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Samstag, 07. Juli 2012 – Gerechtigkeit

Hello, Freunde der Ökonomen,

die Fronten zwischen den beiden ökonomischen Glaubensschulen verhärten sich. Der linke Hickel wirft seinen Kollegen Panikmache vor. Deutschland werde auf keinen Fall zum Großzahler der gesamten Krise. Es gehe nicht darum, den Banken das Geld hinterherzuwerfen, sondern durch Stützung der Banken ein noch größeres Unheil zu vermeiden.

Banken müssen geschrumpft und kontrolliert werden, das sei die derzeit wichtigste Forderung. Die Brüsseler Beschlüsse gingen in die richtige Richtung. Seinen Gegnern wirft Hickel vor, sie wollten das Ende des Euro und eine Rückkehr zur nationalistischen Engführung.

In dieselbe Kerbe wie Hickel schlagen die bekannten Ökonomen Bofinger, Straubhaar (der seine frühere neoliberale Ausrichtung korrigiert hat, das gibt’s auch), der gewerkschaftsnahe Gustav Horn und Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft.

Es gibt merkwürdige Allianzen und verblüffende Gegenallianzen. Die linke Sarah Wagenknecht wettert unisono mit Prof. Sinn, CSU-Generalsekretär Dobrindt und BDI-Chef Keitel gegen die Banken mit dem Argument, Unternehmen, die Bankrott gemacht hätten, müssten eben Pleite anmelden. Im Falle Schlecker allerdings

hat Wagenknecht dieselbe FDP-Position scharf angegriffen.

Banken sind keine normalen Unternehmen, sondern „systemrelevante“ Nervenzellen der gesamten Wirtschaft. Lässt man sie Bankrott machen, ziehen sie das ganze System in Mitleidenschaft.

Die Merkellinie wird von Horn und Bofinger unterstützt, sonst entschiedene Gegner Merkels. Der BDI-nahe Hüther wiederum steht in Opposition zu seinem „Chef“ Keitel. Auf den ersten Blick ein Verwirrspiel, auf den zweiten bestätigt es den lang gehegten Verdacht, dass die Duftmarken links und rechts einer Generalrevision unterzogen werden müssen.

Im Zweifelsfall ist deutschen Linken die nationale Jacke näher als die europäische Hose. Bekanntlich ist die Verbindung von national und Sozialismus eine urdeutsche Erfindung.

Gerhard Schick, finanzpolitischer Sprecher der Grünen, fordert mehr Umverteilung von oben nach unten. Mehr Bildung allein werde die soziale Schere nicht schließen. Noch immer wäre eine Umverteilung von unten nach oben im Gange.

In den letzten 10 Jahren sei allein der Vermögensanteil der oberen 10% gewachsen. Die soziale Schere öffne sich schon seit vielen Jahren. Die Verringerung der Ungleichheit sei nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern die Voraussetzung einer stabilen Wirtschaft.

Was ist Gerechtigkeit? Es hat noch keine sinnvolle Debatte in den Medien über das Thema Gerechtigkeit gegeben. Wagte ein Moderator mal schüchtern, die Frage zu stellen: was ist für Sie Gerechtigkeit, Herr Henkel? erhielt er die immer gleiche Antwort: Ach wissen Sie, jeder hat seine Vorstellungen von Gerechtigkeit, eine verbindliche Antwort könne es nicht geben.

Die Mächtigen wünschen keine Debatte und wollen keine schlafenden Hunde wecken. Denn ihre alleinseligmachende Form der Gerechtigkeit prägt unbehelligt das Land, um nicht zu sagen die ganze Welt. Wie der Papst keinen Zweifel an seinem Credo aufkommen lässt, so die Gralshüter des Neoliberalismus an ihrer weltbeherrschenden Doktrin.

Der große intellektuelle Vorzeigeliberale Ralf Dahrendorf hat vor Jahrzehnten einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel: Lob des Thrasymachos. Das war ein bekannter Sophist aus Athen, der in Platons Werk als Gegenspieler Sokrates’ keine unwichtige Rolle spielt.

Sein Gesinnungsgenosse Kallikles erklärte das Gerechte für den Vorteil des Stärkeren. Die Gesetze des Staates müssten auf die Vorteile der herrschenden Klasse oder des Alleinherrschers zugeschnitten werden.

Thrasymachos geht über diese Position hinaus. Der Mann, der zu Großem fähig sei, sollte auch mehr Vorteile haben. Die Gerechtigkeit im herkömmlichen Sinne sei einfältig, die Ungerechtigkeit aber die wahre Gerechtigkeit und „Wohlberatenheit“. Seinen Freunden müsse der Mächtige möglichst viele Vorteile verschaffen, wenn’s sein muss, auch „im Widerspruch zum Recht“.

Natürlich sollte nicht jeder dahergekommene Beutelschneider an die süßen Früchte der Macht und Vorteile kommen, sondern nur jene Männer, die fähig seien, „Unrecht im großen Stil zu begehen und Städte und Völker sich zu unterwerfen“.

Kallikles und Thrasymachos sind Anhänger der Doktrin, Macht geht vor Recht. Macht ist Recht. Macht ist Gerechtigkeit, auch wenn diese Sätze in den Augen des nutzlosen Plebs ungerecht erscheinen sollten. Das Leben des Ungerechten sei dem Leben des Gerechten vorzuziehen.

Thrasymachos ist der Gegner des platonischen Sokrates, der eine ganz andere Vorstellung von Gerechtigkeit hat. Wie ist der griechische Nietzsche zu seiner Meinung gekommen?

In seinen sonstigen Äußerungen fällt eine bestimmte Melancholie auf. Offensichtlich litt er unter der Erfahrung, dass „die Götter die menschlichen Dinge nicht sehen; sonst hätten sie das wichtigste Gut auf der Welt, die Gerechtigkeit, nicht übersehen; denn wir sehen ja, dass die Menschen sie nicht in Gebrauch haben.“

Wenn die Götter die herrschenden ungerechten Zustände auf Erden tolerieren, müssen sie gleichgültig sein gegenüber dem Treiben der Menschen. Es ist wie eine pubertäre Trotzbewegung bei Thrasymachos: ist es den Göttern gleichgültig, ob es auf Erden gerecht zugehe oder nicht, so soll jeder Mensch mit List und Gewalt seine eigenen Vorteile verfolgen.

Aus Enttäuschung über lasche Götter müssen die Menschen mit Ungerechtigkeit bestraft werden. Als ob die höheren Wesen mit himmelschreiender Ungerechtigkeit provoziert werden sollten, damit sie ihre Passivität aufgeben und nach dem Rechten schauen. Es klingt wie eine paradoxe Intervention an den Himmel: solange ihr nicht eingreift auf Erden, ihr Götter, solange treiben wir die Sau durchs Dorf.

Manche Deuter sprechen vom „praktischen Atheismus“ des Thrasymachos. Das trifft‘s nicht, man müsste von einem enttäuschten und widerborstigen Glauben an die Götter sprechen, der den Zweck hat, ihr Eingreifen hervorzulocken, damit sie durch gerechtes Tun auf Erden ihr Dasein beweisen könnten.

Der Mensch will sich mit der gottlos scheinenden Welt nicht zufrieden geben und verletzt alle moralischen Regeln, bis sich irgendwo eine Unsichtbare Hand zeigt, die den Augiasstall aufräumt.

Der Mensch ist in einer Zwischenphase seiner Emanzipation. Er ist bereits fähig, die Götter zu kritisieren für ihre Unfähigkeit, die menschlichen Verhältnisse moralisch zu ordnen. Und er ist fähig, reaktiv amoralisch zu sein. Aber er ist noch nicht fähig, die Götter Götter sein zu lassen und seine Verhältnisse nach eigenem moralischen Gutdünken selbst zu gestalten.

Hat es die europäische Menschheit inzwischen weiter gebracht als zur Haltung des Thrasymachos?

Wenn wir an Adam Smiths Theorie der Unsichtbaren Hand denken, die auch die Funktion hatte, etwaige Ungereimtheiten beim wirtschaftlichen Spiel zu beheben, dürfen wir daran zweifeln. Der wohlverstandene Egoismus aller Individuen soll ein gesamtgesellschaftliches Ergebnis zum Wohle aller hervorzaubern, so dachte sich Smith den unegoistischen Endzweck der Wirtschaft.

Wäre er felsenfest von seiner Theorie überzeugt gewesen, hätte er auf die Unsichtbare Hand als Endgarantin für alle Fälle verzichten können. Für irgendwas muss der Alte im Himmel doch noch gut sein. Man könnte von einem praktisch provokativen Gottesbeweis sprechen. Wir Sterblichen zeigen uns solange unfähig und chaotisch, bis der Große Bruder sich zum Eingreifen gezwungen sieht.

Der Mensch ist in die Falle seines Glaubens an die Allmacht Gottes getappt. Je vollkommener er sich seinen Schöpfer denkt, je enttäuschter muss er über die unvollkommenen Zustände auf Erden sein. Geschieht den Göttern ganz recht, dass wir uns gegenseitig die Hölle auf Erden bereiten, hätten sie uns doch rechtzeitig den Himmel beschert.

Wie listige Bürgersöhnchen nun mal sind, die sich von den hohen Autoritäten trotz viel Geschreis nicht lösen können, stellen sie diese Tatsache auf den Kopf und behaupten à la Hayek: würden wir den Himmel auf Erden einrichten, erhielten wir nur die Hölle. Also lieber umgekehrt die Hölle bis zur Apokalypse verschärfen, damit wir die finale Intervention des Himmels erzwingen.

Der Mensch ist fähig, an einen allmächtigen Gott zu glauben – den er selbst erfand –, aber nicht, den Glauben an seine eigene Allmacht in autonomes Handeln zu transformieren. Er ist fähig, an eine erfundene Allmacht zu glauben, aber nicht, sie in die Fähigkeit überzuführen, sein Schicksal selbst in die Hände zu nehmen.

Das ist die Hauptpsychose des Westens, die er durch Globalisierung an die ganze Welt weitergibt: ein von Allmachtsgedanken geblähter, von Ängsten gebeutelter hohler Frosch zu sein. Oh, heilige Evolution, nimm die fiktive Allmacht und führe sie gegen die realen Ängste, dass der Mensch zu einem angstfreien Wesen ohne Hybris und Selbsthass gesundschrumpfe und heranwachse.

Was Gerechtigkeit sei, war das Zentrum der platonisch-politischen Philosophie. Um diesen Begriff drehte sich sein gesamtes denkerisches Bemühen, das im utopischen Staat „Politeia“ seine Vollendung fand.

Gerecht ist kein einzelner Mensch, gerecht kann nur eine vollkommene Polis sein, in der alle Menschen zusammenwirken müssen, um eine zeitlose Gerechtigkeit herzustellen. Wenn alle Menschen das, wozu sie am besten geeignet sind, auch tun können, dann ist jeder am glücklichsten. Gerechtigkeit ist das Glück aller Polisteilnehmer, nicht im Geldverdienen oder Machtausüben, sondern im Entfalten ihrer Fähigkeiten.

Ein gerechter Staat beruht auf Einsicht, Menschenkenntnis und harmonischer Zusammenarbeit der ungleichen Talente zu einem gleichförmigen Glück des Ganzen. Die Unglücklichsten von allen sind die Weisheitskönige. Die harmlos-naiven Unterschichten, die problemlos ihre Arbeit verrichten und deren Bedürfnisse einfach zu befrieden sind, haben keine Probleme mit dem Glücklichsein.

Diese Idylle ist das Urschema des abendländischen Totalitarismus. Denn Platon hat sich nicht damit begnügt, den Menschen – wie einst sein Lehrer Sokrates – ein Angebot zur Mündigkeit zu machen, sondern ihnen die Botschaft übermittelt: und seid ihr nicht willig, so brauch ich Gewalt.

Weil Platon das urmenschliche Bedürfnis nach Glück und Geborgenheit zur faschistischen Zwangsbeglückung missbrauchte, hat die Moderne in antiplatonischer Reaktionsbewegung den falschen Schluss gezogen, schon der Wunsch, das Bedürfnis, das politische Streben nach Glück sei ein totalitäres Bestreben.

So schwankt die Politik der modernen Demokratien ständig zwischen dem Bestreben, die Verhältnisse zu verbessern – und dem entgegengesetzten Bestreben, nicht allzu viel zu verbessern, auf dass keine perfekte Hölle auf Erden entstehe. Was die Politik mit der linken Hand verbessert, muss sie mit der rechten wieder kassieren, sodass unterm Strich höchstens ein Nullsummenspiel herauskommt.

Auch Platon teilte nicht mehr den Glauben an die Vernunft, wie er es bei seinem Lehrer erlebt hatte. Seine Glückstyrannei erwuchs auf dem Boden des Misstrauens in die vernünftigen Fähigkeiten des Menschen. Wer nur an göttliche Wesen, nicht an den Menschen glaubt, kann gegen gewalttätige Beglückungsphantasien nicht immun sein.

Nicht anders als bei den Griechen, dreht sich auch in der Bibel alles um Gerechtigkeit. Aber nicht um die des Menschen, sondern um die Gerechtigkeit Gottes. Ist Gott denn ungerecht, dass seine Gerechtigkeit wieder hergestellt werden muss? Und dies ausgerechnet von dem ungerechten und in Sünden lebenden Menschen?

Der Mensch kann nur gerettet werden, wenn er die Gerechtigkeit Gottes wieder herstellt, die durch den Sündenfall Schaden erlitten hat. Nur wenn der Mensch an die wirkliche Vollkommenheit Gottes glaubt und sich nicht vom Augenschein übertölpeln lässt, dass der Schöpfer ein Versager sei und die Erde als Pfusch hinterließ, stellt er die Gerechtigkeit Gottes her.

Von Theologen wird immer betont, Gott sei sich selber genug. Das kann nicht stimmen, sonst hätte es der ganzen Heilsgeschichte nicht bedurft. Gott braucht den menschlichen Glauben an seine Vollkommenheit, damit er wieder an sich selbst glauben kann. Das göttliche Selbstbewusstsein hat durch den Sündenfall einen erheblichen Knacks erlitten, der nur vom Menschen geheilt werden kann.

Glaubt an mich, vertraut mir, damit ich wieder an mich glauben kann, ist der Stoßseufzer des Herrn durch die ganze Heilige Schrift hindurch. Aber nicht in Form einer flehentlichen Bitte, sondern eines drohenden Befehls. Auch Er hat keinen Glauben an seine selbst geschaffenen Kreaturen. Also setzt er sie unter Druck, bedroht sie mit schrecklichen Strafen und lockt sie mit unendlicher Seligkeit.

Die Gerechtigkeit Gottes besteht in der Rehabilitierung des Schöpfers als dem besten und vollkommensten Schöpfer, den die Menschheit sich ausdenken kann. Mit der Gerechtigkeit des Menschen in der winzigen Spanne dessen irdischen Lebenswandels hat die Gerechtigkeit Gottes nichts zu tun.

Auf Erden kann der Mensch nicht glücklich werden, nur jenseits von Zeit und Raum im Reich der Himmel. Würde der Mensch aus eigener Kraft glücklich werden können, wäre das der endgültige Tod Gottes. Gottes Gerechtigkeit und des Menschen Gerechtigkeit schließen sich aus.

Der Vorzeigeliberale Dahrendorf stellt sich ohne Wenn und Aber auf die Seite des Sokrates-Gegners: „Mir scheint, dass Thrasymachos bei dieser Begegnung trotz seines ungezügelten Temperaments und seiner heftigen Sprache die besseren Argumente auf seiner Seite hatte“.

Nein, Dahrendorf ist kein Vertreter der faschistischen Doktrin: Macht ist Recht. Für ihn sind die provokativen Reden des Thrasymachos nur Beweise für den fruchtbaren Charakter von Konflikt und Reibung in Demokratien, damit sie nicht in Harmoniestarre verfallen und im Stillstand versauern.

Dennoch entlarvt seine Koketterie mit dem Totalitären eine FDP-Wahrheit, die sich spätestens im Neoliberalismus zeigte: für die rechststaatliche FDP gilt der demokratische Grundsatz: vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Für die wirtschaftlich-liberale FDP gilt hingegen: dem Stärksten die größte Beute. Beide Prinzipien schließen sich aus. Kein Wunder, dass die Partei an ihren Widersprüchen zugrunde geht.

Was ist denn nun Gerechtigkeit? Fragen wir bei unseren weisen Kindern nach, so sagen sie uns verwundert: das weißt du nicht? Das weiß doch jedes Kind: wenn alle Menschen glücklich sind!

Hier bestätigt sich, dass Kinder gefährliche Vereinfacher sind. Nur gut, dass ihre Zahl im Westen kontinuierlich abnimmt, sonst unterminierten sie noch unsere mühsam hergestellten stabilen Unglücksverhältnisse, in denen der Stärkste der Glücklichste sein muss.

Am besten, Kinder werden langfristig verboten.