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Samstag, 15. September 2012 – Identität

Hello, Freunde der Kinder,

Kinder werden von Eltern erzogen und beeinflusst. Sind Kinder aber rechtloses Eigentum der Eltern, die den Wehrlosen ihren Glauben mit unauslöschlichen Zeichen einritzen und einkerben dürfen? Müssen Eltern nicht warten, bis ihre Kinder in der Lage sind, selbst über ihre Religionszugehörigkeit zu entscheiden? Sind gläubige Eltern sich ihrer Sache so unsicher, dass sie fürchten, frei wählende Kinder würden den Glauben der Tradition zurückweisen?

Es ist kein Ruhmeszeichen für Religionen, Hand an unmündige Kinder zu legen, göttliche Besitzansprüche in den wehrlosen Leib und die frühkindliche Seele einzugravieren. Wären sich Religionen ihrer Sache sicher, hielten sie ihr Leben für so vorbildlich, anregend und nachahmenswert ist, dass heranwachsende Kinder es gar nicht erwarten könnten, auch erwachsen und religiös zu werden.

Kinder wollen werden wie Erwachsene, wenn Erwachsene ein nacheifernswertes Leben führen. Religionen stellen sich ein miserables Zeugnis aus, wenn sie Kinder durch körperliche oder seelische Brandmarkungen frühzeitig zu Mitgliedern ihrer Glaubensgemeinschaft stempeln müssen. Sie misstrauen sich selbst, wenn sie den Kindern nicht die Möglichkeit geben, in wachem Bewusstsein, frei und ungehindert Ja oder Nein zu sagen.

Traditionen dürfen nur ein Angebot sein und keine Erblast, die man Kindern ungefragt auf die zarten Schultern legt.

Das philosophische Bewusstsein der Menschheit konnte sich nur in jenen Epochen entwickeln, in denen es gestattet, ja erwünscht war,

das Überkommene aus der Distanz zu betrachten, aus freiem Willen zu bejahen oder abzulehnen. Das zufällige Geworfensein des Kindes in eine Familie, einen Kulturkreis oder eine Religion darf nicht zur lebenslangen geistigen Determinierung führen.

Die Selbstbestimmung des Menschen beruht auf dem Satz: Prüfet alles, das Beste behaltet. Kinder müssen die Möglichkeit erhalten, das Leben ihrer Umgebung mit eigenen Augen zu betrachten. Woher soll die Kritikfähigkeit der Erwachsenen kommen, wenn man sie bereits Unmündigen vorenthält und deren gesamtes Leben durch Prägung der Anfänge inkorrigibel festlegt?

Die Qualität der Demokratien beruht auf der Freiheit der Kinder, ihre eigene Meinung über Gott und die Welt lernen zu dürfen. Gegenwärtige Erwachsenengenerationen unterlassen nichts, um die Zukunft ihrer Kinder für viele Jahrzehnte unauslöschlich zu versiegeln. Je mehr sie von offener Zukunft reden, je mehr determinieren sie das Kommende zur geschlossenen Verlängerung des Gewesenen und zur Wiederholung unbegriffener Vergangenheiten.

Von Alpha bis Omega wird die Lebenszeit der Nachkommen durch heutige Entscheidungsträger vorherbestimmt. Wie sie sich selbst von einem calvinistischen Gott prädestiniert fühlen, so geben sie die Unfreiheit eines umfassenden Lebensgefühls an ihre Kinder weiter.

Der Genfer Religionsgründer begnügte sich nicht mit der Prägung der Kinder ab ihren ersten Lebenstagen: schon vor Erschaffung der Welt hat der Schöpfer die Menschen zum Heil oder zum Unheil bestimmt. Den Kreaturen blieb nur noch, durch ökonomischen Erfolg zu erraten, ob sie zu den Erwählten oder den Verworfenen gehören.

Wer die Lebenszeit der Kinder prägen will, muss alle Zeiten prägen. Die Vergangenheit, das Reservoir gattungsmäßiger Erfahrungen, soll degradiert, die Zukunft durch Naturzerstörung, wirtschaftliche Maßlosigkeit und finanzielle Verpflichtungen für ewige Zeiten kontaminiert werden.

Vergangenheit und Zukunft sind verbotenes und verbranntes Gelände. Vor und nach uns die Sintflut. Die gegenwärtige Menschheit treibt auf schmalen Planken in eine düstere Verlängerung und Verschärfung des Vergangenen.

Probleme werden nicht gelöst, sondern akkumuliert. Alle Problemlösungen erwartet man von einer Zukunft, die man am Kommen hindert und mit verstrahlten Brettern der Vergangenheit vernagelt hat. Die Erwachsenen stehlen den Kindern ihre Zukunft, die sie nach eigenem Gutdünken formen wollen.

Die jetzige Menschheit ist möglicherweise die wichtigste in der ganzen Entwicklung des homo sapiens. Vermutlich hängt von ihr das Sein oder Nichtsein der gesamten Gattung ab. Was heute und morgen nicht geschieht, könnte übermorgen für immer zu spät sein.

Wir nähern uns der Epoche der Irreversibilitäten, vermutlich sind wir schon mittendrin. Was hic et nunc geschieht, entscheidet über die Existenz der Gattung. Je mehr wir von allseits offener Zukunft reden, je mehr begraben wir sie unter den Hypotheken der Vergangenheit.

Die Erfahrungen der Vergangenheit verschleudern wir, stehen nicht mehr auf den Schultern unserer Vorfahren. Wir sagen weder Ja zu Gutem noch Nein zu Schlechtem. Das Alte reißen wir raus, vernichten und eliminieren das Bewährte, um vom heilbringenden Neuen zu phantasieren. Was wir können, ist unser eigenes geniales Werk, das stets von vorne beginnen muss.

Sind Vergangenheit und Zukunft vom Tisch, nähern wir uns dem Status blinder Eintagsfliegen, die innerhalb weniger Stunden ihr Dasein beginnen, absolvieren und ad acta legen.

Wir vernichten nicht nur die Natur, sondern die natürlichen Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart schrumpft zum heiligen oder unheiligen Augenblick, einer rasend vergehenden Sekunde, in der wir den Herrn der Zeiten erwarten, der mit einem Blitzschlag alles erneuern wird. Die Regie über unser Schicksal, die wir nie innehatten, haben wir in verzweifelter Wut höheren Mächten übergeben.

Was immer geschieht, wir werden schuldlos sein am Leben und Sterben unserer Gattung. Genau genommen wird es uns nie gegeben haben.

Die Beschneidungsdebatte ist nur ein kleines Atom dieser Problemverschlingungen zwischen den Generationen. Bloomberg, OB von New York, selber Jude, hat einen intensiven Streit mit ultraorthodoxen Juden, die das Leben ihrer Kinder ab ovo vollständig prädestinieren wollen. Offenbar gibt es nicht nur in Deutschland Probleme mit Religionsfreiheit, die sich nicht als Freiheit über die eigene Religion definiert, sondern als grenzenlose Lizenz, die Lebensprinzipien nachkommender Generationen festzuzurren.

Es geht um das orale Absaugen des Blutes der beschnittenen Säuglinge durch die Mohalim. Blut ist ein ganz besonderer Saft, Blut der Inbegriff des Lebens. Nehmet, trinket, das ist das Blut, das für euch vergossen wurde. Nicht selten wird durch diese Praxis des Blutentsorgens Herpes übertragen. Gelegentlich sind Knaben daran verstorben.

Auch hier dieselbe Frontenbildung wie in Deutschland, die gleichen unverhandelbaren Forderungen der Rabbiner. 200 Geistliche wollen die Stadt verklagen mit der Begründung, Bloomberg würde ihr Recht auf Religionsfreiheit beschränken. Doch Bloomberg reagierte barsch, das Recht der Religionsfreiheit sei nicht absolut. Er verwies auf ein Urteil von 1944, in dem erfolgreich gegen religiös begründete Kinderarbeit geklagt wurde.

Auch in Kalifornien gibt es inzwischen eine Initiative, welche die Beschneidung verbieten will.

 

Was ist Identität? Ist Religion eine Ersatz-Identität, wie Stephan Hebel in seinem BZ-Kommentar behauptet, um den Amoklauf muslimischer Minoritäten wegen eines filmischen Machwerks über Mohammed zu erklären? Der Islam, so Hebel, spiele im gegenwärtigen Umbruch der arabischen Welt die fatale Rolle einer Ersatz-Identität.

Können derart vulkanische Emotionen aus Ersatz-Identitäten kommen? Wenn das Ersatz ist, was ist dann das Original? Darauf gibt Hebel keine Antwort. Nach Hebel könnten Muslime eine solche gar nicht besitzen, denn die wahre sollen sie erst suchen.

Die soll ein Kompromiss sein aus westlich-demokratischer Kultur und einem entmythologisierten, tolerant gewordenen Islam. Eine Identität, die nicht von Religion, Gottes- und Feindbildern, sondern von wirtschaftlichen, beruflichen Chancen bestimmt werden sollte.

Identität ist die Lebensmitte, der Kern meines Daseins, aus dem ich lebe. Halten wir uns nicht mit kokettierenden Fragen auf wie: Wer bin Ich und wenn ja, wie viele?

Ich ist der, der fragt und antwortet. Kein Ich hat viele Iche. Es muss nur viele Rollen spielen, die ihm von der Gesellschaft vorgeschrieben werden. Im Gegenteil, wir haben viel zu wenig Ich, das wir verwirklichen können.

Die Renaissance hatte das Ideal des huomo universale. Jeder Mensch ist an der Welt in vielfältiger Weise interessiert. Doch die meisten Interessen müssen heute unterdrückt und arbeitsteilig zerstückelt werden. Entweder soll die größte Begabung darüber entscheiden, was man in seinem Leben tut oder der Säckel der größten Belohnung.

Bei beiden Motivationen lässt man seine universalen Talente und Interessen verkümmern. Niemand sagt: da ich gut essen kann, muss ich nichts trinken. Jedes Individuum ist reicher und begabter, als es sich in spezialisierten Engführungen entfalten darf.

In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister? Der Meister schon, aber nicht der Mensch, der an vielem Freude hat, ohne in allem brillieren zu müssen. Goethe war ursprünglich ein Freund lustbetonten Dilettierens. Erst unter den frühen Vorboten des arbeitsteiligen Kapitalismus ging er resigniert zur Beschränkung über.

Dass man sich gleich bleiben kann, wenn man sich in allen Dingen erneuert, kann nur den verwundern, der noch nie von Natur hörte, die solche Wundertaten mit links zuwege bringt. Erneuern heißt nicht, das Alte wegwerfen, sondern alte, bewährte Identität mit neuer Energie versorgen, Fehlerhaftes korrigieren, lernen und reifen. Wer will, könnte von einer Synthese aus Altem und Neuem sprechen.

Der Neuigkeitswahn der ecclesiogenen Moderne hingegen beruht auf Vernichtung des Alten und unendlicher Suche nach Neuem, das, kaum ist es da, zum Alten degeneriert, das dem Verfall und Tod anheim fällt.

In der Natur stirbt nichts endgültig, alles verwandelt sich ineinander. Identität ist der stabile Punkt der Prinzipien „Alles fließt“ und „Alles bleibt gleich“.

Beim Menschen ist der identische Punkt die Erinnerung. Wer sich erinnert, ist derselbe, an den er sich erinnert, wenn er sein Leben überblickt. Er überblickt, ob er den Satz realisierte: Werde, der du bist. Oder ob er seinen Entwicklungsmöglichkeiten untreu geworden ist.

Ist er „zu sich“ gekommen, spürt er dies an gewonnener Freiheit, Energie und Selbstbewusstsein. Hat er „sich verfehlt“, spürt er es am Gefühl der Lustlosigkeit, Selbstverlorenheit und der Verpanzerung gegen alles Lebendige.

Es gibt wahre und falsche Identitäten. Eine Religion, die die selbstbestimmten Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen blockiert oder verbietet, kann keine wahre Identität bieten. Was nicht ausschließt, dass die Gläubigen diese Identität als ihre wahre und einzige betrachten – müssen. In diesem auferzwungenen Sinn ist Religion die Identität der Religiösen und kein billiger Ersatz.

Den gewalttätigen Ausbruch der Muslime kann man nur verstehen, wenn man die Kränkung der innersten und verletzbarsten Identität der Frommen versteht. Wessen Seligkeit auf dem Heiligen beruht, kann seines Lebens nicht mehr froh werden, wenn er das Heilige gefährdet sieht.

Hebels Kommentar gehört in die Reihe des deutschen Herunterspielens der Religion auf dem Gebiet der Politik. Nicht Religion soll Dreh- und Angelpunkt des Fanatischen sein, sondern ordinäre Tagesinteressen. Religionen werden immerzu missbraucht und instrumentalisiert.

Deutsche fühlen sich den Amerikanern überlegen in ihrer religiösen Vernunft und ihrer vernünftigen Religion, sodass sie nicht mehr fähig sind, die Quelle der rasenden Intoleranz in der Mitte der Religion wahrzunehmen. Fanatismus ist für sie überwundene Vergangenheit, obgleich die Wurzeln desselben in den heiligen Schriften nie ausradiert oder getilgt, sondern stets neu interpretiert, also übertüncht und verfälscht wurden.

Mehr als naiv von Hebel, diese mit ewiger Seligkeit und höllischer Strafe umstellte Identität ersetzen zu wollen durch wirtschaftlichen Erfolg und steigenden Wohlstand. Trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes, dann wird euch alles andere zugetan werden: das gilt für alle drei messianischen Religionen.

Hebels Ratschlag muss in frommen Ohren wie Blasphemie klingen. Es sind nicht nur Muslime, die in Religion die Mitte ihres Lebens erblicken. Auch Amerika lebt und webt uneingeschränkt im Geist der Wiedergeburt.

Europa hingegen hat ein Problem. Obgleich es sich skeptischer und gottloser gibt als alle westlichen Staaten, sieht es keine ernsthafte Alternative zum Frommsein. Kaum hat sich der Deutsche ein wenig vom traditionellen Heil entfernt, versinkt er schon in einem schwarzen Loch der Sinnlosigkeit und kosmischer Kälte.

Man erinnere sich an Nietzsches Schreckensgeschrei ob des toten Gottes. Schnell reut es den Deutschen und er kehrt zum Vater des Himmels zurück. Nie hat er gelernt, das Fundament seiner Identität in sich selbst zu suchen.

Wahre Einhelligkeit mit sich ist Einhelligkeit mit kindlich-unverfälschtem Erkennenwollen. Das nannte man einst – lang, lang ist‘s her – Bildung. Bildung durch Kraft der Vernunft.

Wer diese Begriffe leichtsinnig abtut, verurteilt die Menschheit zu einer nie endenden, naturfeindlichen Religions-Identität.

Vernunft war die kritische Überprüfung der Tradition, die Leidenschaft des Suchens nach Wahrheit. So bildete sich der Mensch auf der Agora, um ein wertvolles Mitglied der Polis zu werden und den neuen Anforderungen der Demokratie in Volksversammlungen, Gerichtsverhandlungen und politischen Rechten und Pflichten gerecht zu werden.

Griechischer Logos beruhte auf der Einsicht, dass richtiges Handeln abhängig war von rechter Erkenntnis. Der vernünftige Mensch wusste, was er redete, redete, was er tat, tat, was er erkannt hatte.

Die Identität von Denken, Reden und Handeln nannten die Griechen – Weisheit.