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Samstag, 08.09.2012 – Ökonomische Ethik

Hello, Freunde des Euro,

der 6. September 2012 habe das Zeug, in die Annalen Europas einzugehen, schreibt Robert von Heusinger in der BZ. Nicht dank Merkel und der deutsch-nationalistischen Ökonomenschule, sondern dank Draghi, dem italienischen EZB-Präsidenten.

Doch leise, still und heimlich hat Merkel ihren bisherigen Kurs verlassen und unterstützt nun die Majorität der europäischen Finanzelite. Die deutsche Stimme, die am Schluss allein auf verlorenem Posten stand, haben fertig. Mutter Merkel war, wie so oft in ihrem Leben, im Zweifelsfall pragmatisch und hat sich der erdrückenden Mehrheit der Euro-Hüter angeschlossen.

Ohne diese Einigung in letzter Minute wären die Tage des Euro gezählt gewesen, so Heusinger, und damit die Tage des gemeinsamen Europa.

(Robert von Heusinger in der BZ: Nur die EZB kann den Euro retten)

Europa begann als politisches Konstrukt, wurde zum wirtschaftlichen Erfolgsmodell, doch ohne gemeinsames wirtschaftliches Gerüst, geriet in voraussehbare Turbulenzen – die Kohl massiv ignoriert hatte, wie Biedenkopf jetzt ausplauderte – und muss nun als wirtschaftliches Experiment mit außerordentlichen Mitteln gerettet werden, damit ein gemeinsames politisch-ökonomisches Haus entstehen kann.

Heusinger verweist auf die Geschichte der blutjungen USA, als in vergleichbarer historischer Situation der damalige Finanzminister Hamilton dem Wildwuchs des Dollar durch Errichtung eines Finanzministeriums ein Ende bereitete – durch einen gemeinsamen ökonomischen Überbau.

Europa hat noch kein gemeinsames Finanzministerium. Bis es ein solches

bekommen wird, weil es notwendig eins bekommen muss, wird Draghi mit der EZB einspringen und dem Druck der Spekulanten ein für allemal Einhalt gebieten, sodass wieder Ruhe einkehrt im europäischen Zirkus.

Dass Bananen denselben Krümmungsgrad in allen europäischen Staaten besitzen, dafür sorgt die Brüsseler Zentrale. Dass ausgerechnet auf dem Feld des Geldes jede Nation nach Belieben vor sich hinwursteln konnte, darüber kann sich nur der wundern, der noch nie etwas vom Glauben an den selbstregulierenden Markt gehört hat.

Der Markt reguliert alles, wenn man ihn denn regulieren lässt. Allerdings im Stil einer Mafiabande, die ein Dorf mit Kalaschnikows reguliert. Am Schluss steht immer eine Ordnung. Eine Ordnung des Lebens oder des Friedhofs.

In der Linken gibt’s Streit in der Eurofrage. Sahra Wagenknecht will wohl einen günstigen Augenblick benutzen, um den Kapitalismus von der Tenne zu fegen, indem sie seinen Totalbankrott befürwortet und sich weigert, den Euro zu retten. Hier kommt die Linke an jene Grundsatzfrage, die sie wohl nie klar durchdebattiert hat, nämlich die Frage: Reform – oder Revolution durch Kollaps?

Ihr Kollege Axel Troost greift sie fundamental an, weil das gemeinsame Haus nicht gerettet werden kann, wenn es bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist. Der Kollaps des Euro und damit eines gemeinsamen europäischen Hauses wäre eine Niederlage, von der sich Europa in den nächsten Dezennien nicht mehr erholen würde. Wagenknecht scheint vor lauter Finanzbäumen den politischen Wald zu übersehen.

(Stefan Reinecke in der TAZ zu Linkspartei und Eurokrise)

Die Frage des Euro muss mit politischen Mitteln beantwortet werden. Gehört Europa zusammen in Freud und Leid? Oder sollen die Identitätsphrasen nur gelten, wenn die Sonne scheint? Auf der einen Seite unterstützt man sich in allen Dingen, auch mit militärischen Mitteln, im Wirtschaftlichen aber soll der absurde Grundsatz gelten: no bail out, keine Solidarität im Ökonomischen?

Du kannst immer auf mich rechnen, sagte der Freund dem Freunde – doch beim Geld hört die Freundschaft auf. Das ist der Geist der deutschen Sonderweg-Ökonomen, die Angst haben um ihre zwei Groschen mehr, die sie in ihrer Sparbüchse haben, und nicht mal so viel Sachverstand aufbringen, dass sie diese Groschen gefährden, wenn sie ihr Portemonnaie nicht öffnen.

Es ist kein Altruismus, ihr retrograden Deutschmark-Experten, wenn man denen hilft, von denen man selbst abhängig ist.

Die ökonomische Theorieschwäche der Deutschen beruht auf ihrem verquasten Konfirmandenunterricht. Zuerst den Kindern einpauken, dass man sich uneigennützig opfern muss, um die Welt zu retten. Dann aber, wenn die Realität kommt, in reaktionären Nationalegoismus zu fallen: beim Zaster ist jeder sich selbst der Nächste.

Auch hier zeigt sich, Deutsche kennen kein Maß. Entweder erlösen sie die Welt oder sie schlagen sie zusammen. In diesem Fall lassen sie die Schwächsten Europas kaltlächelnd – ja sogar mit leidender Miene, denn sie würden ja so gerne helfen, wenn die unerbittlichen Gesetze des deus öconomicus es nur gestatteten – auf ihren griechischen Inseln vor die Hunde gehen.

Mutter Angie hat unter der Kanzel ihres Vaters zu viel von Nächstenliebe gehört. Als sie im kapitalistischen Westen mit der ach so brutalen Realität konfrontiert wurde, purzelte sie ins Gegenteil: jeder ist für sein Diridari (O-Ton Kohl) selber zuständig. So verhängnisvoll kann deutsche Predigerdialektik sein. Sarah Wagenknecht argumentiert kaum anders als die ungeliebte Mutter Merkel.

Mütter, weiß man seit Konrad Lorenz, stürzen sich den übermächtigsten Feinden entgegen, um ihren Nachwuchs zu schützen. Doch die Bälger anderer Mütter kümmern sie einen Pfifferling.

Es ist widersinnig, die Schwäche der Politik zu beklagen, selbst aber vor der allmächtig scheinenden Logik des Geldes in die Knie zu gehen. Sinnvolle Reformmaßnahmen, die dringend erforderlich wären, können erst durchgeführt werden, wenn Europa sich zu diesem Zweck die angemessenen Reform-Instrumente geschaffen hat.

Die Ökonomen haben auf der ganzen Linie versagt. Hat noch niemand ausgerechnet, welche Summen sie durch den Schornstein gejagt haben, nachdem sie den neoliberalen Schwachköpfen aus Übersee alles in gläubigster Miene nachgeschwatzt haben?

Weder haben sie die Krise kommen sehen, noch sind sie in der Lage, notwendige Konsequenzen daraus zu ziehen. Den Kopf einziehen, den Studenten Mathe-Aufgaben aufbrummen, damit die nicht mehr ihren eigenen Kopf benutzen, das können sie.

Auf keinen Fall Adam Smith, geschweige das bärtige Karlchen aus Trier vorkramen. Nicht mal diejenigen lesen sie, denen sie nachbeten: den Hayeks, von Mises, Friedmans & Co. Sie lesen nichts Klassisches, nichts Kritisches, sie rechnen sich dumm und dämlich.

Immer mehr ähneln sie jenen Gläubigen, die von ihrer Religion keine Ahnung haben, ihre heiligen Bücher nicht zur Kenntnis nehmen, aber genau wissen, dass sie Christen sind.

Hat irgendein schlauer Pisa-Test mal die progressive Leseschwäche deutscher Ökonomen gemessen? Ihre mathematische Schlauheit ist umgekehrt proportional zu ihrer absoluten Düsternis in „human sciences“, auf Deutsch: in Grundkenntnissen des Menschen.

Ein Mensch ist für sie ein seltsames Tier, das auswendig Brioni-Anzüge trägt, inwendig wie ein Pavian mit goldenem Rechenschieber und messerscharfen Beißerchen jeden Konkurrenten in die Flucht jagt und am Schluss frohlockend wie Dagobert Duck auf seinen Schätzen thront, um die ganze Welt zu verhohnepiepeln: geschieht euch recht, ihr Loser, warum seid ihr nicht wie ICH?

Doch Hoffnung in Sicht, die deutsche Sektion der Pfennigfuchser will bußfertig in sich gehen und tätige Reue üben, tätige wohlgemerkt. Ein „Ehrenkodex soll für Transparenz sorgen“.

(Eva Roth in der FR: Ein Ethikkodex für Ökonomen)

Transparenz der Lehre? Das wäre doch was, wenn die grauen Herren selbst kapieren würden, was sie den ganzen Tag an intransparentem Unfug verzapften. Doch es geht nicht um Abstraktes, es geht um konkrete „Interessenverflechtungen“ der ach so objektiven Experten, die keiner Kamera und keinem Mikrofon aus dem Wege gehen.

Das klingt vornehm: Interessenverflechtungen. In anderen Zusammenhängen würde man von Korruption sprechen.

Wenn etwa der Freiburger Finanzwirtschaftler Bernd Raffelhüschen – der Name wird doch nicht von raffen kommen? – sich nur für private Alters- und Pflegevorsorge einsetzt, setzt er sich wie in prästabilierter Harmonie für seinen persönlichen Säckel ein. Als öffentlich bestallter Ordinarius ist er gleichzeitig Agent privatwirtschaftlicher Versicherungen.

Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Sind das nicht Ungeheuerlichkeiten, die sich eine Wissenschaft hier erlaubt und alle laufen mit oder wussten Bescheid?

Noch schlimmer sind die Medien, die öffentlich-rechtlichen Kanäle, die den staatlichen Auftrag haben, die Bevölkerung objektiv, umfassend und neutral zu informieren. Dafür erhalten sie sogar eine pflichtgemäße TV-Steuer. Wäre es nicht deren verdammte Pflicht, solche verminten Experten aus ihren Listen zu streichen?

In dem Ethik-Papier werden Minimalforderungen und Trivialitäten benannt: Geldquellen offen legen, Befangenheiten kundtun. Befangenheiten? Was sind denn das für possierliche Tierchen? Bin ich befangen, weil ich zwanghafter Kritikus bin – oder das Gegenteil, weil ich als Primus stets Liebling der Autoritäten sein wollte?

Muss der Experte gleich eine staatliche geprüfte Psychoanalyse vorlegen, ob er von einem fiskalisch umgeleiteten Ödipus-Komplex beherrscht wird und Mutter Angie immer schöne Augen machen muss, wenn er den nationalen Sonderkurs für alternativlos anpreist?

Doch das Beste kommt erst: „Erkenntnis statt Glaube.“ Man sollte gar nicht glauben, dass in deutschen Hörsälen längst der Glaube regiert, der die Erkenntnis mit Rauch und Schwefel aus dem Tempel gejagt hat.

Was ist jener bedeutsame Unterschied zwischen Logos und Offenbarung, an dem alle Philosophen sich die Zähne ausgebissen haben? Kein Problem für ethische Ökonomen: „Der Stand der Forschung ist zu würdigen.“

Würdigen? Die Würde des Forschungsstands ist unantastbar? Wenn ein junger Dozentenflegel dem Stand der Erkenntnis widerspricht, hat er dann gegen das Würdegebot des Forschungsstandes verstoßen?

Im Falle des Mindestlohns habe ein Professor Sinn gegen den Standard verstoßen, weil er die Meinungen seiner Gegner offenbar nicht als Erkenntnis eingestuft hat, sondern als Befangenheiten seiner Gegner, die aus niederen Ressentimentgründen nicht imstande seien, den hohen Sinn seiner Erkenntnisse anzuerkennen und zu würdigen.

Einen hieb- und stichfesten Stand der Erkenntnisse kann es in der Ökonomie gar nicht geben, denn sie ist keine Naturwissenschaft. Hinter scheinobjektiven Diagrammen und Formeln verstecken sich uralte moralische Meinungen über Gerechtigkeit und Solidarität, die nicht mit mathematischen Formeln begründet werden können.

Das ganze Repertoire dieser potentiellen philosophischen Standpunkte kannten bereits die Griechen. Bis heute ist kein einziger Standpunkt neu dazu gekommen. Volkswirtschaftler sind Moralisten, die keine sein wollen und sich hinter Objektivitäten verstecken, die keine sind.

Ein ganz aparter Vorschlag kommt von Ethiker Sebastian Thieme, der Nägel mit Köpfen machen und jeden Kollegen, der gegen die neuen Moral-Paragrafen verstößt, bestrafen will. Wahrhaftig ein Vorschlag, der uns weiterbringt. Zwei Jahre Knast für Sinn wegen öffentlich verzapften Unsinns. So ähnlich geht es längst im Land der Zukunft zu, im sozialistischen China. Den Knast könnte man zur Bewährung aussetzen, wenn die Schänder der ökonomischen Erkenntnis öffentliche Selbstkritik üben würden. Im Freiburger Foltermuseum gibt’s noch funktionstüchtige Pranger zum kostengünstigen Ausleihen.

Die Zustände in der neugermanischen Kameralwirtschaft – woher die Liebe zu öffentlich-rechtlichen Kameras – müssen schrecklich sein. Sollte man nicht die Anti-Messie-Spezialisten des RTL an die Front lassen, um gründlich auszumisten? Oh himmlischer Herakles, steig hernieder und leite den kathartischen Rhein durch die Hörsäle.

Das Grundproblem der deutschen Volkswirtschaftslehre sei „ihre einseitige Ausrichtung“. Dieses Problem der Einseitigkeit muss natürlich mit eisernem Besen ausgefegt werden. Wie wär‘s mit einem standardisierten, empirisch überprüften Tandem-Experten-Interview im ZDF? Für jede Frage wird ein Pro- und Contra-Anwalt eingeladen, die sich in einsdreißig kräftig die Meinung geigen? Dann wären die unerträglichen Talkshows mit ihrem choreografierten Schwarz und Weiß überflüssig. Die Anstalten könnten sich unnötig viele Kosten für Talker einsparen, die ohnehin ihre Rolle als Stalker der Gegenseite missverstehen.

Ausgewogenheit ist das oberste Kriterium der Erkenntnis? Wie Oma Klein-Liese das Stricken beibringt: zwei links, zwei rechts, zwei fallen lassen? Wer die Harmonie der Ausgewogenheit stört, muss zur Strafe die Regeln der neuen Ethik auswendig lernen?

Erkenntnisse haben sich nicht um Ausgewogenheit zu kümmern. Sie sind daran zu erkennen, dass sie überzeugen und stichfest sind.

Darüber hinaus fordert Thieme – geht das jetzt nicht ein wenig zu weit? – auch noch Fairness. Doch wenn’s faire Preise geben soll, warum nicht faire Erkenntnisse? Werden Erkenntnisse inzwischen gehandelt wie beim Deal um Angebot und Nachfrage? Geht’s etwa um perfide Interessenverflechtungen mit der eigenen Meinung? Oder geht’s hier – sit venia verbo – um Erkenntnisse?

Sollten Erkenntnisse nicht irgendwie mit Wahrheit zu tun haben? Wenn es nur Interessen gibt und keinen Wettstreit um die Wahrheit, dann kann man einen fairen Handel der Erkenntniswaren einfordern. Bitte noch zwei Pfund von der alternativen linken Meinung, sonst kann ich mich nicht ausgewogen ernähren.

Wie wär‘s, liebwerte und ethisch hochstehende Geistesriesen von der ökonomischen Fakultät, das ganze Kasperletheater sein zu lassen und – Wissenschaft zu betreiben? Lesen, Studieren, die jungen Leute ins nachhaltige Sinnieren bringen – was allerdings eigenes Dauersinnieren voraussetzte –, nicht indoktrinieren, nicht mit sinnlosen Klausuren und Dauertests vom Reflektieren und kritischen Überprüfen abhalten?

Kurz: wie wär‘s mit uralten Mitteln des Denkens, Streitens und Forschens? Der Segen des Herrn sei mit euch allen.