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Samstag, 11. Februar 2012 – Das Schöne und die Politik

Hello, Freunde Tunesiens,

in Tunesien begann die Arabellion, wo steht das Land zurzeit? An der Spitze der Regierung stehen drei Parteien, zwei säkulare und die islamische Ennahda. Das ist der Unterschied zu Ägypten, wo die Muslimbrüder einen riesigen Erfolg hatten.

Die generelle Stimmung scheint eher optimistisch zu sein, obgleich die wirtschaftliche Situation nicht rosig ausschaut. Vor allem soll die Gleichberechtigung der Frauen vorangetrieben werden. Laut Koran dürfen die Frauen nur ein Viertel erben, was nur bedeuten kann, dass die Frau – ob mit oder ohne Tuch – nur ein Viertel des Mannes wert ist oder vier Frauen so viel wert sind wie ein Mann.

Das Land steht vor der Entscheidung, ob es eine präsidiale oder eine parlamentarische Demokratie haben will. Vom Ausland, gerade von Deutschland, erwartet man eine demokratisch inspirierende Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe. Tunesien will zeigen, dass Islam und Demokratie sich nicht ausschließen.

Trotz der positiven Selbsteinschätzung hat der israelische Vizepremier die tunesischen Juden aufgefordert, das Land zu verlassen. Mustafa Ben Jafaar, der tunesische Parlamentspräsident, hat den Eindruck, dass Israel Angst habe

vor Demokratie in arabischen Ländern. Juden und Muslime hätten in Tunesien schon immer gut zusammengelebt, die islamische Ennahda ändere nichts daran.

 

Viel Ästhetisches heute in den Gazetten. Deutschland ist ästhetischer Weltmeister und niemand merkt’s – außer Arno Widmann, der ganz ergriffen ist von der Dominanz der Herren Richter, Kiefer & Co in internationalen Rankinglisten, auf denen die Rangordnung der Künstler präzise auf mehrere Stellen hinter dem Komma in Cash angegeben wird.

Wenn Börsen Achterbahn fahren, sollen ganz Schlaue schon mal auf die Idee gekommen sein, nicht mit Aktien, sondern mit Bildern und Statuen zu wuchern. Sollte es modisch werden, seine leeren Wände mit Aktien zu tapezieren, um seine Potenz zu zeigen, werden Kunsthändler in eine Sinnkrise geraten. Ein irischer Künstler erbaute sich sein ganzes Haus mit Milliarden Euroscheinen – in geschredderter Form, was ein bezeichnendes Licht auf die grüne Insel wirft.

Mit dem Titel „Ein Meister aus Deutschland“ überschreibt Arno Widmann seine Lobpreisung der deutschen Kunst, wohl in der Absicht, den Celan-Vers „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ in die neue Botschaft umzumünzen, es ist nicht mehr der Tod, es ist die Kunst, die uns zu Meistern macht.

Wir wollen nicht gleich von Geschichtsrevision sprechen, sondern von der tröstlichen Aussicht, dank ästhetischer Schönheitsfindung die Vergangenheit besser bewältigt zu haben als mit sinnlosem Geschichtsunterricht. Da wir auch in Wirtschaft und Ökologie führend sind, wäre dies schon der dritte Meisterbrief in Gold.

Auch im rückenliegenden In-die-Tiefe–Rodeln sind wir nicht zu schlagen. Genausowenig wie im risikoreichen Biertrinken – ah, nein, da haben uns diese staatenlosen Belgier überholt –, möglicherweise auch nicht im waghalsigen Benutzen der deutschen Sprache.

Im Stolzsein auf uns selbst sind wir allerdings noch Klippschüler. Das muss sich schleunigst ändern, damit wir in Selbstbewusstsein und Ich-Stärke nicht länger hinter anderen Nationen hinterherhinken. Wenn wir demnächst nicht nur die Pünktlichsten und Diszipliniertesten, sondern auch die Kreativsten und Ästhetischsten sind, werden wir auch das Perpetuum mobile erfunden haben.

Schon mal jemandem aufgefallen, dass deutsche Edelfedern vergangenheitsvergessene Äquilibristen sind, die jedes Wissen über unsere stolze Tradition von sich weisen? Da sie nach Vorne schauen, wissen sie gar nicht, worin der Fortschritt bestehen soll, wenn sie ihn nicht vergleichen können mit dem Vergangenen.

Solche Kärrnerarbeit (kommt nicht von Johannes Kerner) ist Gift für unsere selbsternannten Meister der deutschen Sprache, die nichts können müssen, außer – gut schreiben. In Journalistenschulen kriegen sie bereits am ersten Tag eingebläut: wer gut schreiben will, muss sich von allem Gymnasial- und Studiendunst porentief gereinigt haben.

Dieses pennälerhafte Zitieren, pingelige Deuten, dieses rabulistische Herumstreiten um Kant, Schiller und Goethe macht jeden Text oberlehrerhaft, lästig und unergiebig. Deswegen heißen Journalisten Tagesschreiber, weil sie bereits den Vortag im Archiv für immer entsorgen können.

Man könnte sie mit jenen schönen Frauen vergleichen, die sich mit Botox die Altersfalten glätten, um bis zum Tode jungfräulich-unberührbar zu erscheinen. So, von aller Erdenschwere befreit und faltengeglättet, soll der ideale Gazettenbeitrag daherkommen. Kurze knackige Sätze, die im Rhythmus sinnstiftenden Joggerns federn. Keine retardierenden Nebensätze als Bremsklötze. Niemals anhalten, Atem holen und um sich schauen.

Es ist wie beim Eisbaden, schnell rein und schnell raus. Der Text will wie ein Gesamtduft wirken, nur keine Einzelheiten und rechthaberische Buchstabentreue.

Goethe hätte gesagt, jeder Schreiber will ein Originalgenie sein, der sich selbst aus der Taufe gehoben hat. „Ein Schreiber sagt: Ich bin von keiner Schule; kein Meister lebt, mit dem ich buhle; Auch bin ich weit davon entfernt, Dass ich von Toten was gelernt. Das heißt, wenn ich ihn recht verstand: Ich bin ein Narr auf eigene Hand.“

Wie die Schriftgelehrten den sensus literalis ablegten, um nicht Sklaven eines Textes zu sein, gleichwohl wegen anti-offenbarerischer Umtriebe nicht angeklagt zu werden, so allegorisieren und metaphern sie mit Hilfe frei flottierender Phantasie, dass Gott erbarm. Über die verhängnisvolle Wirkung der Phantasie unter phantasielos Genervten hat noch keiner eine „Monographie“ geschrieben, die schon im Titel ankündigt, wie monoton es zugehen wird im Dschungel der Anmerkungen.

Wenn Widmann die deutsche Kunst in den Himmel hebt: weiß er nicht, welch verhängnisvolle Funktion die Ästhetik in der Entwicklung der jüngeren deutschen Geschichte hatte? Überall wird heute die menschheitsverbindende Wirkung von Musik, Theater und Literatur gerühmt, als ob böse Menschen keine Lieder hätten.

Die Deutschen machten die Ästhetik zur Religion, als sie Abschied nahmen von der Französischen Revolution und aller demokratischen Politik. Man flüchtete in Schönheit, um sich nicht mit Fürsten und Despoten anzulegen. Im Gegenteil, jeder machte Fundraising bei Duodez-Absolutisten, um sich nicht lebenslang als armer Hauslehrer knechten zu lassen. Wenn schon Gedemütigtwerden, dann am Hofe jener, die Glanz und Luxus verbreiteten.

Goethe war ein Fürstenknecht, sagte Börne, der natürlich nur neidisch auf dessen ministerielle Apanage war. „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“, lässt Schiller einen seiner Helden bühnenwirksam unter dem Motto „In Tyrannos“ (gegen die Unterdrücker) ausrufen. Doch nach dem Theaterabend konnte man beruhigt nach Hause gehen und sich die Zipfelmütze überziehen.

Die revolutionsunfähigen Deutschen verlegten den Schwerpunkt ihres Untertanenlebens ins Reich der schönen Künste, wo sie selber Regie führen und viele Statisten herumkommandieren konnten. Das öffentliche Leben verzog sich hinter die trutzigen Mauern der Konzert- und Theatersäle.

Die Marktplätze erhielten keinen politischen Furor wie im vielbewunderten Athen, sondern degenerierten zu Obst- und Gemüse-Idyllen. Der deutsche Markt, im Schatten monströser Kathedralen und Dome, verlor seine Funktion, natur- und politwüchsiger Mittelpunkt der Polis zu sein.

Anstatt sich zu treffen, um Meinungen auszutauschen, mussten Gedanken sich ins Innere flüchten, damit die Büttel sie nicht erraten konnten: Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Noch heute gilt deutsche Innerlichkeit als Ruhmesblatt deutscher Kultur.

So geschah es, dass der Markt vollständig von der Wirtschaft okkupiert werden konnte. Soziale Marktwirtschaft! Der Markt wird’s schon richten! Vertraut der Logik des Marktes! Der Markt der Magnaten wurde zum Mittelpunkt der westlichen Welt. Zum totalen Verrat an der Agora, dem öffentlichen Forum quicklebendiger Demokraten.

Heute wird man von Freiburger Marktpolizisten des Platzes verwiesen, wenn man es wagt, Touristen und Marktbesucher mit Flugblättern zu behelligen. Politik darf Wirtschaft nicht in flagranti ertappen und beim Geldhecken stören. Dem Gottesdienst im Innern der Münster entspricht der parallele Gottesdienst des Mammons im Freien.

Hatte das Mittelalter zwei oberste Schwerter, das geistliche und das weltliche Schwert, haben wir heute noch immer einen zweiköpfigen Drachen: den geistlichen und den ökonomischen, der sich an die Stelle des politischen gesetzt hat.

Die deutsche Ästhetik errichtete eine Parallelwelt mit Probehandlungscharakter. Was man im wahren Leben weder denken noch sagen durfte, bei Wilhelm Tell konnte man dem verhassten Gessler durch folgenlose Begeisterung das Licht ausknipsen.

In Wagner, dem gescheiterten Sozialrevolutionär, kulminierte das Ersatzleben im überbordenden, tagelangen Gesamtkunstwerk, das ein gescheiterter österreichischer Künstler als virtuelle Einübung seiner zukünftigen Heldenrolle für sich nutzen konnte.

Wagner wird heute nur noch ästhetisch-musikalisch delektiert und zur Kenntnis genommen. Gewiss, er war Antisemit, dennoch müsse man seine Musik vom Inhalt seiner lachhaften Texte trennen, ist heute einhellige Meinung aller Bayreuther Fans von Daniel Barenboim bis Joachim Kaiser.

Völlig undenkbar, dass man die Musik ignorierte und nur den Text rezitieren ließe, damit die Fangemeinde bewusst hören könnte, was ihr die Musik unterschwellig unter die Weste jubelt.

Es ist wie beim bewussten Bibellesen, das man tunlichst unterlässt, weil man gar nicht so genau wissen will, was man zu glauben vorgibt. Man könnte ja an seiner Religion irrewerden.

Die wirtschaftlich dominierte Kultur hat sich in eine Textverachtungskultur verwandelt. Entweder liest man Geschichten in dicken Schinken, die sich Romane nennen oder man ergötzt sich an Zahlen. Je ökonomischer die Nation, je legasthenischer wird sie.

Hören wir, wie Wagner das Gesamtkunstwerk definiert. Da muss man nur die einzelnen Kunst-Fachwörter in politische Vokabeln übersetzen, schon sehen wir, wohin das Gebilde, das einen Gesamtführer braucht, streben soll:

„Das Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesamtkunstwerk erkennt er [d.h. unser Geist]  nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.“ (Richard Wagner, »Das Kunstwerk der Zukunft«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Leipzig 1907, S. 60)

Da musste man Gesamtkunstwerk nur mit Gesellschaft übersetzen, um den perfekten Menschen der Zukunft in musikalischen Sirenengesängen auferstehen zu sehen und zu hören.

In Bayreuth erblickten die Pädagogen des Neuen Menschen in bühnenhaftem Miniformat die Umrisse ihrer geplanten Utopie, die sie mit allen Mitteln gewalttätiger Zentralisierung zu erreichen suchten. Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Ein Orchester, ein Dirigent, eine berauscht zuhörende Kunstgemeinde.

Die arbeitsteilig zerrissene und meinungsmäßig zerstrittene Gesellschaft sollte einen unverrückbaren Mittelpunkt erhalten, der sich bedenkenlos aller Mittel bedient, um die Utopie der Zukunft zu installieren. Alle realen Dinge haben nur den Zweck, im Dienst der Gemeinsamkeit verbraucht und vernichtet zu werden. Das perfekte Ziel heiligt alle Mittel. Das war Platon in theokratischer Vollendung.

In Rienzi, der Lieblingsoper des Führers, war dessen Schicksal geradezu präformiert. Cola di Rienzo, ein spätmittelalterlicher römischer Volkstribun, führt das Volk zum gemeinsamen Kampf gegen die Mächte entarteter Eliten. Es gelingt, die Feinde zur Flucht zu zwingen. Doch bald wendet sich das Glück, die Gegenmächte kehren zurück, ein neidischer Nebenbuhler hetzt das Volk gegen den Tribun und Führer auf. Rienzi erfleht den Segen Gottes, vergeblich. Die treulosen Plebejer setzen das Capitol in Brand, Rienzi und seine treue Schwester gehen „stolz, von allen verlassen, unter“.

Von Wagner belehrt, wusste Hitler von Anfang an, was ihm blühen könnte. Kurz vor seinem Untergang verfluchte er sein Volk, das ihm den Sieg nicht schenken wollte. Etwas anderes als den Untergang habe es nicht verdient. Abgang in kollektivem Selbstmord mit Eva Braun.

Wagners Ästhetik war die Trockenübung der Gebildeten für die folgende nationale Erhebung, die ein tausendjähriges Reich anstrebte, das die Welt noch nicht gesehen hatte.

Auch Widmann schwelgt schon wieder ästhetisch, indem er den britischen Autor Watson zitiert, der in einem Huldigungsbuch schrieb, ohne die deutschen Heidegger, Freud, Marx, Einstein, Planck und Heisenberg könne man heute nicht denken.

Ohne deutsche Künstler wie Richter, Baselitz und Kiefer, vervollständigt Widmann, könne man auch nicht sehen. Was sehen? Nichts weniger als die Schönheit. „Die Schönheit dieser Jahre ist ein Meister aus Deutschland.“

Der Tod aus Deutschland ist durch die Schönheit aus Deutschland endgültig ad acta gelegt. Nein, nicht so, wie ihr denkt: großmäulig und angebend. Vielmehr stellen deutsche Künstler die Schönheit nicht aus, sie feiern sie nicht, sie genießen sie nicht. Sie entdecken sie nur, mitten in der Zerstörung. Sie sind Überlebende einer Vernichtung. Seltsamerweise nur als Kinder der Täter, die Kinder der Opfer dürfen schauen und staunen.

Die Täterkinder haben die Schönheit gefunden? Um die Opferkinder mit gefundener Schönheit zu versöhnen?

Ist es Schönheit, die uns bisher gefehlt hat, um den grausigen Graben der Geschichte zu überwinden? Nicht politische Einsicht? Nicht Wissen und emotionale Selbsterforschung? Muss Ästhetik wieder ersetzen, was Politik und Vernunft nicht leisteten?

Distanz zu den geliebten Mördervätern allein genüge nicht, so Widmann und zitiert Anselm Kiefer: „Ich muss ein Stück mitgehen, um den Wahnsinn zu verstehen.“

Den Wahnsinn verstehen, ihn nicht nur beschimpfen und verteufeln, das hat man schon lange nicht mehr gehört. Doch wie geht das? Durch einsame Suche nach dem Schönen inmitten des Hässlichen? Nicht durch Verstehen der Opfer und jaja, auch der Täter? Nicht durch Miteinandersprechen, Austauschen, Streiten, Versöhnen?

Keinen einzigen Satz verschwendet Widmann daran, was denn das Schöne sei. War moderne Kunst nicht die Erfindung des Hässlichen, der Protest gegen das abgenutzte Schöne?

Nun sollen die Deutschen das Schöne gefunden haben wie einst die Italiener in der Renaissance? Oder soll das Hässliche das Schöne der Gegenwart sein?

Wollte die Moderne nicht das Hässliche zeigen, um der Welt die Augen zu öffnen und in paradoxer Intervention anzuregen, das Hässliche aus der Welt zu schaffen?

Was soll die pflichtgemäße Larmoyanz, es gebe keine heile Welt? Ist Finden von Schönheit nicht ein Stück heile Welt?

„Vielleicht ist das die bittere Einsicht … die die Menschen, je mehr sie sich aus den Verheißungen ihrer eigenen Kultur befreiten, immer stärker interessierte.“ Vielleicht? Welche Verheißungen?

Da klang es anfänglich wie ein bisschen Verheißung aus der Kraft der Schönheit, dass Kinder der Opfer und Kinder der Täter aus den Ruinen ihrer zerstörten Beziehungen herausfinden könnten. Doch am Schluss wischt Widmann alles vom Tisch. Auf den Spuren deutscher Schönheit werden wir kein bisschen humaner werden.

Für Platon war das Schöne, Wahre und Gute eine unzertrennliche Einheit. Für Arno Widmann nicht. Für ihn gibt es Schönes mitten im Unwahren und Unguten, was man früher als Hässliches bezeichnet hätte. Keine schönen Aussichten.