Kategorien
Tagesmail

Samstag, 02. Juni 2012 – Abenteurer der Erde

Hello, Freunde Irlands,

„fast schon wie Schafe“, hätten die Iren dem Fiskalpakt zugestimmt, meint Ralf Sotschek in den TAZ über die Iren. Der Fiskalpakt sei ein neoliberales Projekt made in Germany, dazu bestimmt, den Sozialstaat zu demontieren und die Arbeitslosenzahlen auf einem „natürlichen Niveau“ zu halten, um die Löhne zu drücken und die Gewerkschaften zu entmachten.

Die Zeche der Finanzkrise zahlten die unteren Einkommensschichten und die Arbeitslosen. Der Fiskalpakt ist ein Sparprogramm. Übertragen wir‘s in die Medizin, bedeutet es Gesunden durch Abspecken.

Wenn das Abspecken in Magersucht übergeht und der Patient vor Kraftlosigkeit nicht mehr aus dem Krankenbett kommt, hören wir Merkel im Arztkittel sagen: prima gemacht, Europa. Jetzt müssen wir nur noch die Hälfte des Blutes abzapfen, zwei Beine amputieren, dann sind wir wieder pumperlgesund.

Warum legen die Neoliberalen so viel Wert auf Erhaltung der „strukturellen oder natürlichen“ Arbeitslosigkeit? Die Wirtschaft ist Teil des evolutionären Prozesses, der sich ständig wandelt. Wandel bedeutet Unruhe und Unsicherheit, erfordert erhöhte Biegsamkeit, um sich ständig neuen Maschinen, industriellen Verlagerungen und Produktveränderungen anzupassen.

Die Menschheit muss ununterbrochen dazulernen, wendig und bereit sein,

ihr Häuschen in Südbaden aufzugeben und nach Kanada auszuwandern, um dort einen neuen Arbeitsplatz anzutreten, weil Schlecker im Dorf schließen musste. Diesen Forderungen kommen viele nach, aber nicht alle.

Ein Bodensatz vierschrötiger, bocksbeiniger und heimatfixierter „Modernitätsverlierer“ weigert sich, den Erpressungen der Arbeitgeber zu folgen. Lieber darben sie zu Hause bei Hartz4 als in Kanada Millionär zu werden. Das sind diejenigen, die die Reibungskosten der fortwährenden fruchtbaren Zerstörung durch Trotz und Unfähigkeit zahlen müssen.

Doch selbst wenn die gesamte Bevölkerung in der Lage wäre, sich den Unterwerfungsbedingungen der Evolution – so nennt man alle Arbeitgeber und Plusmacher zusammen – zu unterwerfen, würden letztere größten Wert darauf legen, dass nicht alle Malocher einen Arbeitsplatz bekämen. Wenn alle eine Stelle hätten, gäbe es keine arbeitslosen Massen vor den Fabriktoren, die man gegeneinander ausspielen kann.

Je weniger Arbeitsplätze es im Angebot bei übergroßer Nachfrage gibt, umso besser kann man die Löhne und Gehälter drücken. Mit dem kleinen Hinweis: da draußen gibt es viele, die froh wären, wenn sie überhaupt einen Job bekämen.

Die Iren waren die einzigen, die in Europa abstimmen durften. Emotional waren sie dagegen, weich gekocht und apathisch haben sie in den Kugelfisch gebissen.

 

Sie kennen den Kugelfisch nicht? Das ist Japans beliebteste Fischdelikatesse. Verschiedene Teile sind außerordentlich giftig. Die Köche, die ihn zubereiten dürfen, müssen jahrelange Erfahrungen nachweisen. Zwar passiert selten ein Unglück, doch das Seltene geschieht regelmäßig.

Der Kitzel des Kugelfischverzehrs besteht in der Ungewissheit, ob man nach dem Essen lebend davonkommt. Messners Bergkraxeln oder Bungeejumping sind im Vergleich zum Event mit dem putzigen Fisch ein Flanieren im Stadtpark.

Man könnte sagen, der ganze Kurs der Menschheit ähnelt dem riskanten Umgang mit einem Kugelfisch. Ein Leben ohne Risiko ist nicht lebenswert. Nicht mit irgendeinem Risiko, es muss schon um Sein oder Nichtsein gehen.

Mit Botox desgleichen. Botox ist eines der gefährlichsten Nervengifte, die in der Natur vorkommen. Mit winzigen Verdünnungen kann man die erlebten und erlittenen Erfahrungen aus dem Gesicht tilgen. Das neue Gesicht ist runzelfrei und wie eine Tabula rasa. Die getilgte Vergangenheit darf unbelastet nach vorne schauen. Neuanfang oder Tod.

Alle erfahrungslosen Gesichter ähneln sich wie ein Ei dem andern und haben sich wendig evolutionären Herausforderungen angepasst. Kein Ballast nach hinten, kein Festhalten biografischer Identitäten. Jugendlich wirkende Glätte und Unberührtheit tilgen jede Erfahrung.

Risiko ist Herausfordern des Todes, dem man gekonnt von der Schippe springt. Leben ist Surfen zwischen Sein und Nichtsein.

 

Erfinder des inneren Botox, der Glättung und Straffung der Innerlichkeit, ist der englische Philosoph John Locke. Er wollte die Erfahrungen der Menschheit tilgen, indem er das Gehirn zur Tabula rasa erklärte: ohne ererbte Hypotheken beginnt der Mensch immer von vorne.

Locke reagierte auf Descartes, den Begründer der neuzeitlichen Philosophie, der auch ganz von vorne beginnen wollte, indem er alles bezweifelte. Nicht um des Zweifels willen, sondern um das Gelände von Geröll und Sand zu befreien, auf dem er das solide Haus des soliden methodischen Wissens erbauen wollte. Ein unerschütterliches Fundament, ein fundamentum inconcussum.

Jesu Wort war bei ihm hängen geblieben, dass nur ein törichter Mann sein Haus auf Sand erbaut: „Und die Platzregen fielen und die Wasserströme kamen und die Winde wehten und stiessen an jenes Haus, und es fiel ein, und sein Fall war groß.“

Dem Franzosen ging es nicht um ein Haus des Glaubens, sondern im Gegenteil, um ein Haus evidenten Wissens. Glauben wurde privates Fürwahrhalten und dem Bereich der Wissenschaften entzogen. Der neue Weg in die Neuzeit wurde das überprüfbare Wissen.

Für Descartes war das Gehirn des Menschen nicht leer, er hatte eingeborene Ideen, die allerdings nicht biografisch gefärbt, sondern bei allen Menschen gleich waren. Es waren mathematische und logische Grundsätze, die von niemandem bezweifelt werden konnten.

Wogegen Descartes und Locke gemeinsam kämpften, war die Prägung des Menschen durch Offenbarung und Glauben. Weg mit dem theologischen Müll der Jahrhunderte aus den Köpfen der Menschen. Weg mit angeborener Erbsünde, weg mit angeblichem Wissen über Jenseitiges. Kein Stein durfte auf dem andern bleiben, ohne gründlich gesäubert und auf Tragfestigkeit überprüft zu werden.

Die von oben verordneten Himmelswahrheiten, den Menschen mit Lohnverheißungen und höllischen Strafen in die Seele gebrannt, hatten alles irdische Erkennen und Erfahrungensammeln mit Brachialgewalt verhindert. Obwohl Locke und Descartes in gewisser Hinsicht immer noch gläubige Christen waren, dachten und handelten sie, als ob es keine Offenbarung gäbe. Und wenn, dann nur fürs private Kämmerlein – oder zur politischen Regulierung untertäniger Massen.

Das war die Zweideutigkeit der Glaubenskritiker von Anfang an. Auch bei Hobbes, einem energischen Gegner des jenseitigen Eiapopeia, sollte Religion zur Lenkung des aufsässigen Pöbels immer unerlässlich sein.

Das gilt heute noch und erklärt die Halbherzigkeiten so genannter Atheisten oder bedenkenloser Machiavellisten, die im Namen der Wissenschaft den Menschen das autonome Selbst austreiben wollen. Mitten in der ersten halbwegs funktionierenden Demokratie der deutschen Geschichte trompeten diese Laborbubis, die Menschen sollten sich den freien Willen aus dem Kopf schlagen.

Gibt es Demokratie ohne freien Willen? Wenn alle Menschen 100%ig determiniert wären, könnten wir uns alle Wissenschaften, Bibliotheken und Debatten ersparen. Argumentieren und Überzeugen wären sinnloses Energieverschwenden.

Bei freiem Willen denken sie noch an die Absurditäten eines Augustin, der alles vom Willen Gottes und seiner Prädeterminierung abhängig machte – gleichzeitig am freien Willen des Individuums festhielt, um die Menschen für ihre Wahl des Glaubens oder Unglaubens zur Verantwortung zu ziehen. Gott, dem Allesbestimmer, durfte keine Schuld zugesprochen werden. An allem musste der Mensch schuldig sein.

Wenn Gehirnforscher den freien Willen in den Staub treten, haben sie die Definition des mittelalterlichen Voluntarismus im Kopf, der jenseits aller Natur- und Vernunftgesetze nach Belieben herumagieren kann.

Es gibt keinen freien Willen des Menschen, der unabhängig von seinen Erfahrungen und seinen körperlichen Gesetzen wäre. Kein Mensch steht beliebig über Physik und Chemie seines Leibes, über den Prägungen seines Milieus. Das bedeutet nicht, dass wir Marionetten unserer Umgebung wären. Sonst wären Mündigkeit und Vernunft illusionäre Begriffe.

Allein die Versuchsanordnung der Gehirnforscher, im messbaren Bereich des Gehirns etwas Unmessbares zu finden, zeigt die Problemvergessenheit der Naturwissenschaftler, die die gesamte Philosophiegeschichte ignorieren, nur um marktschreiend zu tun, als hätten sie das Ei des Kolumbus gefunden.

Der Mensch besteht aus nachweisbaren Naturgesetzen und der Freiheit der Natur, die nicht nachweisbar ist, sondern gelebt und empfunden werden will. Nach Kant war Freiheit nicht beweisbar. Mit welchen Elektroden wollen sie das Denken des kategorischen Imperativs abgreifen? Mit welchen Strommessungen wollen sie die Qualität der Apologie nachweisen?

Der Geist wäre keiner, wenn er sich von Gehirnmaschinisten beim Wirken zusehen und ertappen ließe. Dass alles Geistige eine körperliche Seite zeigt, heißt nicht, dass er sich in Körperlichem erschöpft. Natur ist mehr als vollständige Bestimmtheit, selbst im Bereich der Quanten herrscht keine absolute Berechenbarkeit.

Natur braucht keinen geistigen Schöpfer, um Geistiges hervorzubringen, das mit ihren Freiheitspotentialen spielen kann. Sie besteht aus Materie. Das „Mütterliche“ aber ist geistig, kein Widerpart freien Denkens. Wenn wir keine Freiheit haben, können wir keine Erfahrungen sammeln und keine Erkenntnisse machen. Maschinen brauchen kein Gehirn, sie brauchen Knöpfe.

Locke verwies den erkennenden Menschen an die Erde. Wer etwas lernen will über sich und Natur, muss die Natur zur Kenntnis nehmen. Sein Blick ist nicht ins Jenseits gerichtet, sondern auf alles, was ihn hienieden umgibt. Worüber sollten wir streiten, wenn alles bei uns festgelegt wäre?

Keine Maschine versucht eine andere zu überzeugen. Maschinen stimmen nicht ab, zeigen keine Gefühle, können kaputt gehen, aber nicht scheitern. Maschinen haben keinen Abstand zu sich, können sich nicht empfinden und sich kritisch überdenken. Sie haben keine Kriterien, anhand derer sie den Bestand ihres einprogrammierten Verhaltens in freier Invention verändern könnten.

Für Platon war Erkennen Wiedererinnern. Das war kein Gang ins Innere und eine Absage an die Natur. Denn der Mensch selbst war Natur, der alles Wissenswerte in sich hatte. Indem er in sich abtauchte, tauchte er in die Natur. Erkennend vereinigte er sich mit den innersten Ideen der Natur.

Platon war kein Dualist. Er war begeisterter Mathematiker und beobachtete die Sternenwelt, die er für vollkommen hielt. Aristoteles sammelte unendlich viele Einzelinformationen aus der Natur, was kein Gegensatz zum platonischen Hang zum Zeitlosen sein muss, wie viele behaupten. Auch seine Erkenntnisse hielt er für Abdrücke eines unvergänglichen Kosmos.

Der Unterschied zwischen griechischem und neuzeitlichem Erkennen lag weniger in verschiedenen Methoden, sondern in völlig anderen Zwecksetzungen. Wozu erkennt der Grieche? Sein Denken entsteht im Staunen und endet in Staunen. Er will teilhaben an der Vollkommenheit dessen, was er sieht.

Der moderne Mensch beginnt im Zweifeln und endet im Herrschen. Natur ist etwas, was beherrscht und verbessert werden muss. Sie ist minderwertig. Erkennend muss die Krone des Seins sie auf ihre Höhe ziehen. Theorie war für Griechen Selbstzweck. Bei Descartes sollte sie der Praxis dienen:

„Es ist möglich, an Stelle jener spekulativen Philosophie, wie man sie in den Schulen lehrt, eine praktische zu finden, die uns die Kraft und Wirkungen des Feuers, Wassers, der Luft, der Gestirne, des Himmelsgewölbes und aller übrigen Körper, die uns umgeben so genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Tätigkeiten unserer Handwerker kennen, so dass wir sie in derselben Weise zu allen Zwecken, wozu sie geeignet sind, verwenden und uns auf diese Weise gleichsam zu Meistern und Besitzern der Natur machen können.“

In der Moderne wird Erkennen zum Instrument erniedrigt. Zum Diener des Herrschens. Ich denke, also bin ich, herrsche ich, besitze ich und mache mich zum unumschränkten maitre de la nature. Das also (ergo) ist ein also der Macht. Indem ich denke, herrscht mein Denken über das Gedachte.

Bei den Griechen undenkbar. Sie hätten sagen können: ich denke, also schaue ich das Gedachte, das mich unendlich überragt und von dem ich ein Teil bin.

Das moderne Erkennen ist ein bis an die Zähne bewaffnetes Erkennen. Seine Erkundungssonden penetrieren die Natur, um sie von innen zur Detonation zu bringen. Für Griechen, Indianer und Naturreligionen wäre das Muttermord. Die Ursünde des Menschen ist nicht der Wunsch, mit der Mutter zu schlafen, sondern sie zu erkennen, um sie zu vernichten.

Der Kitzel der modernen Kultur ist die Frage: inwieweit kann ich Natur vernichten, ohne selbst hopps zu gehen? Und selbst wenn ich draufginge, der Spaß des Ausprobierens, des Pendelns zwischen Sein und Nichtsein hätte sich gelohnt.

In Hamlet wird die Frage nach Sein oder Nichtsein gestellt. Sie ist noch nicht auf die Gesamtheit der Natur gerichtet, nur auf das eigene Selbst. Soll ich die Übel der Welt ertragen oder soll ich mir den Lebensfaden abschneiden, um in eine andere, eine bessere Realität hinüberzugehen? Wenn ich wüsste, dass ich in ein leidloses Land käme, ich würde sofort Hand an mich legen. Allein ich weiß es nicht. Vielleicht wird es sogar schlimmer.

Nicht die Angst vor dem Tod lässt mich zurückschrecken, sondern meine Unkenntnis über die andere Welt (“die Furcht vor etwas nach dem Tod“). Vielleicht ist es besser, hier auszuharren und vorlieb zu nehmen: „Dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen als zu den unbekannten fliehen.“

Das Jenseits ist kein Ort mehr des unbeirrbaren und tröstlichen Glaubens. War in frömmeren Zeiten der Wunsch übermächtig, das Jammertal zu verlassen und nach drüben zu wandern, haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Lieber das bekannte Jammertal ertragen als der trügerischen Illusion eines jenseitigen Paradieses erliegen.

Heute hat sich die Frage nach Sein oder Nichtsein auf Natur und Menschheit ausgedehnt. Im Risikoverhalten der Gegenwart gehe ich an die Grenze zwischen Sein und Nichtsein. Ich setze alles aufs Spiel, gefährde alles, um die Belastbarkeit des Seins zu prüfen und es im wagemutigen Spiel dem Nichtsein anzubieten.

Im letzten Moment schrecke ich zurück, weil ich dem unbekannten Nichtsein nicht traue. Der Glaube der Moderne ist stark genug, um die Natur vernichten und ins Jenseits gehen zu wollen. Er ist nicht mehr stark genug, sein Vorhaben rigoros durchzuführen und sich in einer bewusst herbeigeführten Apokalypse zu vernichten. Deshalb isst er den Kugelfisch und lässt sich gleichzeitig das Zertifikat des Kochs zeigen.

So surfen wir auf den Wogen der Heilsgeschichte. Wollen todesmutig einen Blick nach Drüben riskieren – und sind froh, wieder lebend davonzukommen.

Wir vernichten die Natur, immer neugierig, was die alte Dame noch aushält, berechnen ihr Verfallsdatum – und beschließen auf der nächsten Ökokonferenz ihre Rettung in letzter Sekunde.

Wir gehen an unsere Grenzen, überschreiten die Grenzen, erfreut, dass die überschrittenen Grenzen noch nicht die endgültigen Grenzen waren.

Aus Bewohnern der Erde haben wir uns zu Abenteurern der Erde gemacht.