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Samstag, 04. August 2012 – Zensuren

Hello, Freunde der Provinzposse,

gestern ging’s um einen Diktator im Sport, heute geht’s um einen Helfershelfer des Diktators in Münster. Hindenburg war ein Totengräber der Weimarer Republik, der dem Diktator den Weg zur Macht frei machte. Bis heute trägt der Schlossplatz in Münster den Namen Hindenburgs. Nun soll er gekippt werden, doch es gibt enormen Protest.

Hindenburg war Anhänger der Monarchie. Wie eine deutsche Monarchie mit einem deutschen Diktator zusammenhängt, zeigen die folgenden Sätze Hindenburgs aus seinem Testament:

„Ich danke der Vorsehung, dass sie mich an meinem Lebensabend die Stunde der Wiedererstarkung [des deutschen Volkes] hat erleben lassen. Ich danke all jenen, die in selbstloser Vaterlandsliebe an dem Werk des Wiederaufstiegs mitgearbeitet haben. Mein Kanzler Adolf Hitler und seine Bewegung haben zu dem großen Ziele, das deutsche Volk über alle Klassen- und Standesunterschiede zur inneren Einheit zusammenzufassen, einen entscheidenden Schritt von historischer Tragweite getan“.

Er scheide von seinem deutschen Volk in der festen Hoffnung, dass Deutschland zur „vollen Erfüllung und Vollendung der geschichtlichen Sendung“ reifen werde.

Hindenburgs Worte sind eine genaue Übersetzung des nizänischen Glaubensbekenntnisses ins Politische: Ich glaube an Gott, die Vorsehung, und an seinen Sohn, das deutsche Volk, das die Welt erlösen wird, von allen gehasst und ans Kreuz geschlagen wurde, in die Hölle fuhr – die Debakel des 30-jährigen Krieges bis zum Versailler Vertrag – und nun

wiederauferstanden ist (Wiedererstarkung und Wiederaufstieg). Mein Heiland Hitler wird die verlorenen Schafe zusammenführen, Deutschland wiederauferstehen lassen und das Reich Gottes am Ende der Tage schaffen (Erfüllung und Vollendung der geschichtlichen Sendung).

Es muss noch viele Münsteraner geben, die an Hindenburgs Evangelium glauben.

Dass auch atheistische deutsche Sozialisten im Bann der religiösen Wiederauferstehung befangen sind, zeigt die DDR-Hymne:

„Auferstanden aus Ruinen

Und der Zukunft zugewandt,

Lass uns dir zum Guten dienen,

Deutschland einig Vaterland.

Alte Not gilt es zu zwingen,

Und wir zwingen sie vereint,

Denn es muss uns doch gelingen,

Dass die Sonne schön wie nie

Über Deutschland scheint.“

Zur Not könnte die Becherhymne nach der Melodie des Deutschlandlieds gesungen werden. Im zweiten Vers werden zwar die Völker erwähnt, denen man brüderlich die Hand reichen will, der Mittelpunkt der Verse aber bleibt auf „Deutschlands neuem Leben“: „Und die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint.“

Die Höllenfahrt sind die Ruinen, die alte Not, aus denen das einig Vaterland zum Licht auferstehen wird, das so schön wie nie scheinen wird, Symbole des Paradieses unter Gottes Leitung. „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir, ach Herr, erhör mein Flehen“, war ein durchgängiges Motiv der deutschen Geschichte.

Das Vaterland war der gemarterte Christus, der genug gelitten und mit seinen Jüngern zur Glorie auferstehen wird. Nicht anders als heutige Neoliberale schauen sie gebannt in die Zukunft, woher das Heil durch die vereinte Kraft der Gemeinde der Gläubigen oder Werktätigen kommen wird.

Womit wir zwanglos bei den amerikanischen Preppern angekommen wären. Prepper bereiten sich auf den Weltuntergang vor. Prep kommt von prepare, vorbereiten. Im Gegensatz zu deutschen Kollektivgläubigen sind amerikanische Vorsehungsgläubige calvinistische Einzelkämpfer. Ein auserwähltes ganzes Volk kennen sie nicht. Zwar ist Amerika Gottes eigenes Land, doch wenn’s ernst wird, scheidet sich die Spreu vom Weizen.

Den Endkampf muss jeder für sich bestehen – zusammen mit seiner Familie. Das ist ein psychisches Zugeständnis an die Nächsten, genau genommen aber ein Verrat am totalen neutestamentlichen Einzelkämpfertum. („Denn ich bin gekommen, einen Menschen mit seinem Vater zu entzweien und eine Tochter mit ihrer Mutter…“)

Prepper sind immer auf das Ende vorbereitet, sei es durch Vorratshaltung und Bewaffnung bis über die Ohren im Hause selbst (bug in) oder durch die Fähigkeit, jederzeit hochgerüstet das Haus zu verlassen und sich durch die Wälder zu schlagen (bug out).

Die Prepper-Bewegung hat hohen Zulauf. Im Fernsehen gibt’s zwei „Weltuntergangs-Reality-Shows“ (wird bald zu uns kommen). Im Keller stapeln die Prepper Lebensmittel für sechs Monate. Gewehre, Pistolen und Macheten nicht zu vergessen, mehr als 10 000 Schuss Munition.

Wenn Christus an die Türe pocht, sind sie gerettet. Wenn‘s der Antichrist ist, wird aus allen Rohren gefeuert.

 

Ganz so schnell werde es nun doch nicht zu einem Gesetz kommen, das die Beschneidung erlaubt, meint die ZEIT. Die Stimmen derer, die den Ritus für strafwürdig halten, würden immer lauter. Der Graben verlaufe quer durch die Parteien.

Die deutsche Debatte sei schon deshalb schwierig, weil es kaum internationale Orientierungspunkte gäbe. Auch die Vereinten Nationen hätten noch keine klare Haltung gefunden. Der Ausschuss für Religionsfreiheit hält die Beschneidung für erlaubt – kein Wunder, wenn’s primär um die Freiheit der elterlichen Religion geht.

In der UN-Kinderrechts-Charta – inzwischen von 193 Staaten ratifiziert – steht das Kindeswohl im Vordergrund. Gleichwohl wird in Artikel 14 das Elternrecht betont, das Kind in einer „seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten“. Doch was heißt das?

In Absatz drei des Artikels steht: „Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, darf nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit oder Sittlichkeit oder der Grundrechte und –freiheiten anderer erforderlich sind.“ Gehört zur Gesundheit nicht auch neurosenfreie psychische Intaktheit? Gehört zum Grundrecht nicht auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit?

In der Präambel steht unmissverständlich, dass Kinder „Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung haben“. Gehört zu dieser besonderen Fürsorge nicht auch das Recht der Kinder, im mündigen Alter selbst über ihre Religion zu entscheiden? Ist Religionsfreiheit nur die Freiheit der Eltern?

In den meisten europäischen Staaten wurde die Frage noch nicht grundsätzlich erörtert. Mit Ausnahme der nordeuropäischen. In Norwegen wird gerade die Forderung erhoben, die Beschneidung zu verbieten. Auch in Dänemark gab es Versuche, die Beschneidung erst mit 15 zu gestatten.

Schweden ist das einzige Land mit einem Gesetz zur Beschneidung. Seit 2001 darf der Eingriff nur unter Betäubung in Krankenhäusern von Ärzten oder ausgesuchten Beschneidern ausgeführt werden. Die Kritik der muslimischen und jüdischen Verbände war ähnlich scharf wie in Deutschland. Inzwischen haben sie sich mit der Regelung abgefunden.

Die ZEIT: „Die deutsche Entscheidung, wie immer sie ausfällt, wird Signalwirkung haben.“

 

Werner Rügemer hat ein Buch über die Ratingagenturen geschrieben. Über diese mächtigen Bewerter ist wenig bekannt. Wie oft ist es schon passiert, dass ein Unternehmen, ein Land abschirrte, obgleich es beste Noten von den Agenturen erhalten hatte.

Die Kriterien, nach denen gewogen und beurteilt wird – bleiben geheim. Ratings seien keine Fakten und könnten deshalb nicht als richtig oder unrichtig bezeichnet werden, so stellen sich die Bewertungsfirmen selbst vor. Ratings enthielten keine Garantien für Vollständigkeit und Genauigkeit. Unter keinen Umständen würden die Zensoren Verantwortung übernehmen. Die scheinbar objektiven Benotungen seien reine Meinungsäußerungen.

Der Europäischen Zentralbank allerdings scheint das gleich, sie vergibt Kreditsicherheiten nur bei bestimmten Bewertungen, erteilt von verantwortungslosen bloßen Meinungsträgern. Die Agenturen spielen Schicksal, werden aber nicht in Haftung genommen. Die Geldmächte, die hinter den Agenturen stehen, lassen sich von ihren Abhängigen selbst bewerten. Das ist, als würde in einem Fußballspiel eine Mannschaft ihren eigenen Schiedsrichter mitbringen.

Nach Meinung Rügemers sind die Agenturen der verlängerte Arm ihrer Eigentümer, also keineswegs unabhängig.

(Kai Schlieter in der TAZ über Werner Rügemers Buch „Ratingagenturen“)

Moderne Demokratien machen ihr finanzielles Schicksal abhängig von privaten Firmen, die keinerlei Verantwortung für ihre Zensuren übernehmen, die Kriterien ihrer Notengebung nicht offen legen und von dubiosen Geldgebern abhängig sind, die sich ihre Qualitäten von den eigenen Lakaien attestieren lassen.

Kennen wir das System nicht zur Genüge? Es ist das Zensursystem der staatlichen Schulen. Lehrer spielen Schicksal mit dem Notenbuch. Nach welchen Kriterien bewertet wird, weiß niemand, denn Werten ist unauslotbar subjektiv.

Lehrer übernehmen keinerlei Verantwortung für ihre objektiv daherkommenden, in Zahlen verwandelten Impressionen, vermischt mit Vorurteilen und Ressentiments. Zweite, alternative Wertungen gibt es so gut wie nie. Die Zensur liegt in der Hand von Monopolisten. Kritik an den Notengebern prallt gewöhnlich ab.

Kein Lehrer wird zur Rechenschaft gezogen, wenn ein unfair abgewertetes Kind in Depressionen verfällt oder – horribile dictu – mit einem Schnellfeuergewehr seine Kameraden durchsiebt.

Alle schlecht bewerteten Kinder sind unfair abgewertet, denn kein Kind ist so unfähig, wie es von den staatlich-pädagogischen Ratingagenturen – den Schulen – dargestellt wird. Alle begriffsstutzigen Kinder waren einmal anders und wurden von Erwachsenen, die ihre Intelligenz nicht ertrugen, dumm gemacht.

Insofern sind alle Noten unfair, denn niemand stellt Fragen nach den Ursachen mangelhafter Entwicklung der kindlichen Intelligenz. Die Lehrer unterziehen sich keiner gegenseitigen Überprüfung oder Supervision. Entweder spielen sie Gottvater der Klasse oder biedern sich als Kumpel an.

Über den psychologischen Prozess der Notengebung wird grundsätzlich nicht gesprochen. Alles erkühnt sich, sachlich zu sein.

Noten sind selbsterfüllende Prophezeiungen der wirksamsten Art. Wer hat, dem wird gegeben. Wer nichts hat, dem wird noch genommen, was er hat. Die Gutbenoteten werden immer besser, die Abqualifizierten fühlen sich rettungslos verloren.

Dasselbe Gesetz gilt in der Wirtschaft. Durch Bewerten trennen sich die Geister. Noten selektieren und trennen Erfolgreiche von Verlierern.

Das standardisierte Beurteilen bewertet den Zögling nicht an seinem eigenen Niveau, sondern am Niveau derer, die das Glück hatten, mit den Inhalten des Lernstoffs durch ihre gewohnte Umgebung vertraut zu sein.

Ein Schüler, der erst seit Wochen in Deutschland ist und innerhalb weniger Wochen die hiesige Sprache gelernt hat, kann nicht so eloquent lesen und schreiben wie ein deutsches Kind. Dennoch könnte er subjektiv weitaus besser gelernt haben als der einheimische Primus.

Diese intrinsische Sicht der Dinge ist im Schulalltag offiziell nicht vorgesehen. Nur äußerliche Ergebnisse werden miteinander verglichen. Die Klasse muss per Rangskala hierarchisch gegliedert sein. Vergleiche einer Klasse mit der andern aber unterbleiben. Hier gilt das intrinsische Ergebnis der Klasse.

Dass Kinder das Notensystem als ritualisierte Prügelorgie verstehen, zeigen gelegentliche Experimente, wo sie sich selbst benoten dürfen. Dann rasseln die schlechten, sprich, die „strengen“ Noten.

Im Wirtschaftsbereich nicht anders. Ständiges Zensieren spaltet die Gesellschaft, die Starken profitieren, die Letzten beißen die Hunde. Die Reichen werden immer reicher, die Armen haben keine Chancen gegen sie.

Selbsterfüllende Prophezeiung ist das verborgene Geheimnis der angeblich rationalen Profimacher. Erst wenn die Krise am Dampfen ist, wird mit Grinsen erklärt: die Hälfte der Wirtschaft beruht auf Psychologie.

Wenn das stimmt – es ist wesentlich mehr als die Hälfte – entsteht die Spaltung der Menschheit nicht erst durch ökonomische Gesetze, die stets die Champions bevorzugen, sondern in der Erziehung der Kinder durch nationale und religiöse Ideologien, die die einen zu gottgewollten Siegern und die andern zu verdammten Losern stempeln.

Warum wir verantwortungslose Ratingagenturen so apathisch ertragen, liegt an den Erfahrungen unserer eigenen Ausgeliefertheit an die selektiven Notenfabriken der Schulen.

In modernen Gesellschaften ist das Renommee der Institutionen umso unangreifbarer, je stummer und bedenkenloser sie auftreten, je unwilliger sie sind, Rechenschaft über ihr Tun abzulegen.

So wenig Gott sich zur Verantwortung ziehen lässt, so wenig jene Mächte, die in seinem Nimbus paradieren.

Nur ein einziges Mal hat ein biblischer Held den Versuch unternommen, den Herrn aller Zensuren zur Rechenschaft zu ziehen. Da erging es ihm schlecht, denn die höchste Ratingagentur zensierte ihn zum Nichts:

„Willst du mein Recht vernichten,

mir Unrecht geben,

dass du Recht behaltest?“