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Samstag, 14. Juli 2012 – Demokratie und Religion

Hello, Freunde der Aufklärung,

Deutschland kapituliert vor der Religion, nimmt wortlos Abschied von der Aufklärung und macht das demokratische Recht zum Gespött. Es gibt schlechte Gesetze in einer Republik, sie müssen geändert werden. Es gibt umstrittene Auslegungen eines Gesetzes, sie müssen solange umstritten bleiben, solange sich kein Konsens abzeichnet.

Beim Beschneidungsverbot geht es um das Verbot der Körperverletzung. Niemand bestreitet den Sinn dieses Gesetzes, es soll weiterhin gelten – nur nicht für den Bereich der Religion.

Die Religion fordert im Namen der Tradition und der Heiligkeit Ausnahmen für Kinder religiöser Eltern, denen göttliche Gebote wichtiger sind als weltliche. Ein Regierungsvertreter spricht von „alten, uralten religiösen Bräuchen“, die sich in keinem Zustand des Rechtsfriedens befänden.

Es gehörte zum mühsam errungenen Fortschritt der Aufklärung, alle Traditionen, und seien sie noch so ehrwürdig, alle von Heiligkeit umgebenen Dogmen, und seien sie noch so mit Himmelsbelohnungen und Höllenstrafen umgeben, einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Alle Gesetze des Zusammenlebens mussten vor das Forum der allgemeinen Vernunft, um ihre Existenzberechtigung in einer Republik nachzuweisen. Berufungen auf besondere Erleuchtungen und separate Offenbarungen sind für eine autonome Vernunft illegitim, denn sie sind nicht überprüfbar und fordern bedingungslosen Kotau. In diesem Sinn sind Vernunft und Offenbarung unverträglich.

Kant, der größte Vertreter der Aufklärung in Deutschland, hat

Sätze der Offenbarungsreligion nur akzeptiert, soweit sie innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft blieben. Außerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft kann jeder sein Leben nach Belieben illuminieren – solange er keine Gesetze der Polis verletzt.

In Deutschland geht die Legende, Vernunft und Offenbarung seien kompatibel. Was Vertreter der Religion damit meinen, zeigen die Vorgänge dieser Tage: im Konfliktfall hat sich die Vernunft zu unterwerfen, dann ist die Harmonie mit dem unangreifbaren Credo gesichert.

Alle drei abrahamitischen Religionen, jahrhundertelang bis aufs Messer zerstritten, haben sich zu einer Koalition verbunden, um die allgemein verbindliche Vernunft der Demokratie in die Knie zu zwingen. In einer parlamentarischen Nacht- und Nebelaktion soll Rechtsfrieden auf Kosten des Rechts hergestellt werden.

Dann droht, was Micha Brumlik zu Recht für ein Verhängnis hielte: die Juden würden – mit Rücksicht auf die Vergangenheit – ein gnädiges Sonderrecht erhalten.

Dieses Recht wäre ein weiterer Grund, den latenten Antisemitismus der Bevölkerung zu steigern. Wenn Lieblinge des Gottes grundlos bevorzugt werden, fühlen sich die Benachteiligten nicht erfreut.

Heribert Prantl hält das Urteil für akkurat, aber gefühllos. Ein sinnvolles Gesetz kann nie gefühllos sein, denn es nützt den Menschen. Das Gesetz, so Prantl, hätte besser daran getan, zu schweigen. Das wäre eine stumme Bankrotterklärung des menschenverbindenden Rechts. Gefühllos sind die Attacken derer, denen die Meinungen des Demos und der Geist des Rechts belanglos scheinen.

Das Beschneidungsgesetz ist nur der Türöffner für eine überall im Westen zu beobachtende Zurückdrängung der gottlosen Vernunft zugunsten religiöser Sonderrechte. Eine riesige internationale Kampagne wird laut BILD vorbereitet, um der religiösen Spezialoffenbarung in Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen.

Deutschland gilt im biblizistischen Ausland als säkular, atheistisch und ökologisch, was in den Ohren Rechtgläubiger völlig synonym klingt.

Es geht nicht nur um das Recht der Beschneidung an jüdischen und muslimischen Söhnen, es geht um das sogenannte Recht religiöser Eltern, ihre Kinder im unmündigen und hilflosen Stadium mit den Zeichen des jeweiligen Gottes so zu brandmarken, dass sie für den Rest ihres Lebens gezeichnet sind.

Eine neutrale Erziehung kann es nicht geben. Alle Eltern vermitteln das Lebensgefühl, das sie ihren Kindern vorleben. Nicht ihre Reden, sondern ihre Taten prägen den Nachwuchs.

Wenn unter Religion eine besonders vorbildliche Moral verstanden werden soll, wie jüdische, arabische und christliche Aufklärer einhellig der Meinung waren, haben weise Eltern die Chance, durch exemplarischen Lebenswandel ihre Kinder zur Nachahmung zu reizen.

Der wahre Ring in Lessings Nathan dem Weisen erweist sich in nachahmenswerten humanen Taten, nicht in menschenfeindlichen Ritualen und statutarischen Geboten allmächtiger Götter, die für Nichtgläubige nicht existent sind.

Wer religiöse Wertetafeln über die Werte der Vernunft setzt, verletzt die Regeln neuzeitlicher Demokratien. Von Spinoza müssen sich die Fundamentalisten aller drei Religionen sagen lassen, ihre autoritären Tugendkataloge galten früher in theokratischen Zeiten, haben heute keinen Bestand mehr. Die Tora beispielsweise, so Spinoza, sei die Staatsverfassung der alten Hebräer gewesen, in der Gegenwart aber veraltet, überholt und nicht mehr bindend.

Orthodoxe Juden, Muslime und Christen können nicht mehr für die Juden, die Muslime und die Christen sprechen. Die Juden gibt’s nicht. Wenn es ein antisemitisches Klischee sein soll, von den Juden zu sprechen, dann ist es auch antisemitisch, wenn einige Juden es wagen, für alle Juden zu sprechen.

Spinoza war auch Jude, der seinen jugendlichen Glauben zur aufgeklärten Vernunft weiterentwickelte, indem er alte inhumane Reste abstieß. Das gilt für alle Philosophen der Aufklärung, die ihren muslimischen, jüdischen und christlichen Glauben im Licht der griechischen Vernunft korrigierten und weiterentwickelten.

Wenn Wahrheit dem Menschen zumutbar ist, wie Ingeborg Bachmann sagte, so ist fortlaufende Humanisierung den Religionen zumutbar. Wenn Beschneidung heute als humanes Ablöseritual für archaische Kindesopfer gepriesen wird, im Alten Testament die unblutige Beschneidung des Herzens als wahrer Gottesdienst verlangt wird, dann ist heute den rückständigen Religionen eine Humanisierung durch Vernunft und Demokratie zuzumuten.

Demokratische Vernunft ist die fortgeschrittenste Form der Humanität. Alle Religionen müssen sich an ihren Kriterien messen lassen und sind eingeladen, ihre menschenrechtlichen Normen im Wettbewerb der humansten Geister zu übertreffen. Dieser Wettbewerb ist die einzige Form der Konkurrenz, die den Menschen nützt und auszeichnet. Alles andere ist Rückkehr unter die Knute alleinseligmachender, intoleranter Religionen.

Vernunft ist nicht intolerant, sie ist das Toleranteste, was die Menschheit bislang erfunden hat. Sie duldet und unterstützt alles, was menschliches Glück befördert.

Allerdings ist sie wehrhaft unduldsam, wenn freien Menschen Knebel verpasst werden sollen, wenn Erleuchtungen im separaten Winkel sich über menschenrechtliche Errungenschaften erheben wollen.

Dass die ordentliche Rechtsprechung einer funktionierenden Demokratie ein zweiter Versuch wäre, das Leben der Juden in Deutschland unmöglich zu machen, ja, noch schlimmer: zu vollenden, was dem Holocaust misslang, ist kein „Unsinn“, wie es in einem Kommentar hieß, sondern eine unfassbare Negierung aller Bemühungen der Deutschen, die Taten ihrer schrecklichen Väter aufzuarbeiten.

Würde Israel das Land der Täter heute als freundschaftlich verbundenes Land betrachten, wenn es anders wäre? Es ist nichts als Erpressung, wenn gesagt wird, das Urteil von Köln verhindere das zukünftige Leben von Juden in diesem Land. Frühere Rabbiner sahen keine Identität von Beschneidung und Judentum.

In einem freien Land sind alle Menschen willkommen, die diese Freiheit durch Sondergesetze, Parallelgesellschaften und hybride Privilegien nicht unterminieren. Es zeugt von Arroganz und Missachtung gegenüber demokratischen Regeln, wenn man anführt, jüdische Knaben könnten mit der Beschneidung nicht warten, bis ein endgültiges Urteil in Karlsruhe oder in Straßburg gefällt wird.

Niemand ist über dem Gesetz, auch heiligste Religionen nicht. Es ist ein Armutszeugnis für die abrahamitischen Religionen, ihre Kinder durch Taufe oder Beschneidung in einem Alter zwangszubeglücken, wo sie ihrer mündigen Vernunft noch nicht mächtig sind. Wer Kinder im unverständigen und ohnmächtigen Alter ungefragt seiner Religion einverleibt, sollte das Sapere aude von Kant nicht mehr erwähnen.

Habe Mut dich deines Verstandes zu bedienen, solange du noch keinen hast, ist Zynismus unter dem Mantel religiöser Güte, Nächstenliebe und fremdgesteuerter Seligkeitszwänge. Wer als Scheinliberalität verfemt, wenn Heranwachsende ihre Religion selbst wählen dürfen, diskreditiert die gesamte Liberalität der Neuzeit.

Völlig unerträglich ist der Satz, die neue Sprache des Antisemitismus sei die Sprache der Menschenrechte. Mit dieser Gleichsetzung des völlig Unverträglichen wird der gesamten Humanität der Neuzeit die Axt an die Wurzel gelegt.

Die einzige Lehre aus dem Holocaust ist die strikte Beachtung der Menschenrechte. Wer diesen Satz verhöhnt, verhöhnt die Opfer des Holocausts. Den Schülern wird gelehrt, das Grauen kann sich dann nicht wiederholen, wenn die Deutschen die Menschenrechte verinnerlichen, als ob sie sie erfunden hätten.

Kein Wunder, dass die meisten deutschen Medien es nicht wagten, diesen monströsen Satz zu veröffentlichen. Wenn alle Menschenrechte unter dem Verdacht des Antisemitismus stehen, bliebe nur noch menschenfeindliches Wüten unter dem Diktat totalitärer Normen. Das wäre der Übergang zur vollendeten Theokratie, die komplette Eliminierung aller Errungenschaften der Aufklärung.

Es gibt eine mächtige Phalanx gegen die Demokratie, es gibt fast keine Verteidiger der verschlissenen Volksherrschaft. Es ginge doch nur um ein Zipfelchen Haut, wird die Problematik in derselben Weise verniedlicht, wie einst Vertreter der Prügelstrafe zu argumentieren pflegten: haben uns ein paar Ohrfeigen geschadet?

Nein, es geht nicht um einen kleinen Schnitt an der Vorhaut, es geht um eine lebenslange Verwundung der sterblichen Seele, um einen Schnitt am selbstdenkenden Gehirn. Die Demokratie wird vorgeführt und zum Narren gehalten, fast alle Medien geben grünes Licht.

Wo sind die Kantianer, die Politologen, die Verteidiger des Rechtsstaates, die Feuilletonisten, die Menschenrechtler, die Aufklärer in diesem Lande, die ihre Stimme erhöben?

Man muss kein Anhänger von Kant, kein Verteidiger der Aufklärung sein. Doch dann sollte man sich mit diesen Begriffen hinfort nicht mehr schmücken. Und frank und frei sagen: wir kehren reumütig zurück in die Arme der Priester, Rabbiner und Mullahs.

Zukünftige Historiker können einst beim Beschreiben unserer Epoche notieren: im Jahre des Herrn 2012 endete die aufgeklärte Neuzeit. Es begann das Regiment heiliger Männer, Dunkelmänner und Patriarchen über wehrlose Kinder und ihre angeblich so emanzipierten Frauen, die bisher nichts anderes taten, als die unfehlbaren Stimmen ihrer Männer zu wiederholen und zu verstärken.

Deutschland erlebt die erste wirkliche Nagelprobe in der Nachkriegszeit, ob es eine Demokratie bleiben oder eine Scheindemokratie unter religiösen Fesseln werden will. Die angebliche Harmonie von Aufklärung und Erlösungsglaube hat sich als deutsche Farce erwiesen.

Die Deutschen haben sich die Demokratie nicht erarbeitet. Sie ist ihnen geschenkt worden, damit sie lernen, die Untaten ihrer Geschichte zu begreifen und nie mehr zu wiederholen. Von einer Leidenschaft für das freie selbstbestimmte Leben ist bei ihnen nichts zu spüren.

Religion wurde in den letzten 70 Jahren als edlere Ausgabe der Humanität betrachtet und grotesk ins Ideale verfälscht. Die Scheiterhaufen und Menschenopfer der Aufklärer im Kampf gegen vernunfthassende Religionen sind vergessen und verdrängt. Dabei sind alle Konflikte der Moderne vom Kampf um gottgewollten Reichtum bis zur gottbefohlenen Naturzerstörung nichts anderes als Religionskriege im Gewand technischer, ökonomischer und weltimperialistischer Begriffe.

Christen, Juden, Muslime können sich nicht versöhnen, wenn sie in gemeinsamer Kumpanei die Demokratie zur Beute nehmen. Wirklich versöhnen können sie sich nur, wenn sie sich demokratisch humanisieren lassen.