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Samstag, 05. Mai 2012 – Demokratie

Hello, Freunde der BILD,

die BILD-Zeitung ist für die wichtigste deutsche Journalistenauszeichnung, den Henri-Nannen-Preis, nominiert worden. Sie habe erfolgreich einen Schnäppchenjäger aus dem Amt des Bundespräsidenten gejagt.

Eine wahrhaft meisterliche Leistung, jemanden mit dem Fahrstuhl nach oben zu nehmen, um mit ihm wieder in den Keller zu fahren. Sie könnte auch noch den Börne-Preis bekommen für faires Eintreten zugunsten andersgläubiger Minderheiten und Hartz4-Langzeitparasiten.

Günter Wallraff erhielt Abschiedsbriefe von Leuten, die sich umbrachten, weil BILD sie zuvor medial ein wenig umbrachte.

Alice Schwarzer macht beherzt Reklame für die erfolgreichste Hetzpostille Europas, selbst der ulkige Hermann-Hesse-Verehrer Udo Lindenberg will da nicht abseits stehen. Dank Alice ist die Nackerte von der ersten Seite nach hinten gerutscht. Eine feministische Glanztat.

Auch Tausendsassa Jakob Augstein bemüht sich redlich, in synchronen Schnellschwatzwettbewerben mit Blome, einem BILD-Mann, das Blatt aus der unseriösen Ecke herauszuholen.

Nicht zu vergessen: BILD hetzt auch gern gegen deutsche Gerichte, die Recht sprechen, das dem Volksempfinden der gesund denkenden Redaktion widerspricht.

Insgesamt sollte der Springer-Verlag den Gesamtpreis für die Guten erhalten. Die Begründung hat

der Chef des Hauses vor einigen Tagen geliefert. In einer Rede vor vielen Honoratioren und der Schickeria der BRD erklärte er in bündiger Rede: Wir sind die Guten.

Seltsamerweise sinkt die Anzahl der BILD-Leser, was nur bedeuten kann, dass das Schlechte in dieser Gesellschaft zunimmt. Antje Vollmer kommentiert in der BZ.

 

Wenn Mely Kiyak Recht hat, rückt der Neofaschismus in Europa langsam, aber sicher nach vorne. Selbst im Europaparlament sitzen und vermehren sie sich.

Man könnte von dem unvermeidlichen Pendelschlag der Geschichte sprechen. Man könnte aber auch die Phraseologie sein lassen und darüber nachdenken, auf welchem Boden solche kollektive Regressionen wachsen. Nicht auf dem Boden des Zufalls, sondern systematischer Züchtung.

Wer einstmals verfeindete Länder eines Kontinents zu einer friedlichen Einheit führen will, indem er eine unfriedlich-trennende Wirtschaftsform als Vehikel der Einheit einsetzt, will, dass die Nationen auf ihre früheren, nicht bearbeiteten Hassbeziehungen zurückfallen.

Es gibt auch Gegenbewegungen. Eine Initiative unter Federführung prominenter Intellektueller und Politiker wie Cohn-Bendit, dem Soziologen Ulrich Beck und Jürgen Habermas will nun eine Neugründung der EU von unten anregen. In einem freiwilligen europäischen Jahr soll Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden, die benachbarten Länder kennen zu lernen.

Wie reagiert auf solche Blauäugigkeiten und Gutmenschenallüren die ausgekochte Presse? Der Vorschlag klinge „verführerisch einfach“, fast ein „wenig rührend“, schreibt Harry Nutt, der es sich wahrhaft schwer macht in seinem Schreiberleben und sich offenbar vorgenommen hat, in seinen Kommentaren keinen einzigen sinnvollen Satz mehr zu schreiben. Denn das strengt an und bringt nichts.

 

Nun ist auch Wissenschaftsministerin Schavan in den Verdacht gekommen, die Kopiertaste bei ihrer Doktorarbeit betätigt zu haben. Und nicht so knapp, wie die letzten Meldungen lauten.

Hat sie gegen das Gebot verstoßen: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wieder deinen Nächsten, indem sie falsch zitierte oder das Gedankengut eines anderen sich widerrechtlich aneignete?

Zukünftig sollen keine Hobby-Doktoranden mehr angenommen werden, sagt der Potsdamer Uni-Präsident Oliver Günther, die nur um des Prestiges willen einen akademischen Titel erwerben wollen. In Amerika wäre eine solche Titelsucht undenkbar. Dort plagten sich mit Fußnoten nur Nachwuchskräfte, die ein echtes wissenschaftliches Interesse erkennen ließen. Nebenberuflich könne man das nicht.

Hat man eigentlich schon mal untersucht, in welchem Maß wissenschaftliche Erkenntnisse in Promotionen und Habilitationen erbracht wurden?

Studenten sollen sich bei Erstellung von Hausarbeiten aller eigenen Gedanken enthalten und nur nachweisen, dass sie richtig zitieren können. Sollte das bei studentisch sozialisierten Promovenden ein Deut anders sein?

Wissenschaft ist methodischer Streit. Welcher Lehrstuhlbesitzer streitet noch?

 

Christian Meier hat ein Standardwerk über die athenische Demokratie geschrieben: „Die Entstehung des Politischen bei den Griechen“. In der NZZ stellt er sich die Frage: Kann es das geben, Volksherrschaft? Kann man heute von der athenischen Urdemokratie noch was lernen?

Schlichte Antwort: „Keine Frage, man kann von der Betrachtung des alten Athen für heutige Demokratien nichts lernen – außer dass die Übertragung des Begriffs <Demokratie> in die Moderne höchst problematisch und irreführend ist.“ Selbst in Schweizer Kantonen sei Herrschaft des Volkes, nehme man das Wort konkret, nur bruchstückhaft möglich.

Würde man das Wort nicht kennen, käme heute kein Mensch auf die Idee, die europäische Realität mit ihm zu kennzeichnen. Sein Gebrauch würde nur dazu führen, Erwartungen zu erwecken, die nicht zu erfüllen seien, ja sogar Enttäuschung und Bitterkeit hervorriefen. Bürger sollten unterscheiden, was machbar ist und was nicht. Sonst entstünden Ohmachtserfahrungen, und sie seien Gift für Demokratien.

Weniger Demokratie wäre mehr Demokratie? Dann schaffen wir sie doch einfach ab und landen mitten im jesuitischen Sonnenstaat.

Gewiss bräuchte die Gesellschaft das Gefühl, mitzugestalten und mitzubestimmen, sonst ginge der Demokratie der Atem aus. Genau dieser Punkt sei auch der Haken. Inzwischen würden politische Entscheidungen von Gewicht weder in nationalem noch in europäischem Rahmen getroffen, sondern auf globaler und internationaler Ebene. Der politische Spielraum sei eng geworden.

Nicht zufällig würde man sich auf das Thema Erziehung stürzen. Denn hier könne man noch etwas ändern, aber „sehr selten zum Guten.“

In Sachen Europa würde ohnehin der wichtigste Punkt der Demokratie, der Streit der verschiedenen Meinungen, wegfallen, weil die Eliten bei der Rettung der Banken täten, was sie wollten. Die Parteien seien nicht mehr imstande, scharf profilierte Alternativen vorzustellen. „Wie die Kaninchen scheinen sie vor der Schlange Europa zu sitzen und sich das Denken zu erübrigen.“

Müsste nach solcher Kritik nicht die Folgerung kommen: also müssen wir einige Kleinigkeiten ändern?

Wie klingen die Meier‘schen Schlussfolgerungen? Wie unbeantworbare Fragen: „Müssen wir uns dem Prozess einfach ergeben (und uns in unsere Nischen zurückziehen)? Oder können wir ihn noch einfangen in demokratische Willensbildung?“ Wie sind Ihre Antworten, Herr Meier? Wer keine Antwort gibt, hat schon eine gegeben.

Es tut sich immer mehr eine Stimmung auf, die an die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erinnert. Kurz vor dem Machtwechsel zum Nationalsozialismus. Da erschienen Bücher mit dem Titel: Diktatur oder Demokratie? Ganz cool wurden Vorteile und Nachteile beider Politordnungen gegeneinander abgewogen. Mit welcher Zielrichtung, kann man sich vorstellen.

Auch heute wird immer mehr gefragt, ob wir angesichts internationaler Herausforderungen nicht mal darüber „nachdenken“ sollten, ob Demokratie westlichen Musters den wachsenden Herausforderungen noch gewachsen sei. Das Modell China insbesondere zeige, wie effektiv ein Land sein könne – ohne unsere „starren“ und „schwer manövrierbaren“ Entscheidungsprozeduren.

Sollen wir Däumchen drehen und zugucken, wie unsere leicht manövrierbaren Eliten die repubikanische Titanic im Ozean versenken? Schauen wir aber nicht zu, sind wir dann nicht in der Gefahr, uns Ohnmachtserfahrungen einzufangen wie die asiatische Grippe?

Deutsche Professoren bevorzugen die Aporie oder die Ausweglosigkeit. Anders kann es nicht dramatisch und schicksalhaft werden. Hatten wir nicht lange genug die olle Demokratie? Time for change. Es wird Zeit, dass wir uns nach etwas Frischem und Neuem umsehen, sonst schlafen uns die Füße ein.

Wie wär‘s mit dem guten alten Totalitarismus unter ganz neuem chinesischem Chassis? Oder das momentane italienische Modell der legalen Diktatur einer Expertenriege? Waren uns die Italiener in den 30er Jahren nicht auch voraus und wir bewunderten den Marsch der Schwarzhemden auf Rom? War deren bulliger Anführer nicht ein begeisterter Nietzscheaner, sodass wir unser eigenes Gedankengut nur wieder ins Reich heimholten?

Herr Sloterdijk hält die soziale Marktwirtschaft für Kleptokratie, für die Herrschaft der Langfinger, der linke Soziologe Franz Walter setzt nicht mehr auf wankelmütige Demokraten, sondern auf wetterfeste Institutionen, Professor Münkler warnt vor Überlastung der Demokratie, da könne man sich leicht überheben.

Martin Walser wallt mit prophetischer Tiefe durch alle Redaktionen, um meinungslos gegen demokratisches Streiten und Rechthabenwollen Zeichen zu setzen. Die gesamte Intellektuellenelite von Iris Radisch über Arno Widmann bis zu Axel Cäsar Döpfner liegt vor ihm auf dem Bauch, um sich mit Bodenseewasser taufen zu lassen. Döpfner gefällt sich in der Toleranz, das Orakel drei bis vier Mal gefragt zu haben, ohne es als antidemokratisches Monstrum des Saales verwiesen zu haben.

Die führenden Köpfe der Medien haben sich zu einer Sekte entwickelt, die ihren Messias verehrt, gleichgültig, ob er den Vogel zeigt oder sich bekreuzigt. Kurz vorher lagen sie dem Charismatiker Obama zu Füssen, dann einem wortgewaltigen Pastoren, der genau zwei Begriffe in seinem Repertoire aufzuweisen hat, aber dies mit erleuchteter Inbrunst. Jetzt einem operativen Mutisten, der sie darin bestärkt, Meinungen abzugeben, die gar keine sind. Doch niemandem soll es auffallen.

Statt bürgerlichem Selbstbewusstsein wird Demut gepredigt, was mit Zerknirschung und Selbsterniedrigung zu tun hat. Eben noch, auf dem Höhepunkt des Neoliberalismus, war die einfältige Siegerpose angesagt. Gehe in kein Bewerbungsgespräch ohne flüssig die Parole zu trompeten: Ich bin der Champion und werde den Stefan Raab besiegen.

Nach den amerikanischen Aufgeblasenheits-Exzessen gelüstet‘s der von Natur aus unterwürfigen deutschen Natur, das Pendel wieder in Richtung: oh Herr, sei mir Sünder gnädig, zu bewegen.

Ganz unten oder ganz oben, psychisch immer extrem, Füße küssend oder an der Gurgel, anders machen‘s die Neugermanen nicht, die die aristotelische Ausgeglichenheit und Stabilität als Mittelmaß verwerfen. Dieselben, die allweil in die Mitte der Gesellschaft drängen, wo es schon wegen Überfüllung zu Sauerstoffmangel gekommen sein muss. Schaut, wie sie sich klumpen, dort, wo man keine Meinung mehr haben muss: aber letzteres in extremer Form.

Warum können wir nichts von athenischen Erfindern der Demokratie lernen? Lernen kann man eh nur, wenn man die Vergangenheit zulässt. Kann man von einem antiken Denker noch was lernen, war neulich in der Lerngazette DIE ZEIT zu lesen.

Seit wann kann man von abgelegten Heiden lernen? Korrekte Antwort: man kann nur von Zukunftsdenkern lernen, die noch gar nicht das Licht der Welt erblickt haben.

Meier bringt die alten Kalauer, um Welten zwischen uns und Athen zu legen: Athen war zu klein, zu übersichtlich. Da kannte jeder jeden. Es war eine Face-to-Face-Polis, nichts für moderne Massengesellschaften.

Also folgern wir, dass es heute keine einzige Demokratie auf der ganzen weiten Welt gibt. Schon gar nicht in Amerika, Brasilien, Indien oder Europa.

Wie würde der Althistoriker die Gesellschaftsform nennen, in der wir leben? Nicht mal der Begriff repräsentative Demokratie fällt. Keine Volksherrschaft, wenn das Volk nicht wie in der Schwyz Seit an Seit auf der Wiesn steht, um seine Stimme abzugeben? Nur solche direkten Formen der Demokratie seien nämlich echte Volksherrschaften, meint Herr Meier.

Sind die Abgeordneten nicht vom Volk gewählt, nicht dem Volk verantwortlich? Müssen sie ihren Wählern nicht regelmäßig Rechenschaft ablegen? Selbst, wenn wir akzeptieren, dass die athenische Demokratie idealer war als die moderne – abgesehen von Sklaverei und weiblicher Unterordnung –, kann das Unvollkommene nicht vom Vollkommenen, das Schlechtere vom Besseren lernen? Muss es das nicht sogar, um selbst besser zu werden?

In seinem Buch stellt Meier die seltsame These auf: „ Es ist nicht einfach zu verstehen, dass ein Volk, das nichts von der Möglichkeit einer Demokratie weiß, Demokratie schafft.“ Könnte es sein, dass Meier bei diesem Satz eher an die Deutschen dachte, denen er möglicherweise nach Art des Hauses keine Demokratie zutraute und sich nun – bedauerlich, bedauerlich – bestätigt fühlen darf?

Wäre es für Meier einfacher zu verstehen, wenn ein Volk sich für Tyrannei entschiede? Dann wüssten wir, dass er Anhänger jenes Naturrechts war, nach welchem es natürlich sein soll, dass Löwen die Hasen karessieren.

(Nebenbei: Es gibt zwei Formen des Naturrechts, die uns die Griechen vermachten. Das wird nirgendwo erwähnt, damit das eigene Naturrechtsmodell konkurrenzlos bleibe.

Das erste ist das Darwin’sche: natürlich ist, wenn sich die Starken und Mächtigen durchsetzen, also sollen sie es auch.

Das zweite ist das demokratische und menschenrechtliche: von Natur aus sind alle Menschen gleich, ausgestattet mit gleichen Rechten. Das Gesetz ist dazu da, diese rechtliche Gleichheit zu schützen.)

Hätten die Griechen in ihrer Tradition nicht schon demokratisch-ähnliche Lebensweisen entwickelt mit angstfreien Meinungsäußerungen – nachzulesen bei Homer –, wären sie nie auf die Idee gekommen, ihre Facon der Gemeinschaft in rechtliche und politische Formen zu gießen.

Von Odysseus, der sich bei seiner Rückkehr zuerst dem Sauhirten anvertraut, bevor er sich anderen zu erkennen gab, bis zur Anerkennung des letzten Sauhirten als gleichberechtigtes Mitglied einer Volksversammlung, war nur ein kleiner Schritt.

In den Stürmer- und Drängerjahren, seit der Frühaufklärung, begannen die Deutschen, sich energisch von den christlichen Glaubensbekenntnissen abzunabeln und sich zu Griechenfans zu entwickeln. Winkelmann war der erste, der über die Alpen ging, um der griechischen Schönheit in Italien zu verfallen. (Dass er nur Imitationen der griechischen Originale bestaunte, na und?)

Doch die deutsche Graecomanie wurde nie politisch. Im Gegenteil, mit der Abwendung von der Französischen Revolution ins Ästhetische wurde die einseitige Beschäftigung mit der griechischen Kunst, die Bewunderung für das Schöne und Wahre nur verstärkt.

Das Gute blieb das private Gute: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Goethe, der Fürstenknecht (Börne) hasste nichts mehr als Pöbelrevolten und revolutionäre Geister. Als Fichte Probleme bekam wegen angeblichem Atheismus, ließ er ihn im Stich und hielt ihn für einen bornierten Feuerkopf.

Vor allem die mythischen Epochen beschäftigten die Olympier. Noch ein bisschen Platon dazu, das war‘s an Philosophie, Sokrates war so gut wie nicht existent in Weimar.

Die deutsche Platonbesoffenheit sollte sich unter den Eliten bis zum heutigen Tage nicht mehr ändern. Das reichte von milder Aristokratie bis zur Regeneration des platonischen Urfaschismus im Dritten Reich. Ohne Lenkung durch weise Oberschichten konnte der Pöbel nur zur reißerischen Horde werden.

Demokratie wurde einhellig von allen deutschen Gelehrten abgelehnt. Die schlimmsten Gegner der Weimarer Republik waren Akademiker. Zu den heftigsten Feinden der athenischen Demokratie gehörten Nietzsche und sein väterliches Über-Ich, der Schweizer Jakob Burckhardt, der sich nichts Schlimmeres vorstellen konnte als eine permanent streitende, geifernde, sich verleumdende und ja, faschistische Volksherrschaft, in der der Einzelne von einer totalitären Volksmeinung abhängig war.

Der Franzose Fustel de Coulanges, Erzieher am französischen Hof, verstärkte die allgemeine Ablehnung der athenischen Demokratie. Schon Roussseau, der Inspirator der Französischen Revolution, war Anhänger Spartas und kein Freund quantitativer Volksabstimmungen.

Die Freiheit, die er meinte, war nicht die Freiheit der Mehrheit, sondern die richtige Freiheit jener, die den Durchblick und das Sagen hatten. Auf Rousseau bezogen sich viele spätere totalitäre Ideologien der Neuzeit.

In Amerika gab es andere Gründe der Ablehnung der Demokratie, nachdem die Aura der Gründerjahre verflogen war. Die Amerikaner wollten die Weltgeschichte von vorne beginnen und hatten keine Lust, im alten korrupten und verhassten Europa nach Vorbildern zu gucken. Bei Dewey gab‘s nur Abneigung gegen die sinnenfrohe, griechische Sklavenhaltergesellschaft. Nicht anders als bei Marx und den Sozialisten, die die Mängel als Vorwand nahmen, um auch die Vorzüge unter den Tisch zu kehren.

In Deutschland gibt’s so gut wie kein einziges sinnvolles Buch über Demokratie. Entweder gestelzte Fachliteratur, pflichtgemäße Schulbuchplattitüden oder kaum verhüllte Abneigung gegenüber allem, was aus der Gosse beansprucht, Herrschaft auszuüben.

Für die meisten Konservativen unter den politisch denkenden Köpfen ist Demokratie nichts anderes als populistischer Mummenschanz, mit der die Hochkomplexen den leicht beeinflussbaren Souverän an der Leine führen.

So auch Meier, der den überragenden Mann der athenischen Demokratie, Perikles, so beschrieb: „Indem die Bürger das Gefühl hatten, die Politik zu machen, konnte Perikles sie um so besser lenken.“

Viele Altphilologen fühlen sich in ihrer Ablehnung der Volksherrschaft durch Aristoteles unterstützt, der Demokratie unter die verfehlten Staatsformen zählt. Doch hier liegt ein schlichtes Missverständnis vor, das die Gelehrten kennen, aber gar nicht dran denken, es mit einem Satz aufzulösen.

Was wir unter einer guten und gelingenden Demokratie verstehen, nannte Aristoteles Politie. Demokratie nannte er, was er als Pöbelherrschaft bezeichnete, wenn alles drüber und drunter ging, also eine entartete Volksherrschaft.

Meier zitiert selbst einen ausgezeichneten Satz des Platonschülers, der an Churchills Satz von der Demokratie als der schlechtesten Form aller Regierungen, mit Ausnahme aller andern, erinnert: „Gleichgültig, ob Regieren etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist, wenn alle von Natur aus gleich sind, müssen alle am Regieren teilhaben.“

Demokratie ist nicht nur eine Wahlmethode, sondern eine Lebensform. Eine philosophische Politik oder eine politische Philosophie.

Wer demokratisch sein will, kann keine Ideologie der Ungleichheit oder der Postmoderne vertreten. Auch keine Wirtschaftsform grenzenloser Differenzen und Machtunterschiede.

Zu Recht schreibt Demokratie niemandem vor, was er zu denken hat. Wenn der Pluralismus sich aber als Sammelbecken menschenfeindlicher Positionen versteht, wird er seine Früchte ernten.

Ein stolzer Demokrat hält eisern an der Wahrheit fest, dass nur in Gleichheit und Freiheit die Menschen am humansten leben können.

Solche Einsichten können niemandem per Ukas ins Gehirn implantiert werden. Wenn sie aber verloren gehen, sollte sich niemand wundern, wenn er eines Tages von einer postdemokratischen Geheimpolizei abgeholt wird.

Demokratie ist keine Herrschaft der Weisen, aber Herrschaft der Einsicht, die allein durch Argumente und Lernprozesse regiert. Einsicht ist keine Ware und verträgt sich mit keiner käuflichen Ideologie. Wer seinen eigenen Kopf nicht betätigt, kann noch so viele Informationen, Bits und Bytes speichern, er wird sie niemals beherrschen lernen. Vielmehr werden sie ihn beherrschen.

Die abendländischen Religionen und Philosophien müssen rigoros einer demokratischen Verträglichkeitsprüfung unterzogen werden.

Das sieht man am Beispiel Europa, das zur politischen Einheit werden will, doch mit einer Ökonomie, die alle Individuen in unerbittliche Einzelkämpfer verwandelt und alle Nationen auf ihre vordemokratischen Hasstraditionen zurückwirft.