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Samstag, 09. Februar 2013 – Unangreifbarkeit

Hello, Freunde der Verjährung,

ist Bettina Gaus eine Antisemitin? Das sei ferne von ihr. Die wirkliche Erforschung einer menschenfeindlichen Regung besteht nicht im Zeigen auf Personen, die dem Hass ein Gesicht geben, sondern im Aufdecken der Gedanken, die auf Schleichwegen in die Feindseligkeit führen. Das Verhängnis kommt auf leisen, schwer erkennbaren, gut meinenden Sohlen.

Kein Mensch wird als Antisemit, als Menschenfeind geboren. Gedanken, die wir alle haben, die durch uns hindurchströmen, die uns gar nicht auffallen, sie alle könnten zu einem Ergebnis führen, das uns erschrecken müsste, wenn wir wüssten, wohin sie führen. Das wäre der erste Akt.

Dann erst wäre der zweite Akt fällig, präzis Ross und Reiter zu nennen. Die jetzige Hatz auf Antisemiten verfehlt nicht nur die geringsten wissenschaftlichen Standards, sie ist politisch gefährlich, weil sie von den wahren Quellen des Unheils ablenkt.

Kein Deutscher sollte sich der Selbstprüfung verweigern: in welchem Maß bin ich Antisemit? Jeder sollte selbst einen Test entwickeln, wie er sich auf die Schliche kommen will. Welche Fragen müsste ich mir stellen, um mich zu überprüfen? Wären diese Fragen nicht subjektiv?

Objektivität beginnt stets mit Subjektivitäten, die sich miteinander vergleichen, sich streiten, zum Konsens kommen oder nicht. Objektivitäten fallen nicht vom Himmel und können sich nur als überprüfte Subjektivitäten bewähren. Die jetzigen Kriterien der Antisemitismus-„Forschung“ legen keinen Wert auf

Anerkennung durch die Öffentlichkeit, nicht mal darauf, dass sie bekannt sind und debattiert werden.

Eine winzige, sich unfehlbar gebende Minderheit agiert mit Testfragen, die in der BRD nur denen bekannt sind, die sie nach Zufallsprinzip beantworten sollten. Ich kenne keinen einzigen Artikel in den Gazetten, der diese Fragen untersucht und kontrovers debattiert hätte. Wer die Unverschämtheit besitzt, sich selbst eine Meínung zu bilden – vielleicht in Widerspruch zu den Autoritäten – muss damit rechnen, selbst unter Verdacht zu stehen.

Wenn Graumann im Streitgespräch mit Augstein behauptet, Juden als Opfer hätten nicht nur Antennen für Antisemitismus, sie seien die Antennen, verwechselt er Grundsätzliches. Opfer-Biografien müssen respektiert und in ihrem unbeschreiblichen Leid rehabilitiert und anerkannt werden. Opfer sind nicht automatisch die besten Fachleute in der Frage, wie Täter zu Tätern geworden sind. Wer Opfer eines Verbrechens wurde, ist nicht per se Kriminologe. Opfer müssen als Opfer geehrt werden, als Sachverständige in Verbrechen und Inhumanität haben sie eine Meinung wie andere auch, die allesamt auf dem Forum zur Sprache kommen müssen. Unfehlbarkeit in lebenswichtig demokratischen Fragen gibt’s nicht.

Dass es zu dieser tabuisierten, undebattierten und unfehlbaren Atmosphäre gekommen ist, ist am wenigsten die Schuld der wenigen Juden im Lande, die es noch immer mit den Deutschen aushalten. Es ist die Schuld einer weitverbreiteten Heuchelhaltung sogenannter philosemitischer Medien, die alles Jüdische den Juden überlassen, durch feige Überidentifikation der Ex-Täter mit den Opfern sich keine „Blöße“ geben wollen.

Man hat das Denken an jene delegiert, die man zu Experten in eigener Sache verdonnert. Sollte etwas schief gehen, kann man seine Hände in Unschuld waschen. Hat man den Experten nicht einen Blankoscheck der Vertrauenswürdigkeit ausgestellt: ihr schafft das schon, eure Feinde zu erkennen und mit unserer Medienhilfe zur Strecke zu bringen? Solltet ihr es nicht schaffen, muss es an euren mangelhaften Prüfmethoden gelegen haben.

Die Unfehlbarkeitshaltung Graumanns ist auch ein Zeichen der Verzweiflung, dass die Deutschen – die Philosemiten an vorderster Stelle – schon lange nicht mehr gewillt sind, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen. Längst haben sie einen Schlussstrich gemacht – aber an ganz anderer Stelle. Nicht offen, sondern versteckt hinter historisch und philosophisch unverdächtig klingenden Thesen.

Wer als normaler Zeitgenosse nicht mehr in die Vergangenheit, sondern nur noch in die Zukunft zu schauen hat, muss des Antisemitismus verdächtigt werden. Also der gesamte Neoliberalismus! Jeder amerikanisierte Zeitgenosse, der seinen Optimismus, seine unternehmerische Tatkraft unverhohlen als Vergangenheitsverdrängung präsentiert. Jeder Anhänger der Postmoderne, der über Wahrheit nur lachen kann. Ist es wahr oder unwahr, dass Deutsche ein ungeheures Völkerverbrechen begingen?

Wenn nichts mehr wahr oder unwahr ist, steht die Verleugnung des Holocaust unerschütterlich auf postmodernen Füßen. Jeder Richter, der dieses Delikt zu beurteilen hätte, könnte mit postmodernem Geschwafel aus dem Sattel gehoben werden. Sollte die postmoderne Wahrheitsleugnung im Rechtswesen Einzug halten, ist das ganze abendländische, griechisch-römische Recht – das nur mit der Unterscheidung von wahr und unwahr Bestand hat – durchgestrichen.

Erste These: Die neoliberale Vergangenheitsallergie, die postmoderne Wahrheitsphobie sind verhängnisvollere Quellen des Antisemitismus als neonazistische Schlägertruppen. Sie stammen aus den subtilsten Denker- und Gelehrtenschulen, aus den feinsten Kulturpalästen, aus allen renommierten Feuilletons und der plärrend-philosemitischen Springerpresse.

Zweite These: Sollten über Nacht wieder neue Antisemitismus-Schergen die Straßen beherrschen, wird jeder Zeitbeobachter sich verwundert und entsetzt die Augen reiben: wie konnte das passieren? Auf welchem Boden sind diese Wiederholungstäter gewachsen? Wir haben doch immer alle Zeitungen und Kanäle verfolgt und – außer einigen Dumpfbacken – nichts Auffälliges bemerkt.

War es in den Anfängen des Dritten Reiches nicht grade so? Selbst ausländische Politiker waren davon überzeugt, dass Hitler ein kleiner Spuk sein und Deutschland den verkrachten Künstler nicht ernst nehmen würde.

Dritte These: Wer behauptet, man könne die Entstehung des Antisemitismus nicht erklären, man müsse von einem Antisemitismus-Gen oder vom irrationalen Bösen sprechen, der hat alle Wissenschaft, Vernunft und Lernfähigkeit der Menschen im Allgemeinen und der Deutschen im Besonderen verraten. Eine Debatte über diese Themen könnten wir uns hinfort ersparen und überlassen alle Streitfragen geweihten Hierarchen, die per unfehlbarem Gespür die Antisemiten ermitteln. Ende der Aufklärung, Ende des kantischen Mottos: habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Leicht modifiziert lauten Kants Sätze: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung selbsternannter Fachleute frei gesprochen, dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren medialen Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein und der philosemitischen Korrekt- und Heuchelsprache zu folgen. Habe ich ein Institut zur Antisemitismus-Forschung, eine bedingungslos loyale Kanzlerin, ein korrekt-verfälschtes judenliebendes Neues Testament, unfehlbare Antisemitismus-Experten, die für mich Erkennen und Einsicht haben, so brauche ich mich nicht selbst zu bemühen.“

In einer Demokratie kann man mit legalen Methoden nicht entmündigt werden. Wer sich dennoch entmündigen lässt, hat sich selbst entmündigt. Wohl muss man auch arrogante Antisemitismus-Experten kritisieren, allein, die Hauptschuld liegt bei jenen, die sich hinter den Experten verstecken und sich den Beweis politischer Korrektheit von höherer Warte bescheinigen lassen.

Ein Unding, dass die Antisemitismus-Debatte in unregelmäßigem Abstand wie unberechenbares Wetter über die Deutschen hereinbricht und dennoch die esoterische Angelegenheit von wenigen Auserwählten bleibt. Soll es demokratisch sein, wenn das Volk aus brisanten Fragen ausgeschlossen wird, pardon, sich selber aus Feigheit ausschließt? Soll das ein Zeichen für gelungene Vergangenheitsbewältigung sein, wenn die Debatte hinter Mauern stattfindet und die Meinung des Pöbels durchweg als sationsfaktionsunfähig gilt?

Vierte These: Der jetzige Stand der Antisemitismus-Recherche ist beschämend. Man bildet subjektive Assoziationen und schaut mit Hilfe von Wort-Tabellen nach, welche einstmals verwendeten Nazi-Begriffe heute verwendet werden.

Dann machen wir die Probe auf einige Exempel: Ist die deutsche Industrie nicht antisemitisch verseucht, da sie ständig Führungsqualitäten anmahnt? Sind Kirchen und Sekten nichts allesamt antisemitisch, weil sie das Wort „Erwachet“ benutzen? Ist es nicht verdächtig, wenn Kirchen die antisemitischen Passagen des Neuen Testaments über perfide Juden aus wohlfeilen Anpassunsgründen verstecken und umdeuten – um sie eines Tages ins politische Tagesgeschäft zurückzuholen? Wie Ratzinger es schon vormachte?

Wörter an sich sind unschuldig, es kommt auf den Sinn der Sätze an. Einen Verbal-Antisemitismus, wie es im TAZ-Artikel von Sonja Vogel behauptet wird, gibt es nicht – sofern bloßes Vorkommen von Wörtern ein Indiz sein soll.

Fünfte These: Wer nicht nach der Wahrheit der Fakten fragt, sollte über Antisemitismus schweigen. Wer Augstein vorwirft, er analysiere die israelische Politik als Rache und Rache sei ein klassisches Antisemitismus-Klischee, hat die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, seine konträre These in die Debatte zu werfen.

Ein Wort an sich kann weder falsch noch wahr sein, sondern nur die Verknüpfung des Wortes mit der Realität. Das ist die klassische Wahrheitsdefinition. Die Aussage: die Ampel ist rot, ist dann falsch, wenn sie grün ist. Wer nur Ampel oder rot sagt, hat weder Falsches noch Wahres gesagt.

Die Augstein-Kritiker müssten ihrerseits behaupten, das Motiv der verbrecherischen Palästinenserpolitik der Israelis könne nur aus reinster Menschenliebe erfolgen. Wie viele literarische Zeugnisse gibt es, die der israelischen Gesellschaft Ablehnung bis Verachtung der Arabushim bescheinigen? Nicht erst ab gestern, sondern teilweise von den zionistischen Anfängen an.

Allenfalls könnte es einen Anfangsverdacht rechtfertigen, wenn jemand übermäßig oft Begriffe aus der Nazizeit verwendete. Ob aber dem Anfangsverdacht belastbare Indizien folgen, liegt einzig an empirisch nachweisbaren Indizien oder logisch nachvollziehbaren Schlussfolgerungen. Eine unfriedliche Politik mit dem Motiv der Rache zu erklären, ist nicht nur legitim, sondern notwendig, um diese Politik angemessen zu bewerten.

Heutige Antisemitismus-Wächter begnügen sich mit dem Anfangsverdacht des Gebrauchs von Begriffen. Sie haben es nicht nötig, empirische und logische Beweise zu liefern, die ihre konträre Meinung – die sie nie klar in die Debatte werfen – stützen und belegen könnten.

Wer die klassische Wahrheitsdefinition ablehnt und moderne Wahrheitsdefinitionen vorzieht, die als Wahrheit nur anerkennen, was sie als Wahrheit selbst erfunden, konstruiert oder geschaffen haben, hat sich an Gottes Stelle gesetzt und ist allmächtig geworden. Gott ist immer wahr, denn die Wahrheit hat er ex nihilo erschaffen.

Diese allmächtig-schaffenden Wahrheitstheorien der Moderne, die fest auf dem Boden der Genesis stehen, sind inkompatibel mit demokratischen Disputen auf gleicher Augenhöhe. Jede omnipotente Wahrheit ist so gut und allwissend wie die andere omnipotente. Hier hülfe nur der Gottesbeweis, den die Deutschen in zwei Weltkriegen bevorzugten; den Beweis göttlicher Kreuzzüge oder apokalyptischer Kriege.

Sechste These: Der ständige Streit um Antisemitismus wird solange mit Wut, Angst und unterdrückten Hassgefühlen weitergehen, solange die Debatte nicht im Volk geführt wurde und zu einem befriedigenden Konsens oder einem klar benennbaren Dissens geführt hat. In diesen Fragen begnügen sich die Medien mit einer elitären, politisch korrekten Zensur. Wer von dieser korrekten Linie abweicht, kann nur der „dumpfen Stammtischatmosphäre“ zugeschrieben werden.

Extra ecclesiam nulla salus, außerhalb der gleichgeschalteten Meinung gibt es kein Heil. Roma locuta, causa finita: hat die Springerpresse in engem Schulterschluss mit dem Zentralrat der Juden gesprochen, ist die Chose beendet. Das deutsch-jüdische Klima wird täglich papistischer und irrtumsloser. Der notwendigen Erforschungsarbeit möglicher Antisemitismus-Ursachen wird dadurch Schaden zugefügt.

Dass diese Unterdrückungspolitik eben jene Phänomene erzeugt, die sie zu suchen vorgibt, versteht sich von selbst. Der antisemitisch scheinende Groll gegen die elitäre Drohkulisse muss dennoch kein originärer Antisemitismus sein, sondern ein Groll gegen diejenigen, die sich selbst als unfehlbare Autoritäten ausgeben.

Siebte These: Nicht nur Avraham Burg, sondern viele jüdische Kritiker der eigenen Religion bescheinigen der israelischen Gesellschaft eine biblisch verankerte Paranoia. Ein auserwähltes Volk muss von der ganzen Welt beneidet, abgelehnt und gehasst werden, sonst fühlt es sich nicht als privilegiertes Volk. Das führt leicht zur selbsterfüllenden Prophezeiung, dass man die Welt hassen muss, um gehasst zu werden.

Der Hass der Welt ist jene Züchtigung Gottes, die die Lieblinge des Herren benötigen, um sich von Ihm geliebt zu fühlen. Würde Israel eine normale Friedenspolitik gegen seine Nachbarn üben und als gleiches Volk unter gleichen Völkern agieren, wäre die Selbstauszeichnung der Auserwähltheit vorbei. Wenn diese These stimmt – und was spricht dagegen? – müsste Israel sich radikal von seiner bewussten und unbewussten Religion trennen, um politisch friedensfähig zu werden.

Ohne schärfste Religionskritik werden weder Israel noch der ganze christliche Westen fähig sein, wirkliche Gleichberechtigung der Völker in die Tat umzusetzen. Die globalisierte Wirtschaft erhob den Anschein gleichberechtiger Völker mit Hilfe ökonomischer Maßnahmen. Doch für den Westen stand nie in Frage, dass er als göttlich privilegierte Kultur den Sieg über die Welt mit ökonomischen Maßnahmen erringen wird.

Ist das Judentum am Aufkommen des Antisemitismus selbst schuld? Es wäre ein Wunder, wenn ein jahrtausendealter, hartnäckiger Konflikt zwischen zwei Parteien nur teuflisch Schuldige und engelgleiche Unschuldige hätte. Es kann gar nicht bestritten werden, dass der separatistische und hochmütig auf die minderwertige Gojimwelt herabschauende religiöse Fanatismus der Juden zum Gegenhass der Antike beitrug. Jedoch: wie jemand auf eine Provokation reagiert, liegt in seiner Hand und muss ihm allein angelastet werden.

Keine Religion, und ist sie noch so unduldsam, rechtfertigt die furchtbaren Pogrome, Verfolgungen und Ausrottungsversuche seitens der Christen. Solange Religion sich im Rahmen der Gesetze hält, kann sie unduldsam sein wie sie will: es gibt keinen Grund, sie mit Feuer und Schwert zu bekämpfen.

Wer autonom sein will, hat autonom zu handeln. Die Bluttaten der abendländischen Täter gehen voll zu Lasten der Täter – deren Religion bekanntlich keinen Deut weniger fanatisch war.

Juden ließen ihrer Auserwähltheit keine kriminellen Taten folgen. Sie folgten nicht den Racheprinzipien ihres alttestamentarischen Herrn im Himmel – was ihnen jegliches Diasporaleben unmöglich gemacht hätte –, sondern hatten sich vom Ungeist des Alten Testaments verabschiedet. Seit ihrer Zerstreuung unter die Völker halten sie sich mehr an Talmud und andere rabbinische Schriften als an den Wortlaut des Alten Testaments. Im Prinzip folgten sie den Gesetzen ihrer Diasporaländer. Wie Dan Diner gern auf aramäisch formuliert: Dina demalchuta dina, was bedeutet: „dass die Juden das Recht der jeweiligen Obrigkeit bzw. des Landes, in das sie sich begeben, als geltendes und damit auch als jüdisch legitimiertes Recht zu achten haben.“

Die christlichen Nationen hassten das Volk der originären Auserwähltheit und wollten selbst die wahren Erwählten sein. Anstatt die eigene Vortrefflichkeit im Wettbewerb geistiger und moralischer Taten zu beweisen, wie Lessing es in der Ringparabel wunderbar beschrieb, griffen die an ihrer Erwählung tief zweifelnden Christenvölker zu Verbrechen, um das Volk des Ursprungs zu beseitigen.

Gewiss, es kann einem zur Raserei bringen, die Anderen, die Rivalen, stets als überlegen und unbesiegbar zu erleben. Wer diese Unterlegenheit aber mit Gewalt – und nicht mit Verstand und Humanität – beseitigen will, hat den Kreis des Menschlichen verlassen.

In ihrem Kommentar zum Fall Schavan stellt Bettina Gaus die „uralte Frage nach dem Zeitpunkt der Verjährung. Welches Verhalten rechtfertigt welchen Eingriff in ein Leben und wie lange?“ Das Internet sorge dafür, dass Leute viel häufiger als bisher mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden. „Das Prinzip der Verjährung beruht ja nicht darauf, dass Vergehen oder Verbrechen nach zehn oder hundert oder tausend Jahren mit weniger Schuld beladen sind als zu dem Zeitpunkt, zu dem sie begangen werden.“

Nun kommt das entscheidende Stichwort: Unangreifbarkeit. „Auch eine Promotion sollte irgendwann unangreifbar sein, so wie schon jetzt das Abitur. Vorschlag: nach 15 Jahren, meinetwegen nach 20 Jahren.“ (Bettina Gaus in der TAZ über Schavan und die Schuld)

Ein Plagiat ist kein Völkerverbrechen, vielleicht nicht mal ein Delikt und daher keine Angelegenheit der Justiz. Jeder Mensch macht Fehler und braucht die Chance eines Neubeginns. Fehler aber müssen eingestanden und eingesehen werden. Hat Schavan ihren Fehler eingestanden und bereut? Sie hat sich verbarrikadiert und alles nach Art des Hauses zurückgewiesen. Warum sollte sie ungerührt weitermachen dürfen, zumal als oberste Wächterin der Wissenschaften?

Doch zurück zur Hauptfrage: Warum muss Vergangenheit unangreifbar sein, abgetan, für immer versiegelt, die Fehler bei Nacht und Nebel beseitigt, die brisanten Texte umgeschrieben und umgedeutet? Unangreifbarkeit wäre die Lizenz zur nachträglichen Generalreinigung alles Vergangenen. Dann wäre alles porentief sauber, die Gegenwart wäre zur Tabula rasa geworden.

Doch dieser Neuanfang wäre ein erschlichener, er basierte nicht auf dem Geständnis, geirrt und gefehlt zu haben. Das inkriminierte Wort Neger, die inkriminierte Tat: die ruchlose Vergangenheit soll verfälscht und umgedeutet werden in eine porentief gereinigte Vergangenheit. Ist es nicht merkwürdig, dass in Deutschland die Signale nach gesäuberter Vergangenheit an allen Ecken und Enden stärker und dringlicher werden?

Müsste man nicht tiefenpsychologisch vermuten, die Deutschen wollten an unvermuteter Stelle ihre belastete Vergangenheit ein für allemal loswerden? Ginge es logisch zu in der Antisemitismus-Debatte, müsste man Gaus als hinterlistige Antisemitin einschätzen. Je mehr Aspekte der deutschen Vergangenheit unangreifbar würden, je mehr würde das Unsagbare und Unbeschreibbare in der Versenkung verschwinden.

Natürlich ist Gaus keine Antisemitin, so wenig wie Augstein. Die meisten Antisemitismus-Fälle beruhen auf unzulässigen Folgerungen aus einem dürftigen Anfangsverdacht, der mit empirischen und gedanklichen Indizien nicht belegbar ist.

Die wahren Quellen des Antisemitismus hingegen, die dem Kanon christlicher Heilstexte angehören, werden nie erwähnt. Es kann nur der Kumpanei der Religionen zugeschrieben werden, wenn Juden ihre wahren Feinde hinter dem selbstgefälligen Mantel der Nächstenliebe nicht wahrhaben wollen.

In Erinnerungsfeiern an den Holocaust werden die schrecklichsten und eindeutigsten Texte und Traditionen vom Neuen Testament bis Luther mit keiner Silbe erwähnt. Die Deutschen bringen das Kunststück fertig, Erinnerung als kollektive Verdrängung zu feiern. Ein höheres Maß der Verblendung kann es nicht geben.

Indem sie ihre Vergangenheit aus dem Gedächtnis streichen wollen, bewegen sich die Deutschen in religiösem Fahrwasser. Es geht die Fama, die Gläubigen der Heilsgeschichte würden in frommen Feiern der Ruhmestaten Gottes in der Vergangenheit gedenken. Davon kann keine Rede sein. Diese Ruhmestaten sind Ereignisse der Phantasie oder des Glaubens. Die Bibel ist kein Geschichtsbuch, sondern das Produkt imaginativer Literaten.

Was die unrühmlich wahre und empirisch nachprüfbare Geschichte betrifft, gelten die Verbote des Gedenkens: „Gedenket nicht mehr der früheren Dinge und des Vergangenen achtet nicht.“ „Niemand ist tauglich für das Reich Gottes, der seine Hand an den Pflug legt und zurückblickt.“ Das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden.“

Die Sucht nach Zerstörung des Alten und Verruchten ist so groß, dass die alte Erde und der erste Himmel vertilgt werden müssen, damit die Überlebenden von vorne beginnen können. Man könnte von totaler, totalitärer Vernichtung der Vergangenheit sprechen: „Der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden.“