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Samstag, 14. Januar 2012 – Das Private und das Öffentliche

Hello, Freunde der arabischen Revolution,

die sich in der Armutsfalle befinde, schreibt Edith Kresta in der TAZ. Irrtum, in der Kapitalismusfalle! Zuerst besiegen sie die Despoten, deren Namen und Gesichter sie kennen, dann kommt der internationale Geldkrake. Und jetzt beginnt das Zittern, ob die neue Demokratie den Kraken zum Haustier domestiziert oder ob dieser die Demokratie frisst.

Hier hilft kein Tyrannenmord. Es geht um ein System, das etwas Geheimnisvolles sein muss. Das System bekämpft man nicht, indem man etwaige Repräsentanten in die Flucht treibt, verhaftet oder durchsiebt. Zwar sieht und bestimmt es alles, hat aber keine persönlichen Augen, Ohren und Hände. Allmächtig  bestimmt es unser Leben, wir sind ihm wehrlos ausgeliefert.

Will man es abschaffen, muss man es mit allen Wurzeln ausgraben und als Ganzes zum Teufel jagen. Doch dieser könnte schlimmer sein, als die Misere, mit der wir vertraut sind. Es gibt nur ein Entweder-Oder. Zwischenformen, allmähliche Verbesserungen, lernendes Korrigieren: Fehlanzeige. Alles oder Nichts, Schwarz oder Weiß. Dualismus also!

Die Welt ist keine Einheit, sie ist in der Mitte gespalten, man muss wählen. Gott oder Teufel, Tod oder Leben, Sein oder Nichtsein, wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Jedes Kind weiß, wovon wir reden.

In Google drück ich die nicht vorhandene Übersetzungstaste: Theologisch – modern, modern – theologisch und erhalte den Text: „Das System ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, es durchgoogelt uns bis

zur Scheidung von Gelenken und Mark der Seele und des Geistes und ist ein Richter der Gedanken und der Gesinnung des Herzens; kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, vielmehr ist alles entblößt und aufgedeckt vor seinen Augen.“

Dämmert’s schon? Das System besteht aus verschiedenen Organen, die es sich nach und nach erschafft, um sich zu komplettieren. Hier sehen wir, wie ein Gott entsteht. Schelling sah Gott nicht von Anfang an komplett, sondern als Wesen im evolutiven Werden.

Was die Menschheit glaubt, konstruiert sie als ungeheuer wachsendes Gesamtprojekt ihrer Geschichte. Hier liegt der Ursprung des unendlichen Wachsens. Ein Krakenarm ist die Wirtschaft, vergleichbar mit der bloßen Faust. Blind schlägt sie zu. Wen sie trifft, interessiert sie nicht, ihre Opfer sieht sie nicht.

Was fehlt der rohen Gewalt? Augen, die sehen, was der Bizeps in seinem Furor anrichtet. Ein Mund, der sprechen kann: Ich weiß, wo du wohnst, was du denkst, wem du schreibst, wie viele Freunde du hast, ob du gefährlich, widerspenstig oder stromlinienförmig bist.

Der blinde Koloss Kapitalismus fühlte sich unvollständig und täppisch, also wollte er sehend werden, um zu schauen, mit wem er es zu tun hat. Wen er reich macht und wen arm. Er wollte kein unpersönlicher Koloss, kein roboterhafter Golem bleiben.

Gott benötigte eine Woche, um seine Schöpfung zu kreieren, der Mensch benötigt eine ganze Geschichte, die er als von einem Gott betriebene Heilsgeschichte missversteht. Er ist Schöpfer des Schöpfers und niemand sonst.

Wenn eine Zeit Bedürfnisse hat, sagte ein deutscher Idealist, dann schafft sie sich auch die Befriedigung der Bedürfnisse. Der deutsche Idealismus ist weitaus mehr philosophischer Patenonkel einer unendlichen Markt- und Fortschrittsgläubigkeit als der allzu pragmatisch verengte englische Puritanismus.

In Amerika trafen angelsächsischer Pragmatismus und deutscher Idealismus aufeinander. Was im verrotteten Europa nicht gelang, gelang im neuen unbegrenzten Kontinent. Englisch-praktischer Verstand und deutscher Glaube an unbegrenzte Macht fielen in Liebe und gebaren den amerikanischen Riesenbastard, der mit roher Gewalt die Welt erobert.

Inzwischen bemerkt er seine sensorische Unvollständigkeit, schafft sich neue Sinnesorgane, um seine Untertanen wahrzunehmen, zu sehen und zu hören. Am Riechen wird bereits gearbeitet. Die Untertanen selbst wollen gesehen und gehört, als unvergleichliche Individuen wahrgenommen werden – wenn man sie denn schon uniformiert und anonym über den Löffel balbiert.

Bei Gott gibt’s keine Privatsphäre, er sieht alles, denn er sieht das Herz an. Das war die Geburtsstunde des Internets als Realisierung eines omnipotenten Allsehers.

Der Zeitgeist hatte das Bedürfnis nach Transparenz, also schuf er Bill Gates und all die Zaubermeister der Destruktion des Privaten. Heißt privare nicht berauben? War Privatheit nicht der letzte Versuch der Ängstlichen und Furchtsamen, ihre Persönlichkeiten einem omnipotenten Staatsdrachen vorzuenthalten, ihn der Transparenz seiner Mitglieder zu berauben?

Ist es kein Zeichen der Schwäche, sich zu verbergen und in Anonymität zu flüchten? Hat man was zu verheimlichen? Sind dies nicht alles Symptome misslungenen Selbstbewusstseins und mangelnder Ichstärke? Heraus aus euren Löchern, euren platonischen Höhlen, euren privaten Dunkelkammern.

Der neue Internetmensch scheut kein Licht, ist auf Rückzugsgrotten und abgeschirmtes Nestverhalten nicht mehr angewiesen. Der neue, mit dem Synapsensystem der Welt verknüpfte homo digitalis hat den Sündenfall überwunden. Er zeigt sich nackt und schämt sich nicht. „Vielmehr ist alles entblößt und aufgedeckt vor seinen Augen.“ (Die im Schwinden begriffene Privatsphäre war die Epoche des Feigenblattes, der Verhüllung von Nacktheit, Scham und Schuld. Schuld und Schulden müssen verschwinden, Scham und schlechtes Gewissen überwunden werden. „Und das planetarische Netz rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? Und jener sprach: Ich hörte dich im Garten; da fürchtete ich mich, weil ich nackt bin, und verbarg mich“.

Heute spricht der selbstbewusste Mensch jenseits von Schuld und Schande: System, wenn ich nackt bin, was geht’s dich an? Du hast keine Macht mehr über mich. Je autonomer ich werde, je mehr wirst du schrumpfen.

Die neue weltumspannende Maschine erfüllt alle Phantasien des Francis Bacon, für den die Technik die Überwinderin des Sündenfalls sein sollte: „Dann endlich werden wir als treuer Fürsorger durch Einsetzung der Vernunft in ihre gebührenden Rechte den Menschen an die Hand geben, was sie wahrhaft beglückt, woraus notwendig eine Verbesserung des menschlichen Zustandes und eine erhöhte Macht über die Natur erfolgen muss. Denn der Mensch ist durch den Sündenfall um seine Unschuld und um seine Herrschaft über die Natur gekommen; beides aber kann aber im Leben wiedergewonnen werden, das erste durch religiösen Glauben, das letzte durch Kunst und Wissenschaft. Nicht ganz und gar ist die Schöpfung uns durch den Fluch widerspenstig worden, sondern in jenem Machtspruch: «im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!» liegt zugleich die Zusicherung, dass wir durch steten Fleiß (nicht aber durch Disputationen oder leere magische Formeln) unser Brot zu erwerben, d. i. ein fruchtbringendes Leben zu führen, im Stande sein werden.“ (Francis Bacon: „Neues Organ der Wissenschaften“). 

Glaube, im Verein mit Kunst und Wissenschaft, bringt Unschuld des Herzens und die Herrschaft über die Natur zurück, die beide im Sündenfall verloren gingen. Technik ist Revision der Sünde und Wiederbringung des Paradieses. Sagte da jemand, Glaube habe nichts mit Politik und Realität zu tun?

Wie viel Schweiß ihres gemarterten Gehirns verströmten deutsche Theo-Ökologen, um das Wort der Worte ins Gegenteil zu verkehren: Macht euch die Erde untertan. Das klare und unmissverständliche Wörtchen untertanmachen wurde solang in exegetisch erleuchteten Würgegriff genommen, bis es dialektisch ins Gegenteil kippte und seitdem bedeutet: seid verantwortlich für den Erhalt der Erde, bewahrt die Schöpfung!

Diejenigen, die diese Parolen verkünden, sind dieselben, die im Auftrag ihres Herrn unterwegs sind, die alte Natur abzureißen, um eine neue Erde und einen neuen Himmel zu installieren. Bacon war frei von diesem deutschen Unfug, der sich erkühnt, fromm zu sein – indem er verdeckt blasphemisch ist. Wenn Deutsche sich ducken: Vorsicht vor ihrer versteckten Rebellion; wenn sie gegen Wulff rebellieren: Vorsicht, sie suchen nach Führern, Charismatikern und auratischen Lügenbaronen.

In Bacons Worten erkennen wir eine Seite des christlichen Dogmas, die von deutschen Kopfnickertheologen stets verheimlicht wird und nur bei amerikanischen Bibellesern zu finden ist: es ist der endzeitliche Triumphalismus, die unbedingte, an ihrem weltlich und himmlischen Erfolg nie zweifelnde Siegesgewissheit des Glaubens, der Berge versetzt und die Welt als Eigentum betrachtet. Ecclesia triumphans, das Gegenmodell zur demütigen, sich in Sack und Asche wälzenden deutschen Kreuzestheologie.

Vom Kreuz zur Krone. Deutsche jammern und trauern – oder tun so als ob –, Amerikaner greifen ungeniert zum Zepter der Welt, das ihnen verheißen und mit allen himmlischen Garantien zugesichert wurde, was man unverwüstlichen Optimismus zu nennen pflegt.

Beschädigt durch ihre Geschichte, sind Deutsche vorsichtig und defensiv in ihrem Verhalten. Ihre Maxime lautet: Die Letzten werden die Ersten sein, also müssen sie Letzte sein, um Erste zu werden.

In Glaubensstolz sind Amerikaner weitergekommen als die Europäer. Sie sind überzeugt, mit ihrer europäischen Vergangenheit die Demutsphase hinter sich gelassen zu haben, um im Bewusstsein des Geistes und der Kraft nach der Siegespalme der Allerersten zu greifen. Von daher der Slogan der Kennedys: nur der erste Platz zählt, der zweite ist schon ein Verlierer.

Die umgekehrte Warnung: die Ersten werden die Letzten sein, beziehen sie nicht mehr auf sich. Die Phase der demütigen ecclesia patiens – der Patientenkirche – ist für sie vorbei.

Kreuz und Krone, das sind die beiden Pole, zwischen denen die Christen je nach operativen Erfordernissen hin und her pendeln. Sind sie an der Macht, wird dieselbe mit aller sakralen Brutalität exekutiert; sind sie eine bedeutungslose Minderheit, bieten sie das paulinische Schauspiel lamentierender heiliger Narren.

Christliche Religion ist die perfekteste Religion der Weltgeschichte. Nie kann sie auf falschem Fuß erwischt werden. Ob oben oder unten, ob klagend oder triumphierend, ob reich oder arm: ihr wendiger, mit allen Wassern gewaschener Gott sagt stets: Ick bin allhier. „Ich weiß in Niedrigkeit zu leben, ich weiss auch Überfluss zu haben; in alles und jedes bin ich eingeweiht, sowohl satt zu sein, als zu hungern, sowohl Überfluss zu haben, als auch Mangel zu leiden. Alles vermag ich durch den, der mich stark macht.“ (Sagte nicht ein Schwabe namens Geißler, ein Christ müsse arm sein, um das Himmelreich zu erringen? Man könne nur einem Herrn dienen, Gott oder Mammon?

Nur, wenn man ihn unabhängig von Gott anhäuft und anbetet, dient man dem Mammon. Betrachtet man ihn als Gabe Gottes und nutzt ihn zu guten Werken, dann dient man Gott, dem Herrn des Mammons und Besitzer der Welt. Das ist der Grund, warum arme Amerikaner nie gegen ihre dreisten Milliardäre rebellieren und lieber verrecken als ein heidnisch-europäisches Sozialnetz importieren. Der Herr gibt, der Herr nimmt, der Name des Herrn sei gepriesen.

Die vor Aktivität sprudelnden Amerikaner sind hinter der Maske ihrer Rastlosigkeit – heimliche Quietisten und Fatalisten. Es ist dieselbe merkwürdige Psycho-Mischung wie bei früheren Glaubensmarxisten, die, da sie sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnten, außerordentlich rührig sein konnten, obwohl sie im Grunde nichts waren als folgsame Maschinisten derselben.

Hinter wechselnden, aktiven und passiven Maskeraden sind alle drei abrahamitische Religionen Ideologien der Schicksalsergebenheit. Die einen fühlen sich als Mitarbeiter Gottes, die andern müssen warten und das Regiment dem Herrn der Geschichte allein überlassen. Theologen sprechen von Pelagianern, Augustinern und Semipelagianern.

Schon im Mittelalter gab Joachim di Fiore das Signal, den Himmel als Drittes Reich der Weltgeschichte auf die Erde zu holen. Deutsche Schergen wollten Jahrhunderte später das unvollständige Werk in tausend Jahren zur Vollendung bringen.

Das Private als vom Staat Abgeschottete war den Griechen das Idiotische. Idiot war der Privatmann, der sich nicht ums Politische kümmerte, obgleich er von ihm lebte. Die Griechen kannten keinen Staat, der ihnen fremd und bedrohlich gegenüberstand. Volksherrschaft war die Sache aller, auf dem Forum waren alle gleich.

Auch kannten sie keine Schuld- und Schampflichten, die sie zum Rückzug in ein abgesichertes Nest hätten nötigen können. „Frei leben wir als Bürger im Staat (= polis! – deutsche Übersetzungen kennen nur den entfremdeten Staat und die gottgegebene Obrigkeit) und frei vom gegenseitigen Misstrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen, wenn er sich mal ein Vergnügen macht, und ohne unsern Unmut zu zeigen, der zwar keine Strafe ist, aber doch durch die Miene kränkt.“ Sagt Perikles in seiner berühmten „Leichenrede“, überliefert im Peloponnesischen Krieg des Thukydides.

In einem angstfreien Gemeinwesen, in dem alle Bürger gleich wären und kein Mensch maßlose Macht über seine Mitbürger hätte, wäre die Einrichtung einer abgekapselten Privatsphäre eine Misstrauenserklärung an die Menschheit und eine versteinerte Misanthropie. Diese Form geschützter Privatheit war notwendig in Obrigkeitsstaaten, in denen jeder des andern Wolf war. In denen jeder mit jedem um ewige Seligkeit rivalisierte.

Wenn aber Menschen lernten, Vertrauen zueinander zu gewinnen, wäre das ein Zeichen, dass das christliche Menschenbild des völlig vereinsamten, monadisch abgeschlossenen, mit allen Zeitgenossen aufs Messer konkurrierenden homo oeconomicus et religiosus im Abbau begriffen wäre. (Man lese dazu Max Webers Kapitalismusschrift)

Dennoch besteht die eminente Gefahr, dass ein globaler Behemoth diese Offenheit als außerordentliches Machtwissen benutzen könnte, um die Gattung endgültig an die Leine zu legen. Das neue Instrument der Menschheit, sich ungezwungen miteinander vertraut zu machen, wird nur dann vor dem totalitären Gegenteil bewahrt werden können, wenn alle wachen Erdenbürger dafür sorgen, dass übermäßige Macht in jedweder Form gnadenlos beschnitten und der Kontrolle demokratischer Völker anheim gegeben wird.