalypse.

China, die älteste Kultur der Welt, kennt nicht die Psychopathologie des Westens. In welchem Maß sie durch globale Verflechtung vom Doppelvirus des höllischen Pessimismus und des himmlischen Optimismus angesteckt ist, weiß sie selbst noch nicht. Der Kampf zwischen Konfuzius und dem Messias, der da kommen soll, steht noch aus.

Die andern Länder orientieren sich instinktiv an den Leitbullen der Weltpolitik. Die Debatte um die unterschiedlichen Befindlichkeiten der Nationen hat noch nicht begonnen.

Der empfundene, aber tief verdrängte Durchschnittspessimismus der Moderne hält sich mühsam fest am einzigen positiv deklarierten Symptom des Westens, am zwanghaften Wachstum der Wirtschaft. Die Ökonomie ist zum letzten kompensativen Rettungsanker des ökologischen Versagens geworden.

Wenn die Menschheit schon nicht fähig ist, sich selbst am Leben zu erhalten, will sie wenigstens mit Triumphgeheule und Wachstumsprognosen – den Schierlingsbecher leeren.