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Samstag, 09.06.2012 – Fußballspielen

Hello, Freunde des Fußballs,

warum ist Fußball so beliebt? Weil er das letzte heidnische Relikt in einer heilsindividualistisch verseuchten Kultur ist. Ein Proletensport. Das wüste geordnete Treiben der Kinder aus dem Slum. Die letzten, kaum noch erkennbaren Reste der Gruppe, des zoon politicon, des Teams, der symbolisierten und konzentrierten Polis – gegen die Schnösel, die allein in den Himmel kommen wollen.

Inzwischen durch Geld fast bis zur Unkenntlichkeit verschlammt, ist er die letzte Bastion gegen den trickreichen und brutalen Slalom der Tycoons, die unvergleichlich sein wollen. Nicht das atomisierte Individuum ist unvergleichlich, sondern: Team est ineffabile, der Mensch, der sich mit dem Menschen verbündet. Der Einzelne ist nur unvergleichlich, wenn er im Team vergleichbar und kenntlich wird.

Erst in der Gruppe, der solidarischen Menschheit wird der Mensch zum unvergleichbaren und einmaligen Wesen. Weil Einmaligkeit das Signum der Gattung ist. Der Gattung Lebewesen. Auch Tiere sind keine Klone einer uniformierten Natur.

Das andere Team ist nicht der Feind, sondern der freundschaftliche Widerstand, den ich benötige, um mich anzuspornen, meine Kräfte kennen zu lernen und zu entwickeln. Agon, der Wettstreit der Edlen, der kritische Fight, das Messen der Muskeln und Gehirne ist Dienst der Freundschaft am Freund. Mensch, du kannst, also sollst du.

Ein Agon, der nicht ermuntert, nicht lockt und reizt, ist eine Demütigung, ein

Vorführen der erbärmlichen Kreatur. Kinder jauchzen, wenn sie mit Vatern um die Wette rennen und die Alten um Längen in Memory schlagen. Agon ist Spiel, und erst der spielende Mensch ist der absolute Gegner des zockenden Kapitalismus.

Zocken ist das Gegenteil von Spielen, hier wird den Verlierern die Haut abgezogen. Spielen ist zweckfreie Lust, der einzige Bazillus, der die Häme der Solisten und Autisten bezwingen könnte. Ein Beckenbauer ohne Breitner und das proletarisch- kleinbürgerliche Umfeld in München – undenkbar. Ein Fritz Walter ohne Otmar, Eckel und die hinterpfälzische Rauheit – undenkbar.

Fußballstars sind degenerierte Ballartisten, die es versäumten, ihren zweifelhaften Aufstieg in eine gleißnerische Schicht zu verhindern und als lebende Litfasssäulen ihre Seele zu Markte getragen haben. Ein Uwe Seeler als Mitglied der feinen Hamburger Villengesellschaft – lächerlich. Ein Maradona als Mitglied von Opus dei? Lachhaft.

Ja, die Proleten haben sich kaufen lassen. Die feine Gesellschaft diniert in hochgelegenen Stadionlogen und schmückt sich mit dem rauen Klima einer Mannschaft, die sie niemals in ihre Vorstandsetagen einstellen würde. Wenn einer sich frühzeitig die Haxen bräche, dürfte er vielleicht den Nachtportier mimen.

Ein Poldi in einem Kamingespräch mit dem ZDF-Chefredakteur? Hier hört die Liebe zur runden Kugel auf, hier übernehmen die Marktschreierstimmen der Abteilung Töpperwien.

Welche Kinder dürften heute noch auf der Straße einem Ball hinterherjagen? Das dürfen sie nicht mal in verkehrsberuhigten Fußgängerzonen, damit sie nicht die Kundschaft der Straßencafes verscheuchen. Zu solch sinnlosem Tun hat der Nachwuchs keine Zeit mehr. Wer seine Energien nicht zielgerichtet für langfristige Fördermaßnahmen einsetzt, hat seine Zukunft beizeiten versaut.

Der homo ludens ist passe. Gespielt wird nur noch – um zu. Um zu fördern und zu fördern, bis das Fördern den Kindern als ADHS aus den Ohren dringt und sie bei willigen Kinderärzten die süßen kleinen Globuli schlucken dürfen.

Seitdem der große Kinder- und Hartz4-Pädagoge Gerhard Schröder die süffige Formel vom Fördern und Fordern erfinden ließ, wird nur noch gefordert, weil man Fordern mit Fördern verwechselt. Beides sind Eingriffe von Erwachsenen in die Welt der Kinder, denen man ohne Interventionen der Sichtbaren Faust nicht mehr zutraut, bis drei zählen zu lernen.

Angebote machen ist was anderes und bedeutet, den Kindern die Vielfalt der Welt zeigen und anbieten. Aussuchen können sie selber. Wie kann man jemanden fördern mit dem Knüppel hinterm Rücken: weh dir, wenn du nicht rechtzeitig Wallstreet-Englisch sprichst, Staatsanleihen nicht von Hedgefonds unterscheiden kannst?

Das Jahrhundert des Kindes war einmal. Zweckfreies Spielen? Das ist Majasprache für die Sammler von Erfolg und Macht. Das Kicken begann als zweckfreie Leidenschaft. Niemand dachte an Verträge und Ablösesummen.

Wenn Unterschichten etwas Sinnvolles erfinden, dauert es nur zwei Dekaden, bis die Oberschichten entdecken, was ihnen fehlt. Sie schmücken sich mit dem Beutegut, als sei es auf ihrem Mist gewachsen.

Alle populäre Musik der Nachkriegszeit kam aus Harlem oder Liverpool. Nur, wer den Echtheitstest in verräucherten Vorortkneipen und auf Straßen bestand, hatte die Chance, Elvis Presley zu heißen.

Familien spielen nicht mehr, sie haben keine Muße. Und wenn sie mal spielen, muss das wertvolle Spiel mit drei pädagogischen Fördersternen ausgezeichnet worden sein. Intelligenz, Konzentration, Erinnerungsvermögen, Anregen der Phantasie und wie all die Leistungsgötzen einer fordistisch durchorganisierten Gesellschaft klingen. Das Misstrauen in die Kinder ist derart angestiegen, dass man ihnen nicht mal zutraut, freiwillig auf die Welt neugierig zu sein.

Dabei gibt’s nichts Neugierigeres als Kinder. In Wirklichkeit soll die natürliche Neugierde den Kindern ausgetrieben werden. Die Erwachsenen fürchten die unreglementierte Wachheit und den Scharfsinn ihrer gradlinig denkenden Bälger. Mama, warum wird die Natur von euch Erwachsenen verschandelt? Diese Frage will niemand hören, also muss sie durch gezielte Fördermaßnahmen rechtzeitig erstickt werden, indem man den Kindern mit künstlichem Ah und Oh die Neugier vorschreibt.

Mit überhitztem Aha-Effekt werden übrigens auch die Wissenschaftsmagazine aufgepeppt. In Gazetten wie in TV, wo Wissenschafts-Kasper im Studio herumhüpfen und den Leuten ständig erklären müssen, wie sensationell die Phänomene der Natur sind. Ohne die Winke mit dem Zaunpfahl hätten die Leute gar nicht bemerkt, dass sie neugierig waren.

Gespielt wird trotzdem. Aber nicht mehr da, wo man spielen sollte, sondern von Ersatzfamilien im Fernsehen. Das einstige Familienleben hat sich in die Studios verlagert. Dort sitzen immer dieselben 20 bis 30 VIPs, die Quizfragen beantworten, Geschicklichkeitsspiele absolvieren, ihre Hobbys vorführen oder schlicht Jux und Tollerei veranstalten.

Heute existiert eine virtuelle TV-Ersatzfamilie, die von Sender zu Sender zieht, um den zerbrochenen realen Familien das Gefühl zu vermitteln, Teile einer virtuellen Großfamilie zu sein. Benötigt man an depressiven Winternächten eine Portion Gruppengefühl, schaltet man die Familiensender ein. Wird die flimmernde Mischpoke lästig, zappt man bindungslos auf den Krimi im nächsten Kanal.

Auch hier haben die Eliten das Rezept den Unter- und Mittelschichten geklaut und präsentieren ihre Fündlein, als wär‘s ein Stück von ihnen. Oberschichten machen nur noch in Geld und Macht, die Lebensqualitäten werden den Unteren abgefuggert. Der letzte Rest gesellschaftlicher Wärme steigt von unten nach oben, um als Kälte im Universum zu entweichen.  

Darf das Kind nicht mehr zweckfrei spielen, ist die Zeit seiner Kindheit vorbei. Dies geschieht heute knapp nach Ablegen der letzten Windel. Dann beginnt der Ernst des Lebens. In welche Kita, Spezialgruppe und Walddorfkindergarten müssen die Nachwuchsgenies gebracht werden, damit sie ihr Abi mit Glanz absolvieren?

Man muss sich mal anhören, was Philippe Ariés in seiner „Geschichte der Kindheit“ über das Mittelalter schreibt, dem wir ach so herrlich weit entronnen sind: „Die Dauer der Kindheit war auf das zarteste Kindesalter beschränkt, auf die Periode, wo das kleine Wesen nicht ohne fremde Hilfe auskommen kann; das Kind wurde also, kaum, dass es sich physisch zurechtfinden konnte, übergangslos zu den Erwachsenen gezählt, es teilte ihre Arbeit. Vom sehr kleinen Kind wurde es sofort zum jungen Menschen, ohne die Etappen der Jugend zu durchlaufen, die vor dem Mittelalter Geltung hatten.“

Heute haben wir‘s herrlich weit gebracht, nämlich zurück ins Mittelalter. Dem Kind wird keine Zeit mehr zum Suchen und Finden gegeben, zum Dämmern und Ahnen. Spätestens mit drei ist das zukünftige Leben festgelegt. Spätestens mit sechs weiß es, was es zu werden hat, spätestens mit 22 hat es die Uni mit Auszeichnung bestanden. Wer mit 40 noch kein weiträumiges Haus, sieben Kinder und eine Karriere vorzuweisen hat, sollte aus der Familienchronik getilgt werden.

Dem Kind wird heute die Kindheit geraubt. Der Kapitalismus bestimmt nicht nur über die feministische Vereinbarkeit von Familie und Maloche, Unis und Gymnasien, schon längst infiltriert er die Kindergärten mit Fördermaßnahmen, die die Kleinen mit Handys und Markenklamotten vertraut machen.

In Griechenland begannen Sport und Spiel als gemeinschaftsfördernde Leistung aller Griechen. Das Band der Zugehörigkeit aller Stadtstaaten und Stämme sollte gestärkt werden. Ohne panhellenische Spiele wären Athen und Sparta nie auf die Idee gekommen, als geeinte Phalanx der persischen Weltmacht eine Lektion zu erteilen. Wettbewerbe fanden statt, um die gemeinsamen Götter zu ehren.

Erst in der Verfallsphase wurde das Erringen des ersten Platzes zur absoluten Pflicht, weil ab Platz zwei die Schande begann. Immer der Erste zu sein und voranzustreben den andern: wenn es beim Voranstreben nur geblieben wäre. Ohne Schmähung der zweiten und dritten Plätze könnte Hellas noch heute existieren.

Es begann die verhängnisvolle Entwicklung des zum Siege verdammten Individuums, die sich im Christentum zum himmlischen Sieg des Einen und Einzigen über den unheiligen Rest der Sippe, Nation und Menschheit verschärfte. „Wisst ihr nicht, dass die, welche in der Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber nur einer den Preis erlangt? … Ich nun laufe so wie einer, der nicht ins Ungewisse läuft; ich kämpfe so wie einer, der nicht in die Luft schlägt.“ ( Neues Testament > 1. Korinther 9,24 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/9/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/9/“>1.Kor. 9,24 ff)

Das ganze Leben des Gläubigen ist ein einziger Wettkampf gegen alle andern. Nur einer kann gewinnen. Die Majorität aller Familienangehörigen, Freunde, Nachbarn und Kameraden wird in die Röhre gucken. Das ist lebendige Nächstenliebe: Liebe als Einsatz im Monopoly, um so schnell wie möglich alle Mitkonkurrenten übern Tisch zu ziehen.

Das Spielverhalten der Griechen – für Platon war Lernen ein Spielen – wird im Christentum zum Sklavendienst des Seligwerdenmüssens. Hier durfte man nichts mehr dem Zufall überlassen. Von Geburt an wurde das Damoklesschwert ewiger Belohnungen und Strafen über das Haupt des Kindes gehängt.

Unter der Losung: suchet zuerst das Himmelreich, dann wird euch alles andere zugetan, verlor das Leben seine Heiterkeit, seine Unbeschwertheit, sein ungezwungenes Mäandern, sein Versuchen und Irren.

Heut darf sich ab vier niemand mehr in seinen Lebensabsichten getäuscht haben. Schon der zweite Bildungsweg – noch vor wenigen Jahren eine selbstbestimmte Besonderheit – ist mittlerweilen anrüchig geworden. Mach dir einen lebenslangen Plan und hake ihn penibel ab. Dann wirst du eines Tages auf dem roten Teppich landen.

Der Methodismus war die akkurat geplante Ausnutzung der Zeit, um den Preis der Ewigkeit zu ergattern: Kaufet die Zeit aus. Christsein und Methodischsein wurden identisch: „Wenn aber auch jemand an einem Wettkampf teilnimmt, erlangt er den Kranz nicht, es sei denn, dass er nach Vorschrift kämpft.“ ( Neues Testament > 2. Timotheus 2,5 / http://www.way2god.org/de/bibel/2_timotheus/2/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/2_timotheus/2/“>2.Tim. 2,5) „Den guten Kampf hab ich gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt. Fortan liegt für mich bereit der Kranz der Gerechtigkeit, den der Herr, der gerechte Richter, mir an jenem Tage verleihen wird.“ ( Neues Testament > 2. Timotheus 4,7 f / http://www.way2god.org/de/bibel/2_timotheus/4/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/2_timotheus/4/“>2.Tim. 4,7 f)

Alle griechischen Vokabeln des Sports, um die Zusammengehörigkeit der politischen Gemeinde zu stärken, werden dem irdischen Treiben entrissen und der gläubigen Gemeinde überwiesen, in der jeder gegen jeden Glaubensgenossen anzutreten hatte, um den überirdischen Lorbeerkranz eines fernen Tages zu erringen. Der Preis war unübertrefflich hoch, doch völlig ungewiss. Sie leben in der Spannung, ob sie am Ende der Tage wirklich unter die Sieger berufen oder aber zum scheinheiligen Abschaum geworfen werden.

Um die unerträgliche Ungewissheit zu minimieren und zu verdrängen, haben sie Kriterien erfunden, mit denen sie errechnen, was letztlich unberechenbar bleibt: lag der Segen des Herrn sichtbarlich in Form von Macht und Geld auf dir? Hast du gewuchert mit deinem Startkapital oder hast du es aus mangelnder Risikobereitschaft verscharrt, damit es nicht zum höheren Ruhm des Herrn wachsen und gedeihen konnte?

Im Spiel ist der Mensch ganz bei sich: er muss sich niemandem verkaufen. Er kann siegen, ohne andere vorzuführen und kann unterliegen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Ewige Strafen und Belohnungen gibt es weder bei Sieg noch bei Niederlage. Wird das Spiel zur heilserzwungenen Methode, verliert das irdische Dasein jede Lebensqualität. Das Fußballspiel kann noch so gedrillt werden: wer am Ende gewinnt, kann keine Methode garantieren.

Die zufällige Leichtigkeit des Dabeiseins um des Dabeiseinwillens ist durch den kapitalistischen Methodismus weitgehend verloren gegangen. Doch den letzten chaotischen und zufälligen Rest wird niemand bezwingen.

Das wahrhaft freie Kicken wird dann beginnen, wenn ein mündiges Team sich selbst zusammenrauft und auf charismatische Trainerfiguren verzichten kann. Erst dann hätte sich das Team zur exemplarischen Polis emanzipiert. Jeder Mitspieler hätte eine Stimme, jede Stimme wäre Mitspieler.

Ein echtes Fußballspiel ist wie ein sokratisches Streitgespräch. Wer mit besten Argumenten das Leder im gegnerischen Tor versenkt, der soll den Kranz erringen. Jederzeit kann das Gespräch wiederholt werden, wenn der Unterlegene glaubt, mit neuen Argumenten eine bessere Siegeschance zu haben.

Als Einzelner konnte Sokrates nicht klug werden. Er war auf andere angewiesen, auf Gesprächspartner, die er hebammenartig besprechen konnte, um sie ihrer inwendig schlummernden Erkenntnisse zu entbinden. Allein war er unfruchtbar. Nur mit Helfern zusammen konnte er ein Team bilden, das in der Lage war, Erkenntnisse zu zeugen und zur Welt zu bringen.

Einsichten und Erkenntnisse sind soziale Akte. Jede Wahrheit, die nicht den Ehrgeiz besitzt, gegen jede andere Wahrheit im Wettkampf anzutreten, bleibt eine Erleuchtung im privaten Winkel.

Offenbarungen sind einseitige Akte zwischen Gott und Mensch, Spielen und Erkennen sind wechselseitige Ereignisse zwischen Mensch und Mensch.