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Samstag, 06. Oktober 2012 – Egalisierende Bildung

Hello, Freunde der Kinder,

gleiche Startchancen durch gleiche Bildung? Kommen Kinder in die Schule, sind sie schon ungleich. Wie anders? Gleiche Familien gibt es nicht. Da unsere Gesellschaft gerecht sein will, na, sagen wir, ein bisschen gerecht, sollen wenigstens die Startchancen gleich sein. Trompeten diejenigen, die an die Ungleichheit aller Menschen glauben.

Menschen sind alle verschieden, alle unterschiedlich „begabt“, aber ihre Startchancen sollen gleich sein? Wenn man Unterschiedliches gleich machen will, spricht man von egalisieren. Das ist ein Schreckenswort und klingt nach Mao Tse Tung oder Nordkorea.

Bernd Kramer in der TAZ hat auch Schwierigkeiten, dieses Planierungswort zu benutzen und umschreibt lieber: „Die Grundschulen in Deutschland können die sozialen Unterschiede nicht auffangen“. Soziale Unterschiede auffangen? Ausgerechnet Bildung, die Selbststilisierung der Eitlen, soll ein Egalisierungsmittel sein?

Schaut man bei Wiki nach, erfahren wir, was egalisieren bedeutet: „einen speziellen Prozess in der Verpackung und Zusammenstellung von Waren.“ Zweck der Übung ist die Herstellung eines „vorgegebenen Zielgewichts“. Unsere süßen Kleinen kommen also aufs Förderband, das im Stechuhrrhythmus von 50 Minuten vorwärts ruckelt, dann ertönt der Gong und wenn bis dahin die Garanten unserer Zukunft nicht vorschriftsmäßig eingewickelt und mit demselben Zielgewicht an Bildung hinten runter fallen, die einen ins Töpfchen, die andern ins Kröpfchen, hat der Lehrer

versagt und muss beim Oberschulrat Rede und Antwort stehen.

Ehrgeizige Mamis – die im Übrigen sehr akkurat daherkommen, damit die Lehrer gleich wissen: solche Mamis braucht das Land – fragen dann die Kinder, wenn sie mittags nach Hause kommen: wie viel Gramm Zielgewicht an Bildung hat mein kleiner Schatz heute zugenommen? Komm auf die Bildungswaage, wir wollen doch objektiv sein.

Für Egalisieren kann man auch Nivellieren oder Planieren sagen. Damit treibt man allerdings den Teufel mit dem Beelzebub aus. Mitten in der lobpreisenden Kultur der Individualität sollen die Nachwuchskräfte nivelliert oder planiert werden?

Nivellieren heißt glätten oder glatt machen, Planieren Einebnen oder Herstellen von ebenen Flächen. „Dazu werden Unebenheiten durch Abtragen entfernt oder befüllt.“ Wenn lustige Gesellen sich abfüllen, sind sie mittels rauschhafter Getränke planiert.

Welche Wesen sind überhaupt in der Lage, solche einebnenden Monstrositäten durchzuführen? „Das Planieren von Erdreich erfolgt unter Einsatz von Planierraupen oder Gradern.“ Diese Arbeitsvorgänge können auch als „Abriss oder Rodung“ bezeichnet werden.

Nun haben wir das pädagogische Gesamtinventar beisammen. Auf pädagogischen Hochschulen ausgebildete Planierraupen nivellieren die Kinder, bis sie platt sind und mit Abriss- und Rodungsmaterial befüllt und abgefüllt werden, welches sie Bildungsgut nennen. An manchen Stellen halluziniert man, dass Deutsche Kröpfe haben, wo normale Leute Köpfe besitzen.

Sind gebildete Leute Anhänger der Égalité? Fühlen sie sich als Gleiche unter Gleichen? Sind nicht gerade sie diejenigen, die Wert auf Unterschied und Abstand legen? Um es gebildet-elitär zu sagen: odi profanum vulgus et arceo. Für den ungebildeten Pöbel: ich hasse die ungebildete Menge und halte sie mir vom Leib.

Ich hasse das dumme Volk, das ist die Fanfare der Gebildeten. Besonders in Deutschland. Da zählt nicht, was einer kann und sagt, da zählen nur Titel, Orden und Honoratiorenabzeichen.

Nun wollen sie per Bildung die Startchancen egalisieren, obgleich sie alles Gleiche hassen wie die Pest. Die Herzensbildung des bäuerlichen Mütterchens erkennt in jedem Menschen den Menschen, die Einbildung der Gebildeten erkennt in jedem Menschen den Ungebildeten.

Nebenbei müsste noch geklärt werden, welche Bildung denn in Schulen vermittelt wird? In Bayern sind sie stolz drauf, dass ihre Kinder nach vier Jahren lesen und schreiben können. Ist ja nicht zu fassen. Am Schluss sind sie sogar windelfrei. Das sind die späteren Erwachsenen, die einen Text zwar buchstabieren, aber nicht entziffern und verstehen können.

Kinder sind geborene Denker. Worüber hat man mit den Kindern gesprochen? Welche Fragen hat man zugelassen, beantwortet und weitere angeregt? Oder hat man ihnen zu verstehen gegeben, dass sie nicht soviel unsinnige Fragen stellen sollen, weil sie dazu noch zu klein sind? Nein, nicht im Stil von „Sophies Welt“ oder einer Kinder-Uni, wo bildungsbeflissene Mütter schon immer mal „Kant machen wollten“.

Kinder können denken, fühlen und die Welt erkennen. Und da sind deutsche Bildungs-Planierraupen stolz darauf, dass ihre Kinder mühsam Texte radebrechen? Großstädte Bremen und Berlin wie immer hinterdrein.

Doch ist der Vergleich zwischen Stadt und Land wirklich fair? Was müssen Großstadtkids alles können, um sich im urbanen Dschungel zurecht zu finden? Besteht Lernen mit 10 Jahren noch immer aus dem ABC und nicht aus der Fähigkeit, sich einen sinnvollen Reim über das unübersichtliche Leben zu machen?

Die gegenwärtige Schulbildung ist keine Gleich-Schaltung, sondern im Gegenteil eine Methode der Vertiefung aller Unterschiede. Schulen sind Selektions- und Sortiermaschinen. Wären sie auf Einebnung der Unterschiede aus, müsste jedes Kind individuell begleitet werden, um Nachteile auszugleichen und Unterschiede nicht zu Konkurrenzzwecken auszubeuten, sondern als Anregung, sich bei allen Unterschieden als gleich-wertig zu betrachten, damit Eigenarten allen zugute kommen.

Nur Individuen sind gleichwertig. Wer Unterschiede mit Gewalt einebnen will, ist eine Planierraupe. Wer Unterschiede nutzt, um den Reiz einer Gruppe mit ganz verschiedenen Individuen allen Gruppenmitgliedern erfahrbar zu machen, dass jeder durch den Andern bereichert wird, der ist pädagogischer Menschenfreund.

Jedes Kind kann lernen, dass es von andern Kindern lernen kann und andere Kinder von ihm lernen können. Jedes Kind wird gebraucht, wie es ist und hat ein Anrecht, so akzeptiert zu werden, wie es in die Welt gefallen ist – ohne separiert und aussortiert zu werden. „Hochbegabte“ Kinder bringen anderen – selbst ihren begriffsstutzigen Eltern – gern bei, was sie zu bieten haben, weil sie entdecken, dass man durch Lehren selbst am meisten lernt.

Doch kein Kind ist auf allen Gebieten andern überlegen. Ganz davon abgesehen, dass Kinder nicht nach Begabungen ticken, sondern nach emotionaler Akzeptanz. Künstliche Rangordnungen sind eine Erfindung des Teufels, um Kind von Kind, Mensch von Mensch zu trennen.

Divide et impera ist das Herrschaftsmotto der Schulen, der Industrie und der Politik. Teile und herrsche, dann hacken die Geteilten und Beherrschten selbst aufeinander ein, um das Geschäft der Oberaufseher zu erleichtern.

Wenn Schulen wirklich Gräben überbrücken wollten, müssten sie intrinsische Bewertungen als Rückmeldungen einführen und die „objektiven“ Noten weit zurückstellen. Ein Emigrantenkind, das kein Wort deutsch kann, muss erst aufholen und hat ein Recht darauf, zu erfahren, was es in kurzer Zeit Außergewöhnliches geleistet hat, auch wenn es noch nicht zu den „Besten“ der Klasse gehört.

Man muss den Menschen mit sich selbst vergleichen – besonders, wenn er im unverschuldeten Rückstand ist –, damit er jenes Niveau erreicht, auf dem er mit anderen verglichen werden kann. Eine Schule, die ihre Schüler wirklich gleichstellen will, benötigt solange intrinsische Rückmeldungen, bis die Benachteiligten aufgeholt haben. Womit der Irrsinn der „objektiven“ Vergleichsnoten noch lange nicht abgesegnet ist.

Schulen sind zu Notengebungsakkordmaschinen pervertiert. Kaum hat das Schuljahr begonnen, die Kinder noch gar nichts gelernt, schon wird der erste Test über die Köpfe der Kinder hinweg exekutiert. Ziel der Schulbildung ist der Dauertest, die formierte Prüfung, nicht das Lernen von Inhalten.

Hat jemand schon das Angstniveau der Kinder gemessen, wenn sie morgens in die Schule müssen? Hat jemand die nachlassende Lustkurve der Kinder nachgemessen, die eintritt, je länger sie zur Schule gehen?

Am Anfang strömen sie noch alle, freuen sich alle, sind alle vital, neugierig und begierig. Spätestens in der dritten und vierten Klasse ist die Begeisterung erloschen, die Kinder werden fahrig, lustlos, unwillig, wenn nicht auffällig und die ganze Klasse störend.

Wilhelm Reich spricht vom Kaltwerden der Kinder, wenn sie mit sechs in die Schule kommen. Er meinte die Unterdrückung der sexuellen Entwicklung. Noch wichtiger ist das Kaltstellen der intellektuellen Entwicklung – die nicht erst in der Schule beginnt.

Natürlich fängt alles im Elternhaus an. Wenn aber der Staat sich anheischig macht, die Defizite ungleicher Startbedingungen auszugleichen, kann er nicht tun, als könnte er die mitgebrachten Unterschiede einfach ignorieren. Ja, er unternimmt alles, um die Gräben noch zu vertiefen, die Distanzen zu vergrößern, die kränkende Wettbewerbssituation zu verschärfen. Oft verbunden mit dem Argument, die überbehütenden Elemente der familiären Nestsituation schleunigst zu korrigieren.

Eine Klasse mit Frontalunterricht ist eine Planierungsmaßnahme am einebnenden Förderband. Was die Schule veranstaltet, ist Zwangsnivellieren, um die Heranwachsenden zu unvergleichlichen Wesen heranzuzüchten. Geht’s noch logischer und intelligenter? Zwangsnivellieren schüttet äußere Gräben zu, um emotionale und soziale Gräben zu vertiefen.

Ist jemals untersucht worden, wie das soziale Klima einer Klasse ist? Ihre solidarische Kohäsion? Kann eine Erwachsenengesellschaft, die nur auf Exklusion und Schereneffekte setzt, glaubhaft das emotionale Miteinander einer Gruppe fördern? Wer‘s glaubt, wird Kultusminister.

Wer solche Doublebind-Drill-Kasernen als Schulen besitzt, der wird Exportweltmeister – in zunehmend fremdenfeindlicher, eigensüchtiger und mutistischer Gesamtstimmung. Mutismus ist stummes Versinken in sich.

Ist jemandem schon aufgefallen, dass die Menschen sich kaum noch was fragen? Sich gar nicht trauen, etwas zu fragen, weil sie fürchten, sie könnten rüde abgewiesen werden? Jeder murmelt oder quacksalbert inkognito vor sich hin, in ständiger Spannung, er könnte etwas von sich preisgeben, was das feindliche Umfeld zu seiner Bloßstellung benutzen könnte. Es handelt sich um Mutismus bei lärmender Schwatzhaftigkeit.

Was ist das beste Mittel zur Verführung? Ein sinnvolles Gespräch mit Fragen, die jeder hören will und vor denen er sich doch ängstigt. Sinnlichkeit entsteht in erotischen Gesprächen, die solche Blockaden überwinden. Ein Mensch zerfließt, wenn er von einem anderen wahrgenommen wird.

Die Gesellschaft wird umso pornografischer, je mehr ihre erotischen Qualitäten verkümmern. Niemand kann philosophieren, der nicht erotisch ist, niemand erotisch sein, der nicht die Sprache wohlwollender Neugier zu sprechen versteht. Das Wort ist die zärtliche Brücke zum andern. Wohlwollen ist es nicht, das unsere Schulen beherrscht.

 

Ein schreckliches Spitzenprodukt europäischer Pädagogik ist Anders Breivik. Jetzt erst kommt ans Tageslicht, in welchem Maß seine Mutter ihn zum Monstrum erzog. Hätte die Öffentlichkeit gewusst, dass der – vom Vater verlassene – Knabe von seiner Mutter mit Tod und Sexualität terrorisiert wurde, hätte sie ihn nicht zu einer Ausgeburt der Hölle machen müssen.

Schon früh flehte die Mutter bei den Behörden um Hilfe, weil sie fürchtete, mit der Erziehung ihres Sohnes zu scheitern. Während eines dreiwöchigen Aufenthalts in einem kinderpsychologischen Heim fiel den Psychologen das merkwürdige Verhalten der Mutter auf. In den Berichten hieß es, dass die Mutter ihrem kleinen Jungen immer wieder den Tod wünschte und ihn gleichzeitig – wie genau, weiß man nicht – mit ihrer Sexualität konfrontierte.

Die Mutter war von aggressiven und sexuellen Obsessionen geprägt, die sich mit depressiven Zuständen abwechselten. „Sie kann zuckersüß mit ihm reden und ihm im nächsten Moment offen den Tod wünschen.“

Ein norwegischer Autor, der die Familiengeschichte recherchierte und jetzt der Öffentlichkeit vorgelegt hat, meinte, möglicherweise wäre die Tragödie zu verhindern gewesen, wenn das Jugendamt frühzeitig eingeschritten wäre.

Aus Rücksicht auf die Mutter wurden diese Fakten vor Gericht nicht erwähnt. Kein Ruhmesblatt für das Gerichtsverfahren.

(Ein neues Buch über den Massenmörder Breivik stellt Ingrid Raagaard in der BILD vor.)

Ein Opfer brauchte Opfer, um sich von den Unerträglichkeiten seiner gepeinigten Kinderseele zu entlasten. Für jeden Todeswunsch seiner Mutter, den er sich anhören musste, sollte später ein unschuldiger Mensch sterben.

Die Erwachsenen einer rundum tüchtigen neoliberalen Gesellschaft wollen am Elend ihrer Kinder nicht mehr schuldig sein. Deshalb haben sie die Erkenntnisse über das Werden eines Menschen als „unglückliche Kindheitsstory“ verhöhnt.

Nicht Eltern oder Gesellschaft sind schuld an den Taten ihrer Jugendlichen, es sind sie selbst, die – niemand weiß warum – aus Jux sich zum Bösen entscheiden. Die Mär vom freien Willen hat im christlichen Europa einen religiösen Rang erhalten. Im alten China wurden die Eltern für die Untaten ihrer Kinder bestraft.

War Breivik also unzurechnungsfähig, weil er Opfer seiner Erziehung war? Niemand ist zuständig für die Umstände seiner zufälligen Geworfenheit. Hat er nicht das Glück, Selbstbestimmung zu lernen, bleibt er der Getriebene einer beschädigten und krankhaften Umgebung. Die einzige sinnvolle Frage ist: welche Faktoren seiner erlittenen Erziehung machten Breivik zu einem Massenmörder?

Diese Fragen wurden offenbar vor Gericht nicht gestellt. Sollte das Buch Recht haben mit seinen neuen Erkenntnissen, müsste es zur Bankrotterklärung einer ehrbaren Wissenschaft führen: der Gerichtspsychiatrie.

Haben die Psychiater es nicht für nötig gehalten, solide Anamnesen zu erheben? Haben sie die Akten des Jugendamtes nicht gelesen, sich nicht mit der Mutter beschäftigt?

Sie begnügten sich mit psychiatrischer Notengebung und bodenlosen Spekulationen über Unzurechnungs- oder Zurechnungsfähigkeit. Dabei haben sie einfachste Fragen nicht gestellt. Waren außerstande, den Hauch einer Erklärung zur Genese der Untat zu liefern.

Offensichtlich hat die Psychiatrie sich entschieden, nicht länger zu den verstehenden Schwatzwissenschaften zu gehören, sondern zu den knallharten, empirisch überprüfbaren Naturwissenschaften.

Mit dem Fall Breivik haben sie sich als Disziplin entlarvt, die „fälschlicherweise vorgibt, ein bestimmtes Wissen zu besitzen.“ Das war die amtliche Definition von Scharlatanerie.