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Samstag, 04. Februar 2012 – Linie und Kreis

Hello, Freunde Chinas,

nun ist es soweit, wir stehen vor der Tür der mächtigsten Welt und die zeigt uns, wo Bartels den Most holt. Merkel darf nicht mit Dissidenten reden, sie wirkt wie eine Bittstellerin, die man mit höflicher Schikane gerade noch in den Vorraum lässt. Mit Madame Europa wird gleich der ganze alte Kontinent auf die hinteren Plätze verwiesen. China ist atmosphärisch die Nummer Eins der Weltfinanzen geworden.

Vor über 100 Jahren wurde das damals in sich ruhende Reich der Mitte vom Westen mit Kanonendonner gezwungen, die Grenzen zu öffnen und sich der Wirtschaftsmacht des Westens zu ergeben. Da schließt sich ein Kreis, nun geschieht erneut, was bereits beim ersten Kennenlernen der beiden so unterschiedlichen Kulturen geschah.

Die ersten Europäer, die über den Indischen Ozean gesegelt waren, erlebten dort etwas „höchst Schockierendes“, wie David Landes in „Wohlstand und Armut der Nationen“ beschrieb: „Die Einheimischen begegneten ihnen mit leutseliger Herablassung“.

Das Reich der Mitte, das sich selbst „Reich des Himmels nannte“, sah sich als vornehmstes Staatengebilde der Welt, das allen anderen an Größe, Bevölkerungsdichte, Alter und Erfahrung voraus und dank seiner kulturellen Leistungen, seines geistigen, moralischen und intellektuellen Überlegenheitsgefühls unangreifbar geworden war. Schon die

Selbstbeschreibung als Reich des Himmels, „sage schon alles“, wie der nicht wenig gehässige New Yorker Wirtschaftshistoriker bemerkt. Der Kaiser war der Himmelssohn, ein unvergleichlicher gottähnlicher Repräsentant himmlischer Macht.

In ihrer Vorstellung wohnten die Chinesen im Zentrum des Universums, umgeben von niederen Rassen, die von ihrem Glanz zehrten, sich bei ihnen ein wenig Licht holten und zu Größe und Ehre kamen, indem sie ihnen huldigten und Tributzahlungen leisteten.

Sind die Ähnlichkeiten zur westlichen Weltmacht Nummer eins von heute nicht mit Händen zu greifen? Gods own country, umgeben von abhängigen, ungläubigen und wenig leistungsfähigen Nationen, erfüllt mit der Arroganz, die Besten im Universum zu sein.

Doch hier enden schon die Gemeinsamkeiten. Amerikaner ruhen nicht in sich, begnügen sich nicht mit dem, was sie haben. Sie müssen ständig expandieren und drücken mit militärischer und wirtschaftlicher Macht ihre Überlegenheit der Welt auf, die auch ihren Kotau machen muss, ohne aber selbst zu „Größe und Ruhm“ zu kommen.

Der Sohn des Himmels ist kein jesuanischer Sohn des Jenseits, sondern Repräsentant der Natur. Einen Dualismus kennen die Chinesen nicht, sie leben in einem einheitlichen und harmonischen Gebilde, das die Griechen Kosmos nennen würden. Wie alle Menschen ist der Kaiser ein Kind der Natur, im Einklang mit dieser Yin und Yang-Harmonie leben und weben alle Geschöpfe des Himmels.

Nun die entscheidende Frage: warum hat nur der Westen ein welteroberndes Monstersystem entwickelt? Warum nicht die Osmanen, die bis zur Schlacht vor Wien noch die führenden Kanonenhersteller waren, ab dann aber in stillstehender Sultanei versanken? Warum nicht die Chinesen, die schon Schießpulver, Papierdruck, die Nudeln (die exquisite Nudelkultur der Italiener ist ein Import aus China), Seidenraupen, hervorragende Flotten und Konfuzius hervorgebracht hatten?

Antwort von David Landes: sie waren von der „Sünde des Stolzes und Gleichgültigkeit“ gegenüber den überlegenen Waffen des Westens geprägt. Diese impertinente Ignoranz gegenüber Mordswerkzeugen rächt sich. Da ist es wahrhaft besser, stolz auf Waffen zu sein, die Türen und Toren aller selbstgenügsamen und autarken Nationen der Welt mit Eleganz zu brechen wissen.

„Waffen sind alles andere als ein Spielzeug. Kanonen und Musketen waren Tötungswerkzeuge, also Machtinstrumente.“ Geschieht den überheblichen Schlitzaugen recht, wenn sie vorgeführt werden und sich zu Demutszwecken dem Westen beugen müssen, hätten sie doch ihr Schießpulver zu dicken Bertas weiterentwickelt. Aber nein, die Chinesen lernten nie, „moderne Waffen herzustellen“. Schlimmer: „sie hatten sich ihr Wissen und Können einfach entgleiten lassen“.

Solch fortschrittsfeindliche Schlampereien werden vom vorbildlichen Westen sofort bestraft, der nicht nur einer wachstumsorientierten Technologie hörig ist, sondern einem unendlichen Fortschritt: „Jeder Fortschritt führte zu neuem Fortschritt.“

Dynamik siegte über Statik, Bewegung über Stillstand, religiöse Grenzenlosigkeit über natürliche Selbstbegrenzung. „Das chinesische Verfahren – ein Schritt vorwärts, ein Schritt zurück – stand für einen gänzlich anderen Prozess.“ Wer es wagt, ein anderes Leben als das westlich-unmäßige zu führen, wird mit hundertjähriger Unterjochung bestraft. Bis er gelernt hat, den Gegner mit dessen eigenen Waffen zu schlagen.

Das geschieht heute. China hat seine Schmach überwunden, den Westen bis ins Innerste erforscht und kopiert, nun beginnt es, seine Lehrmeister zu überrunden. Der alte Stolz kehrt auf neuer westlich-instrumenteller Ebene zurück. Zuerst wurde der Sozialismus abgekupfert, dann der Kapitalismus, jetzt zeigen die neuen Machthaber in Peking, dass beide Systeme nur für undialektische Westler Widersprüche sein müssen.

Die Chinesen scheinen den Ehrgeiz zu entwickeln – nicht anders als der „Chinese“ Hegel, dessen Thesen, Antithesen und Synthesen auch nichts anderes als Yin und Yang sind, allerdings erfolglos, denn Hegel will Unvereinbares, Dualismus und Monismus, zusammenzwingen, was nicht mal einem Schwaben gelingt, der alles kann, nur keinen Kopfbahnhof mit einem Durchgangsbahnhof verkuppeln, dennoch können wir sagen, Schwaben stehen Chinesen erheblich näher als Gringos und Rambos –, eine perfekte Synthese aus Gerechtigkeit, Gleichheit, nimmermüder Leistungsfähigkeit und immer größer werdenden Reichtumsunterscheiden zu entwickeln.

Hegel ist an den preußischen Berlinern gescheitert, woher der heute noch gärende Krieg zwischen Kreuzbergern und zugewanderten Älblern rührt, die den schwadronierenden Einheimischen beweisen müssen, dass sie die Dialektik erfunden haben.

Woran werden die hegelianischen Chinesen scheitern? Daran, dass Yin und Yang Natürliches mit Natürlichem zu harmonisieren versteht, nicht aber Natürliches mit Unnatürlichem.

China kannte keinen Wandel, keine Neu-Gierde, keinen messianischen Zukunftsglauben. Seine Lernbegierde beschränkte sich auf mandarinenmäßige Wiederholung des ewig Gleichen und Vergangenen. Weil China die Augen vor dem Neuen verschloss, eine „ängstliche Abneigung gegen Veränderung“ zeigte, war es dem Westen auf allen Ebenen unterlegen.

„Das Wissen der Europäer war nicht nur befremdlich und insgeheim kränkend. Mit seinem Überschwang und Enthusiasmus, mit seinem Drängen und seinem Wettkampffieber, mit seiner schonungslosen Hingabe an Wahrheit und Effizienz lief es dem chinesischen Denken diametral zuwider.“ Wer keine Probleme hat, unbegrenzt schonungslos und kränkend zu sein, dem wird der Herr der Heerscharen die Trophäe am Jüngsten Gericht nicht verweigern.

Was also war das Geheimnis der westlichen Superiorität? Dass sie mechanische Uhren hatte.

Uhren waren von mittelalterlichen Mönchen erfunden worden, um den in Zeitlosigkeit dahindämmernden barbarischen Germanen von morgens bis abends in die Ohren zu dröhnen, was Gottes Uhr geschlagen hat. Dass man ununterbrochen wachen muss (die wunderbare Erfindung des Burnout): denn niemand weiß, wann der Messias kommt.

Daneben hatten Uhren die Aufgaben, stechuhrmäßig für Arbeitsdisziplin und wachsende Produktivität zu sorgen, weshalb der Zeitmesser als Kern der westlichen Grandiosität zu gelten hat.

Die schlauen Jesuiten, die sich Verdienste erwarben beim Ausforschen des heidnischen Riesengegners, benutzten die Uhren, um sich Zutritt selbst beim Kaiser zu verschaffen.

Leibniz, der die chinesische Philosophie bewunderte und sie der griechischen gleichsetzte, war von der Überlegenheit der Chronometerkultur gegenüber wecker-losen Primitivkulturen überzeugt: „Was werden Perser und Chinesen sagen, wenn Sie diese wunderbare Maschine sehen, die jederzeit den wahren Himmelsstand wiedergibt? Ich glaube, sie werden erkennen, dass der menschliche Geist etwas vom Göttlichen an sich hat und dass dieses Göttliche sich besonders den Christen mitteilt.“

Womit wir bei des Pudels Kern angekommen wären. Uhren entschlüsselten und bewiesen die Überlegenheit der linearen Heilsgeschichte – transformiert in grenzenlosen Fortschrittsglauben – über die zirkuläre, immer um sich selbst kreisende Zeit des Rests der Welt.

Die aggressive Linie besiegt den pazifistischen Kreis. Die expandierende Linie führt unaufhaltsam und unbegrenzt ins Jenseits, der Kreis umrundet behutsam den endlichen Bestand des Natürlichen.

Das wird der Kampf der Zukunft werden. Solange die Menschheit der linearen Erektion folgt, wird sie im Abgrund verenden. Wenn sie sich der Harmonie des Kreises ergibt, wird sie in den Armen der Mutter Natur landen. Mutter Natur besteht nicht aus Rechtecken, sondern ist sexy kurvilinear. Mandorla, die sanfte Mandel, ist das Gegenstück zum Expanderphallus der omni-potenten Neuzeit.

Den Chinesen ist zuzutrauen, dass sie, nachdem sie den erzwungenen Weg des Westens gehen mussten, um den Westen zu besiegen, sich des Kreises des Laotse erinnern und zur Natur zurückgehen werden.

Schlauen Missionaren dienten eindrucksvolle Wunder-Maschinen als praktische Beweise für die Höherwertigkeit ihres im Handgepäck mitgebrachten Gottes. Wer sich auf solch technischen Hokuspokus verstand: war der „nicht im weitesten moralischen Sinn überlegen?“

Klaro, ist nicht jede kuckuckrufende Schwarzwalduhr schon ein wahrer Gottesbeweis? Muss der Glaube dieser Zauberlehrlinge nicht wahrer sein als Buddha, Kungfutse, Manitu und Krishna zusammen genommen?

Überlegene Technik und Wirtschaft sollten den Heiden die überlegene Moral der Missionare beweisen. Nachdem diese Art der Gottesbeweise die Welt verblüffte und besiegte, kam die Kehrtwende auf dem Fuß: heute besteht die Überlegenheit des Westens darin, mit Hilfe objektiv gefundener, garantiert moralfreier Geldgesetze die geheimsten Bedürfnisse der ökumenischen Gattung homo sapiens herausgekitzelt zu haben.

Das Abendland wollte Linie und Kreis, Glaube und Vernunft im Labor synthetisieren. Hegels Spirale sollte die Einheit aus statischem Kreis und linear-unendlicher Dynamik sein. Das Zerbrechen der Spirale war der endgültige Kollaps jeder auf falschen Kompromissen beruhenden Zwangsehe aus Griechen- und Christentum.

Der Kampf um die Harmonisierung von Linie und Kreis beherrscht seit dem Mittelalter die Köpfe derer, die sich sowohl dem Glauben wie der Vernunft verpflichtet fühlten. Sie suchen nach der perfekten Figur, die zu gleichen Teilen Kreis und Linie ist.

Der arabische Philosoph Avicenna, der Aristoteles nach Europa gebracht hatte, war als denkender und gläubiger Muslim mit denselben Problemen wie seine christlichen Kollegen beschäftigt. Im Universum beobachtete er zwei Arten von Bewegung: die kreisförmige, ewige der vollendeten Himmelskörper – und die geradlinig-endliche, die natürliche in der unvollkommenen sublunaren Welt.

Oberhalb des Mondes, supralunar, war das Vollkommene zu Hause, unterhalb, sublunar, war das Reich des sich nach Vollkommenheit sehnenden Unvollendeten. Gott, der unbewegte Beweger war vollständig in Ruhe. Die Kreisbewegung war jene Bewegung der Natur, die sich der göttlichen Ruhe am weitesten annähern konnte.

Die Christenheit stülpte diese Bewertung um. Die unvollkommene irdische Linie wurde zur vollkommenen Linie, nein, nicht der Natur, sondern der Gnaden– und Heilsgeschichte. Die Natur blieb unvollkommen und sündig, durch die technische Erfindungskraft des Menschen sollte sie auf der linearen Zeitachse der Vollkommenheit angenähert werden.

Wie der Mensch von Gott, sollte natura lapsa (die sündige Natur) von wiedergeborenen Wissenschaftlern zur vollendeten zweiten Natur therapiert werden. Siehe, das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden.

Was ist das Ziel der Menschheit? Ewige Unruhe, nie endender, auf keiner Zwischenstation zu befriedigender Fortschritt? Immer weiter durch die Tundra jagen die Tscherkessen? Oder Ausruhen, Ankommen, ins Ziel kommen?

Noch hat die Menschheit sich nicht entschieden, auf Erden Fuß zu fassen. Ihr verborgenes Ziel – an das sie nicht glauben, dem sie nur folgen muss – ist ein imaginäres Jenseits, welches sich dadurch definiert, dass es das Diesseits hinter sich abstoßen und verbrennen muss.

Viel Glück im Himmel, meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn. Von oben werdet ihr auf die Verdammten der Erde – nicht herunterschauen, euch nicht an deren Qualen wie im Circus Maximus erfreuen. Denn mit tiefem Erschrecken werdet ihr feststellen, dass eure Hoffnungen getrogen haben. Besinnt euch und kehrt um.

Verlasst die harte Linie der Naturverräter, begebt euch subito auf die sanfte und zärtliche Umlaufbahn natürlicher Rundungen. Eure Rolex-Uhren werden euch sonst einbläuen, was die Glock geschlagen hat.