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Samstag, 03. November 2012 – Fürsorgliche Einhegungen

Hello, Freunde Jean Zieglers,

okay, niemand will mehr die Zahlen hören, niemand dem blauäugigen totalitären Moralisten Jean Ziegler zuhören. Deshalb die Zahlen:

Wie viele Menschen sterben täglich an Hunger? 57 000. Wer bestimmt täglich über Leben und Tod vieler Menschen? Zehn Lebensmittelkonzerne, die jeden Tag durch Preisbildung entscheiden, wer stirbt und wer lebt.

Ein Siebtel der Menschheit ist permanent unterernährt. „Dafür sind wir alle verantwortlich, weil wir diese mörderischen Mechanismen der kannibalischen Weltordnung problemlos brechen könnten. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie.“ Sagt der unerträgliche Jean Ziegler.

Hat das mal ein deutscher Politiker in den letzten Jahren in einer Wahlkampfrede, in einer Pressekonferenz zu sagen gewagt?

In der Armutsbekämpfung gebe es aber doch Fortschritte? Statistische Tricks, sagt Ziegler. Absolut gesehen hat das Verhungern zugenommen. Die großen Hedgefonds wie Goldmann & Sachs sind von Immobilien auf Nahrungsmittel umgestiegen, bieten Derivate an auf Reis, Mais, Soja und Zucker. Hunderte Millionen Tonnen Lebensmittel werden verbrannt, um Agrartreibstoffe herzustellen. Der Preis für Mais ist in den letzten fünf Monaten um 63% gestiegen.

Was müsste getan werden? „Grundnahrungsmittel werden der Börse entzogen. Ihr Besitz wird zu einem einklagbaren Menschenrecht gemacht.“

Die Hälfte der Menschheit lebt noch auf dem Land. Doch zurzeit gibt es einen ungeheuren Landraub durch die Konzerne, Land, das den Bauern

abgenommen und – mit Hilfe einheimischer Politiker – den Konzernen verkauft wird. Im letzten Jahr 41 Millionen Hektar.

(TAZ-Interview von Fritz von Klinggräff mit Jean Ziegler)

Zur Freiheit der Konzerne gehört das Recht, andere Menschen zu bestehlen und ihnen das Land wegzunehmen. (Bei uns geschieht das durch jahrelanges Nichtbezahlen von Überstunden.) Legal natürlich, dafür sorgen gewitzte Juristen.

Ein junger amerikanischer Republikaner versteht unter Freiheit die „persönlichen Freiheiten jedes Einzelnen“. „Was ist denn besser für den armen Teil der Bevölkerung? Umverteilung und Abhängigkeit oder eine Gesellschaft, die Innovationen fördert? Das sei es doch, was dieses Land vorangebracht habe“, sagt Devin Ralston in der ZEIT.

 

Wer macht mit beim lustigen Wiki-Puzzeln? Innovationen sind Neuerungen. Damit das schlechte Alte verbesserr wird? Gibt es da Vorher-Nachher-Prüfungen, ob Verbesserung eingetreten oder ob es zur Verschlimmbesserung gekommen ist?

Warum sterben nach wirtschaftlichen und technischen Innovationen seltsamerweise immer mehr Menschen? Keine Fragen, keine Antworten beim Wiki-Stichwort: Innovationen. Stattdessen die Auskunft eines Professors, westliche Kulturen würden den „eher schaffenden Aspekt kreativer Innovation betonen, in nichtwestlichen Kulturen sei Creare mehr ein Einfügen in einen natürlichen Wachstumsprozess.“

Dürfen wir, Sir, ins Deutsche übersetzen und sagen, der Westen vergewaltigt mit Innovationen Natur und Mensch, ohne die geringsten Rücksichten auf natürliche Wachstumsprozesse zu nehmen – vom ausdrücklichen Lebenswillen der Vergewaltigten gar nicht zu reden? Frei zu sein für Innovation ist frei zu sein für Gewaltmaßnahmen gegenüber Schwächeren, deren Rechte und Willensäußerungen keinen Menschen interessiert?

Keine Rede, dass Creativität mit einem allmächtigen Creator zusammenhängen könnte, der aus Nichts erfindet und in Nichts zerstört.

Wie kamen Innovationen zustande? Wer hat sie zu verantworten? „Historisch betrachtet gibt es Zeiten, zu denen (in denen?) Neuerungen schubartig aufkamen“. Es kamen irgendwie Innovationen schubartig auf? Kein Mensch hat sie erfunden? Niemand ist verantwortlich für schubartige Entwicklungen?

Heute wird alles passivisch formuliert, am liebsten die Heldentaten im Namen des Fortschritts. Wie ick den Laden hier kenne, kann das Subjekt der wunderbaren Veränderung nur Gott, die Geschichte oder der tasmanische Beutelteufel sein, der den Schub vom Himmel hat fallen lassen. Welche philosophischen oder religiösen Motivationen hier am Werke waren: kein Wörtchen.

Die Freiheit der Starken besteht darin, sich über Rechte anderer hinwegzusetzen und sich derer Besitztümer im Namen der geschichtlichen Notwendigkeit anzueignen. Freiheit ist nach Hegel Einsicht in die Notwendigkeit. Notwendig sind wirtschaftliche Raubzüge innerhalb und außerhalb des Landes zum Zweck der Wohlstandsmehrung derer, die die Zeichen der Notwendigkeit an der Wand am besten entziffern können.

Die sich den Gesetzen der Notwendigkeit widersetzen, sollen mit Hilfe westlicher Zockerinstrumente ausgehungert werden, dass sie freiwillig auf ihr letztes Äckerchen verzichten und in die Slums der Großstädte ziehen, in Hoffnung auf miesbezahlte Jobs, die es nicht gibt. Die Kinder verelenden, werden kriminell.

Bei Beckmann hören wir dann den EKD-Chef predigen, dass das Böse in uns ist, aber von Gott zu einem guten Zweck erfunden wurde, damit die Slumkinder sich mit Hilfe des Freien Willens für das Gute entscheiden. Denn Gott habe die Menschen vor dem Bösen gewarnt: Tut das nicht, lasst das.

Es gibt ökologische, es gibt teuflische Kreisläufe und es gibt noch schlimmere: kapitalistische. Wenn ich malen könnte, würde ich jetzt ein eindrucksvolles Diagramm zeichnen:

Kapitalist, Profitinteresse, sehr frei, beherrscht die Börse, zockt mit Lebensmitteln, begeht Landnahme in Kenia, schwarzer Landwirt verarmt, muss sein letztes Äckerchen aufgeben, zieht in die Großstadt, verelendet, schlitzt einen reichen Mercedesbesitzer, kommt ins Gefängnis, seine Töchter werden nach Italien in Lusthöllen verkauft, das Böse nimmt überhand, die Gesetze müssen verschärft werden, damit die Freiheit der Zocker nicht beeinträchtigt wird, die stehlen noch mehr Land in Afrika, der Kreis erweitert sich innovativ zur Fortschrittsspirale, die nicht eher endet, bis wenige Landräuber den überwiegenden Boden der Welt beherrschen.

Damit das Elend in Kenia hierzulande nicht so sichtbar wird, engagieren sich Caritas und edle VIPs aus dem Showgeschäft, beteiligen sich an einem Quiz zugunsten diakonischer Projekte in Schwarzafrika, aha, so schlimm kann‘s dort nicht sein. Nächstenliebe kann Kapitalismus besiegen, man muss nur wollen.

Verwirkliche deinen Traum, auch wenn er zum Alptraum deines heißgeliebten Nächsten wird.

Das Ganze nennt man System, das auch die Linken nicht knacken können. Oder wenn doch, nur im Ganzen oder gar nicht. Also gar nicht. Mit Petitessen und subjektiver Moral kommen wir hier nicht weiter. Da müssen schon die Riesenmächte der Evolution ran. Und so warten die Systemknacker, bis die Geschichte ihnen entgegenkommt und ihnen zuruft: Aufwachen, linke Schlafmützen, Revolution ante portas.

Auf diesen Weckruf haben sie nur gewartet, manche schon seit 2000 Jahren. Manche nennen ihre Revolution derohalben auch Messias. Dann aber geht’s rund – schon steht das Reich der Freiheit vor der Tür. Die Tür wird innovativ eingetreten und alles wird gut. Sie können an der Dreisam angeln gehen oder – nachdem es heftig geregnet hat – Wildwasserkanu fahren, nachmittags eine kritische Kritik schreiben oder die Kritik auch sein lassen. Denn was gibt’s im Paradies noch herumzukritteln? Aus mit der Maus, die Vorgeschichte ist aus.

Was jetzt in Afrika geschieht, ist die Wiederholung des Landraubs in Europa, als das Gemeineigentum der Bauern durch List und Tücke der Starken – die sich durch freie Allmenden in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlten – entwendet wurde.

Das Bauernlegen zog sich vom 14. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert. Im 15. und 16. Jahrhundert eigneten sich innovative Adlige die herren- und nutzlosen Gemeindeflächen in fortschrittsfeindlichen Dörfern an, um das BIP des Landes kreativ zu gestalten. Damit neue Flotten zur weiteren Welteroberung gebaut werden konnten.

Als die groben Bauern zu Sense und Dreschflegel griffen, um sich ihre Allmenden zurückzuholen, kam Martinus Luther und schrieb saugrob, dass man die Flegel abschlachten solle, wo immer man sie träfe. Was die frommen neuprotestantischen Fürsten auch prompt taten, denn Gottes Wort muss man gehorchen.

Nun höret die Wiki-Absegnung: „In England trieb die Enclosure-Bewegung die Kommerzialisierung der britischen Landwirtschaft voran und wurde zu einer wichtigen Bedingung für die industrielle Revolution.“

Enclosure heißt Einhegung und ist ein wunderbares Wort zur Bezeichnung eines Klassenverbrechens, durchgeführt von den Feinen und Vornehmen – die hervorragend mit Messer und Gabel umgehen konnten – an denen, die nicht mal wussten, was ein Silberbesteck ist. Sie hegten zärtlich ein, was sie mit Brachialgewalt eroberten.

Zwar verarmten die Kleinbauern, doch die Vorsehung meinte es gut mit ihnen. Noch mehr mit den Enteignern, die ganz im Auftrag des progressiven Weltgeistes handelten. „Aus der verarmten und durch das Bevölkerungswachstum (sprich: je ärmer, je mehr warfen sie nichtsnutzige Bälger) zunehmenden Landbevölkerung rekrutierte sich (!) die Arbeiterschaft in den schnellwachsenden nordenglischen Industriestädten.“

Das kann man mit Fug eine doppelt prästabilierte Harmonie nennen. Zuerst wird das Land, das bislang unnütz in der Gegend herumlag, dem ökonomischen Fortschritt zugeführt. Sodann konnte das überflüssige Landvolk durch Elend und Hungerseuchen zur Maloche in den neuen Fabriken überredet werden. Die freien Zwangsbeglücker respektierten voll und ganz die Freiheit der Beglückten.

Solch beidseitige Freiheit nennt man Liberalismus, das bislang beste Wirtschaftssystem unter der Sonne. Gab‘s Problemchen, wurde die Unsichtbare Hand eingeschaltet, die den Losern mit gesalbten Worten erklärte, dass sie auserwählt seien, um den Fortschritt der Menschheit mitgestalten zu dürfen. Alle würden wunderbaren Zeiten entgegen gehen. (Siehe unter „Enclosure Movement“)

Den ganzen Vorgang nennen neutrale und objektive Wirtschaftshistoriker „Landwirtschaftliche Revolution“ (siehe dort). Dieselbe ist eine „Umwälzung der bisher bestehenden landwirtschaftlichen Strukturen (Vorsicht beim Begriff Strukturen, da geht’s immer um Täter und Opfer, die nicht genannt werden wollen), die nach manchen Definitionen (!) durch einen gewaltsamen Eingriff oder politischen Umsturz erfolgen muss.“

Da gibt es also Manche im Dienst des Weltgeistes, die andere – zu deren Vorteil natürlich – nötigen müssen, ihren Besitz kostenlos an die Gentry abzugeben, damit die ermuntert werde, aus dem brachen Land etwas Sinnvolles zu kreieren. „Eine solche Entwicklung geht oft mit einer Modernisierung der agrarwirtschaftlichen Verhältnisse einher, die gegebenenfalls von einer Umschichtung der Besitzverhältnisse begleitet wird.“

Von einer Umschichtung der Besitzverhältnisse kann man auch beim gegenwärtigen Landraub in Afrika reden. Das Ganze dient der besseren Nutzung des Geländes und zur Erhöhung der Lebensmittelerträge, um hungerleidende Opfer des Fortschritts – in Afrika zu ernähren.

Womit wir wieder einen hinterfotzigen Kreis geschlossen hätten. Auch Zocken mit Lebensmittel-Termingeschäften dient lediglich der intelligenten Allokation der Ressourcen, damit die Pauperisierung der Landbevölkerung dem nächsthöheren Urbanisierungsprozess zugeführt werden kann. Capisco?

Der ungarische Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi schrieb über diese „Einhegungspolitik der Allmende“ einen kritischen Klassiker mit dem Titel: The Great Transformation. Es geht um die Große Umwandlung von einer traditionellen in eine kapitalistische Gesellschaft.

Die Bauern wurden von ihrem Grund und Boden vertrieben, damit die Adligen riesige Schafherden ansiedeln konnten, um die frühkapitalistische Textilindustrie mit Wolle zu versorgen. England überschwemmte ganz Europa mit billigen Textilien und entwickelte sich zum führenden Industrieland Europas. „Der allgegenwärtige Hunger und Mangel trieben die ehemaligen Kleinbauern und Landarbeiter in die Fabriken.“

Das war der Beginn des freien Arbeitsmarktes. Am Anfang war nicht das Wort, sondern das Elend der Kleinen und Schwachen. Frei war der Arbeitsmarkt, weil die Arbeiter sich im ganzen Land frei entscheiden konnten, wo sie für Hungerlöhne krepieren konnten.

Das Buch schrieb Polanyi 1944, schon damals wies er auf die „Parallelen zur Marktdurchsetzung bei Kolonialvölkern hin.“ Die Völker sind meist zu dumm, um die Vorteile des Marktes zu verstehen, also muss man sie zu ihrem Glück ein klein wenig zwingen. Doch nur als notwendige Geburtswehen einer neuen herrlichen Zeit. Denn anschließend sind sie sofort wieder frei, um sich zu entscheiden, wo sie am effektivsten ausgebeutet werden dürfen.

An jenem bedeutsamen Punkt der geschichtlichen Entwicklung verwandelten sich Grund, Boden und Arbeit in – ordinäre Ware. Ware entsteht, wenn man das Wahre ausbeint und verstümmelt. Diese Verwandlung ist überaus sinnvoll, denn Ware ist unendlich austauschbar und in alles konvertierbar. Quantität gegen Quantität.

Alles erhält einen Wert und ist käuflich und verkäuflich. Was einen quantitativen Wert erhält, an dem ist jeder Wert verloren. Echte Werte sind unverkäuflich. Was zum Tauschwert geworden ist, das hat „alle sinnlichen Beschaffenheiten“ verloren, wie Marx sagte. Nicht nur alle sinnlichen, sondern alle unvergleichlichen, also individuellen Eigenschaften. Was zum quantitativ vergleichbaren Wert degradiert wurde, hat jeden moralischen Wert verloren.

Wenn Arbeit zur Ware wird, hat der Arbeiter den Vorteil, seine Arbeitskraft mit Haut und Haaren dem bestbietenden Ausbeuter anzubieten. Er verkauft sein Leben und erhält einen Lohn, von dem er nicht leben kann. Arbeiter und Lohnabhängige – die Mehrheit der Gesellschaft – müssen Leib und Seele verkaufen, um sich über Wasser zu halten. Huren nur ihren Leib.

Die Verwandlung des Arbeiters in einen Tauschwert hat den Vorteil, dass der übermütige Gesell nicht mehr so viel Nachwuchs heckt, den er gar nicht ernähren kann. Bei Demokratien hat die Nachwuchsrationierung den Vorteil für die oberen Stände, dass sie von der rohen Masse per Mehrheitsentscheidung nicht übers Ohr gehauen werden können.

Die Freien und Starken mussten immer die trägen Zukunftsverweigerer zu ihrem Glück zwingen, damit sie selbst der Freiheit unbegrenzten Moneymachens nicht verlustig gingen. Erst muss man die Massen vom hohen Glück überzeugen, ihre Freiheit in Ware getauscht zu haben, damit sie der Freiheit der Warenbesitzer nicht länger im Wege stehen.

Polanyi kritisierte diese Entwicklung. Sie zerstöre das Wesen der Gesellschaft und sei eine existentielle Bedrohung für alle Bürger. Am Schluss seines Buches plädierte der Ex-Ungar sogar für Sozialismus, der den Markt demokratisch kontrollieren und Arbeit, Boden grundsätzlich dem Markt entziehen sollte.

Kein Wunder, dass sein Buch unterging. Sozialistische Freiheitsbeschränkungen können wir heute nicht mehr brauchen. Der Sozialismus ist zu Recht untergegangen, die Geschichte hat ihn gewogen und zu leicht empfunden.

Wie sieht Freiheit heute in den USA aus? „Man hat eine Menge Optionen und muss nur die richtigen Entscheidungen treffen, um die Voraussetzungen zu haben, es zu etwas zu bringen.“ Wer jetzt herumjammere und weniger Chancen hätte, erfolgreich zu sein, würde den kleinen Fehler begehen, die falschen Hochschulen auszuwählen oder verrückte geisteswissenschaftliche Fächer wie Philosophie oder Ägyptologie zu studieren. Mit Sokrates könne man heute keine müde Mark machen.

Verdammt, das stimmt. Dieser lausige Faulenzer lief sogar im Winter ohne Schuhe herum. Das macht sich heute nicht mehr gut bei Bewerbungen.

„Natürlich ist es heute schwerer für Leute mit weniger Talent oder einer schwächeren Arbeitsmoral, einen guten Lebensstandard zu erreichen.“ Womit klar bewiesen, nur wer ohne nennenswerte Talente ist und nicht hart arbeiten will, studiert Geisteswissenschaften.

Wahre Kerle bevorzugen den praktischen Materialismus. Womit Marx mitten im Kapitalismus unverhofft Recht bekommen hätte: Mein und Dein bestimmen das Bewusstsein.