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Tagesmail

Samstag, 16. Juni 2012 – Götz Aly

Hello, Freunde der Ukraine,

die mutigste Widerstandsgruppe der Ukraine heißt Femen und ist weiblich. Durch ihre Strategie der körperlichen Entblößung haben sie weltweites Aufsehen erregt. Die Frauen kämpfen gegen obrigkeitliche Schikanen und Foltermethoden, aber auch gegen die UEFA, die keinerlei politische Kritik am Regime während der Europameisterschaft zulässt.

Michel Platini hat den deutschen Fußballer Philipp Lahm rüde abgekanzelt, weil er das ukrainische Regime angriff. In den ausufernden Fußballsendungen der Sender wird jede taktische Kleinigkeit wie ein Kriegsgeschehen kommentiert, doch Politik bleibt ein Tabu. Man will sich die Stimmung nicht verderben lassen.

Im Vorfeld gab es Stimmen, dass Sportler und Touristen an Ort und Stelle Position beziehen sollten. Davon kann keine Rede sein. Der Rummel wird vorüberziehen, die Ukrainer werden mit ihren Peinigern allein gelassen werden.

Am Sonntag wählen die Griechen, ganz Europa schaut nach Athen. Doch das Schicksal des Euro wird nicht bei den Hellenen entschieden, sondern in der mächtigsten Wirtschaftsnation und das ist Deutschland, meint Ullrike Herrmann. Es könne nicht sein, dass unsre Exportpower immer stärker wird, ohne

dass die zu Import gezwungenen Staaten immer schwächer werden müssten.

Im Vergleich mit Deutschland sinken die schwachen Staaten immer mehr ab. Ein wesentlicher Grund für ihre mangelnde Wettbewerbsfähigkeit sind die zu geringen Binnenlöhne in Deutschland. Die Arbeitnehmer verdienten zu wenig, damit die Exportkraft ständig wachsen kann.

Natürlich müssten die Griechen ihr Land reformieren, der wesentliche Punkt der Veränderung aber liege bei uns. Die Löhne müssten gewaltig erhöht werden, damit die Exportwalze geschwächt und die Wettbewerbsfähigkeiten anderer Länder gestärkt werden. Kurzfristig müssten die Zinsen gesenkt werden, um den Euro zu retten. George Soros spricht von drei Monaten, die Europa noch Zeit hätte.

Die Rettung wäre ganz einfach, wenn die Europäische Zentralbank unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen dürfte. Die bisherigen Rettungsringe seien zu klein, die Billionenspritzen für die Banken hätten nur kurz gewirkt.

 

In Rio wird eine Umweltkonferenz eröffnet, Frau Merkel hält es nicht für nötig, nach Brasilien zu fliegen. Niemand erwartet irgendetwas Substantielles von den ökologischen Polittouristen. Die „grüne Ökonomie“, die auch von Deutschland propagiert wird, setzt ebenfalls auf Wachstum.

Viele Fortschritte in der Umweltpolitik, die es ohne Zweifel gibt, werden durch die Wachstumszwänge wieder aufgefressen. Doch besser eine miserable Umweltkonferenz als keine, meint Bernhard Pötter in der TAZ.

 

Etwa 80 000 Jugendliche haben in Deutschland den Anschluss an Schule, Arbeitswelt und Sozialsysteme verloren. Sie leben von finanzieller Hilfe ihrer Familien, Partner oder Freunde oder sind abgerutscht in Schwarzarbeit und Kriminalität. Wenn sie nicht genügend Bewerbungen vorzuweisen haben oder gegen sonstige Auflagen verstoßen, werden ihnen alle Leistungen gestrichen.

Das sei einer der großen Skandale der Sozialgesetzgebung, sagen Experten. Auch die restriktive Wohngeldvergabe verhindere, dass die Jugendlichen zu Hause ausziehen und sich selbständig machen könnten.

Hat der Neid die Deutschen zum Judenhass geführt? In der WELT hat Götz Aly seine bekannten Thesen in Form eines Porträts des Dichters und Journalisten Ludwig Börne veröffentlicht, der ein scharfer Beobachter und Kritiker der Deutschen war.

Gleichwohl kann man bei ihm lesen, dass er es als große Gnade empfand, „zugleich ein Deutscher und ein Jude zu sein.“ Doch was schätzte er an Deutschen?

Aly macht sich ein diebisches Vergnügen daraus, nur das Negative vorzuführen, welches Börne den Deutschen vorwarf. Das kann unmöglich so gewesen sein, sonst hätte es nie zur deutsch-jüdischen Symbiose kommen können.

Gershom Sholem hat die deutsch-jüdische Symbiose bestritten, sie sei nur Täuschung gewesen. Doch auch Täuschungen sind real und beruhen auf Gründen. Es waren jüdische Rechtsanwälte und Ärzte, die ihren Schiller und Lessing besser kannten als die meisten Deutschen. Marx war ohne Hegel nicht denkbar, Heine nicht ohne Goethe, Cohen nicht ohne Kant, Freud nicht ohne Schopenhauer.

Was hat die beiden Ethnien zueinander geführt? Beruhte die Hassliebe zwischen ihnen darauf, dass sie sich zu ähnlich waren? Beide auserwählte Völker, die büchersüchtig waren und ihre Religion auf eine heilige Schrift gründeten?

Im Verhältnis zu den Juden waren die Deutschen enorme Spätlinge. Die Juden waren das einzige antike Volk, das den Niedergang Roms und die Wirren der germanischen Völkerwanderung überlebt und, über alle Völker verteilt, den Sprung in die Moderne geschafft hatte. Als die Germanen noch auf den Bäumen saßen, lasen jüdische Kinder bereits im zarten Alter hebräische Urschriften.

Da sie gezwungen waren, in äußerst verschiedenen Völkern und Nationen zu überleben, waren Juden nicht nur sprachen- und weltkundig, sondern hatten gelernt, viel bewusster ihr Leben zu führen als die Einheimischen, die solche Herausforderungen nicht kannten. Denn im Dunst des Selbstverständlichen konnten sie sich mit ihren vertrauten Gewohnheiten begnügen.

Juden waren weltläufiger, gewandter, bewusster und selbstbewusster als die meisten Völker, unter denen sie „Gast“ waren. Wo bei anderen das kollektive Es herrschte, waren die Juden bereits ins Stadium des Ich vorgedrungen.

Börne bestätigt diese Beobachtungen, wenn er die Deutschen im Schutz des Kollektivs sieht, das zumeist Wir sagte, während die Juden das „pralle Ich präsentierten“. Unter ihnen stünde keiner so niedrig, dass „er sich nicht als Mittelpunkt der ganzen Welt ansehen sollte“. Das klingt verwegen und gar nicht bescheiden. Die Auserwähltheit des Volkes war in das kaum überbietbare Selbstbewusstsein des einzelnen Juden übergegangen.

Da sie als Volk zerrissen waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als jedes einzelne Ich mit jener Bedeutung auszustatten, die die Germanen auf das Wir verteilen mussten. Dass ein solches Wir mit solchen Ichs nicht harmonieren konnte, weiß jedes Mitglied eines Fußballteams, wenn er mit einem solistischen Tennisspieler zusammenprallt.

Doch Solisten waren die Juden dennoch nicht, sie fühlten sich als Teile eines ganzen Volkes, das durch Dick und Dünn zusammenhielt und ein gemeinsames Schicksal zu absolvieren hatte. Bei allem Streit untereinander – zwei Juden, drei Meinungen –, im Zweifelsfall gehörte man zusammen.

Die Aversion der Wir gegen die Ichs mündete auch in den antikapitalistischen Affekt der Deutschen gegen das liberale Ich, das aus der Sicht der Deutschen zum Kern des Ausbeutersystems gehörte oder zur Zinsknechtschaft des internationalen Finanzjudentums. Kein Wunder, dass Dan Diner die Kapitalismuskritik der Deutschen als sekundären Antisemitismus verdächtigte.

Da sie mental wendiger und flexibler waren, erlebten die Juden das germanische Wirtsvolk als träge und verlangsamt. Das deutsche Blut „schleiche langsamer als ein Zivilprozess“, schrieb Börne. An seinen eigenen Leuten schätzte er Eigensinn, Beweglichkeit und nicht vorhandene Volkstümelei. „Deutsche sind Sklaven, sie werden einmal ihre Ketten brechen, und dann sind sie frei. Der Deutsche aber ist Bedienter, er könnte frei sein, aber er will nicht; man könnte ihm sagen: Scher dich zum Teufel und sei ein freier Mann!“ – er bliebe und würde sagen: „Brot ist die Hauptsache.“

An dieser Analyse hat sich bis heute nicht viel geändert. Noch immer sind die Deutschen Knechte des Brots oder einer tyrannischen Wirtschaft.

Im Gegensatz zu ihnen wären die Juden die „Lehrer des Kosmopolitismus, und die ganze Welt ist ihre Schule. Und weil sie die Lehrer des Kosmopolitismus sind, sind sie auch die Apostel der Freiheit.“

Das galt natürlich nur für die säkularen Juden. Die Rabbis waren äußerlich auch weltkundig, doch religiös waren sie einem eifersüchtigen und intoleranten Jahwe untertan.

Seit mehr als einen halben Jahrhundert haben die Juden ihren apolitischen Zustand überwunden und nach mehr als 2000 Jahren einen eigenen Staat gegründet. Nun können sie am eigenen Leib feststellen, wie schwierig es ist, ein kollektives Wir mit einem prallen Ich zu verbinden. Sie erleben die Trägheit und geistige Abhängigkeit des Individuums in der Masse, wenn sie fast die ganze Politik Netanjahus ablehnen und doch an ihm festhalten.

Es ist ein Unterschied, ob man als individuelle Familien unter alle Völker verstreut ist – um ihnen ein Licht zu sein – oder ob man selbst ein Kollektiv geworden ist, dem sich das Ich aus Bequemlichkeit unterordnet. Hatten die Deutschen jahrhundertelange Probleme, ihre nationale Politik zu entwickeln, so die Juden in ihrem neuen Staat, der noch nicht das sichere Selbstbewusstsein gefunden hat, um zu einer friedlichen Außenpolitik bereit zu sein.

Doch Börne war kein jüdischer Chauvinist. In seiner politischen Utopie sah er alle Völker vereint: „Die nächsten Jahrhunderte werden weder den Franzosen, noch sonst einem Volk oder einem Fürsten gehören; sondern der ganzen Menschheit.“

Dieser wahre Kosmopolitismus, der die linken und fortschrittlichen Juden beseelte, war den religiösen Ultras ein Dorn im Auge. Den späteren Holocaust betrachten heutige fundamentalistische Rabbiner als gerechte Gottesstrafe für den Verrat der säkularen Juden an ihrer traditionellen Religion.

Die deutsch-jüdische Symbiose musste scheitern, denn sie war zu einem „ehebrecherischen“ Bündnis mit minderwertigen Gojim geworden. Die Attraktivität der deutschen Kultur war wie das goldene Kalb, das die Kinder Israel umtanzten und dabei ihren Gott vergaßen.

Naziapologeten könnten sich auf orthodoxe Rabbiner berufen, um sich reinzuwaschen. Wenn Hitler & Co nur Marionetten Jahwes waren, um seine glaubensflüchtigen Kinder Israels zu bestrafen, müssen sie, wie Judas, unschuldig gewesen sein, der auch nur die Rolle spielen musste, die man von oben für ihn vorgesehen hatte.

Fast in allen Dingen, so Aly, seien Deutsche den Juden unterlegen. Aus Neid auf die Überlegenheit der Juden hätten die Deutschen die Fremden und Anderen gehasst. Neid sei der Kern des modernen Antisemitismus.

Hätte Aly sich mit dem christlichen Antisemitismus beschäftigt, hätte er Neid zwischen den beiden Glaubensrichtungen schon früher feststellen können: überraschenderweise als Neid der Juden gegen Jesus. So steht‘s in den Schriften der neutestamentlichen Schriftsteller, die auch Juden, aber christliche Juden waren. „Denn er – Pilatus – wusste, dass sie ihn aus Neid überliefert hatten.“ ( Neues Testament > Matthäus 27,18 / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/27/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/27/“>Matth. 27,18)

Überhaupt gefällt es christlichen Schreibern, den Juden Neid als typische Charaktereigenschaft zuzuweisen. Als die Juden den Erfolg der neuen Religion beim Volk bemerkten, reagierten sie mit Eifersucht, einem anderen Begriff für Neid: „Als jedoch die Juden die Volksmenge sahen, wurden sie mit Eifersucht erfüllt..“ ( Neues Testament > Apostelgeschichte 13,45 / http://www.way2god.org/de/bibel/apostelgeschichte/13/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/apostelgeschichte/13/“>Apg. 13,45)

Worauf sollen sie bei Jesus neidisch gewesen sein? Wie in solchen Fällen immer: aus Unterlegenheitsgefühlen. Sie hatten Angst, der neue Messias würde erfolgreicher sein als sie und ihnen mit seinem Charisma das Volk abspenstig machen.

Das erzählt der Evangelist Johannes, der die Hohepriester und Pharisäer sagen lässt: „Was tun wir? Denn dieser Mensch tut viele Zeichen. Lassen wir ihn gewähren, so werden alle an ihn glauben. … Von jenem Tage an beratschlagten sie nun, ihn zu töten“ ( Neues Testament > Johannes 11,47 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/11/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/johannes/11/“>Joh. 11,47 ff)

Natürlich mussten die rückständigen Germanen auf die weltkundigen und in fast allen Dingen überlegenen Fremden neidisch sein. Neid stellt sich automatisch ein, wenn das Glücks-, Kompetenz- und Machtgefälle zwischen verschiedenen Menschen oder Populationen zu groß wird. Doch Aly geht auf den religiösen Aspekt überhaupt nicht ein, als wäre dieser im Ausgang des vorletzten Jahrhunderts nicht mehr existent gewesen. Was absurd ist.

Hätte er die Schrift studiert, wäre er auf ein reziprokes Neidverhältnis gestoßen. Wenn die Deutschen wirklich davon überzeugt gewesen wären, das neue auserwählte Volk zu sein, hätten sie die Juden gar nicht hassen müssen. Ihr Neid auf die Zivilisationsfähigkeiten der Juden war nur die Oberfläche ihrer grundsätzlichen Eifersucht auf das primär auserwählte Volk, das zwar von Gott vorübergehend abgesetzt war, aber eines fernen Tages durchaus wieder in seine alte Position schlüpfen könnte.

Das war jedenfalls die Hoffnung des Juden Paulus, der irgendwann mit seinem Volk wieder vereint werden wollte. Im Römerbrief schreibt er, Gott habe die ursprünglichen Zweige im Ölbaum rausgerissen und die wilden eingepfropft, doch eines Tages könnten die alten wieder an ihrem ursprünglichen Platz zurückgebracht werden:

„Aber auch jene werden, wenn sie nicht im Unglauben verharren, eingepfropft werden; denn Gott hat die Macht, sie wieder einzupropfen. Denn wenn du aus dem von Natur wilden Baum herausgeschnitten und gegen die Natur dem edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wie viel mehr werden diese, die natürlichen Zweige ihrem eigenen Ölbaum eingepfropft.“ ( Neues Testament > Römer 11,17 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/11/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/11/“>Röm. 11,17 ff)

Es gab drei Optionen:

a) Christen konnten überheblich sein und die Juden verachten, weil sie anstelle der Juden dem edlen Ölbaum eingepflanzt worden waren. Dann müssten die Juden die Christen beneiden.

b) Eines fernen Tages könnten die Juden zur Einsicht kommen und sich zur neuen Religion bekehren lassen. Dann gäbe es Friede, Freude, Eierkuchen zwischen den verfeindeten Brüdern.

Oder c) Die wiederbekehrten Juden könnten wieder ihre alte privilegierte Stelle bei Gott einnehmen, Gott könnte die Entdeckung machen, dass das leere Nest mit Unwürdigen besetzt worden sei und ohne Umschweife wieder in die ursprünglichen Hände zurückgegeben werden müsse.

Dann hätten die Christen nur die Rolle der Schein-Auserwählten und Blender gespielt. Am Ende wäre die ursprüngliche Konstellation wieder hergestellt. Die Juden hätten die Nase wieder vorn und die Christen das Nachsehen. Dann wäre der Neid der zuerst erhöhten, dann erniedrigten Christen auf die Juden vollauf berechtigt.

Je mehr Juden und Christen innerlich an ihrer Berufung zweifeln, je mehr müssen sie ihre als überlegen eingestuften Rivalen mit Hass und Neid verfolgen. Das Neidverhältnis ist nicht einseitig, wie Aly betont, sondern reziprok.

Die Anziehungskraft der beiden Völker hängt von der Hoffnung ab, eines Tages ein Herz und eine Seele zu sein – und von der Furcht, der Andere könnte den Siegeswettlauf gewinnen und ihn in die Tiefe stoßen.

Man wird den Eindruck nicht los, als nütze Aly die jüdische Überlegenheit, um seine eigenen Ressentiments gegen die Deutschen süffisant loszuwerden. Auch die freiheitsbegierigen jüdischen Jünglinge beneideten das freiere Geistesleben der Deutschen, als sie im Ghetto isoliert und noch nicht gleichberechtigt waren.

Das Ghettoleben war durchaus nicht nur eine Zwangsmaßnahme christlicher Behörden. Auch die Rabbiner wollten ihre Schäfchen nicht den Versuchungen einer aufwachenden Gesellschaft aussetzen. Erst mit der napoleonischen Emanzipation durften die wiss- und freiheitsbegierigen jüdischen Jugendlichen hinaus in die freie Wildbahn und ihren eindrucksvollen Aufholprozess beginnen.

Der moderne Antisemitismus ist die Fortsetzung des religiösen Antisemitismus unter anderen Vorzeichen.

Juden und Christen hassen und ziehen sich an, weil sie sich zu ähnlich sind. Es ist ihre uralte Befangenheit in religiösen Glaubenskategorien, die es beiden Gruppen nicht gestattet, sich von der Phantasmagorie einer hybriden Auserwähltheit zu lösen.

Solange Religion das Leben westlicher Völker beherrscht – und sei es in subkutanen Dosierungen –, solange werden Hass und Ablehnung ihre Beziehungen verwüsten.