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Natur brüllt! XCVII

Tagesmail vom 15.07.2024

Natur brüllt! XCVII,

Zum wahren Erlöser gehört die Fähigkeit, das bislang geltende Heilige zu destruieren – dafür mit dem Tode zu büßen, um dann in größerem Glanz wiederaufzuerstehen.

Das mit dem Sterben hat bei Trump noch nicht ganz geklappt. Das muss er erst noch üben.

Entschuldige, Genosse Donald, für den Vergleich unter deiner Würde. Deine wahre Zeit, in der du die Welt in Ordnung bringen wirst, steht dir noch bevor.

Deine Anhänger jedenfalls jubeln. Wie man schon vor der Wahl seinen Rivalen vom Tisch wischt: das muss dir erst mal jemand nachmachen.

„Und sie erstaunten über seine rechte Faust, die er nach dem Schuss gereckt hatte, denn seine Rede war voll Gewalt“. (Eigene Übersetzung)

Du trittst nicht auf als Heiliger, ohne Sünd und Tadel.

„Du weißt: das Böse ist notwendig, auf dass sittliche Kraft sich zeige. Da kann sich keine Kraft entfalten, wo keine Wahl ist, und der Mensch ist doch frei geschaffen, damit er wähle.“ (Hatch, Griechentum und Christentum)

In Amerika sehen wir den Endkampf zwischen guten Demokraten und bösen Christen, die aber die guten Demokraten überwinden werden – um aller Welt die Gnade des Herrn zu beweisen.

Die Guten verlassen sich auf die Qualität ihrer Tugend, die Bösen auf die Gnade ihres Herrn:

„Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder zur Busse.“ „Ich sage euch: So wird im Himmel mehr Freude sein über einen Sünder, der Busse tut, als über 99 Gerechte, die der Busse nicht bedürfen.“

Die Juden hatten den Fehler begangen, keines Erlösers bedürftig zu sein. Sie waren selbst rundum gut – wenn sie sich angestrengt hatten, ihre Gesetze und Vorschriften getreu zu erfüllen.

Christus aber suchte sündige Menschen, die ihn brauchten, um sie zu erlösen – vorausgesetzt, sie hatten Buße getan.

Die moderne Aversion gegen Moralisten ist – genau genommen – ein Relikt gegen perfekte Juden in der Antike und somit ein wesentlicher Bestandteil des Antisemitismus.

Doch wie erklären wir uns, dass sich ausgerechnet diese archaischen Judenhasser heute als moderne Judenfreunde aufspielen?

Allein dieses Verwirrspiel, das sich unerkannt in den heutigen Zeitgeistwogen tummelt, zeigt die Ursachen der modernen Gesamtkrise.

Denn jeder ist stolz auf seine Tradition. Der eine auf das Alte Testament, der andere auf das Neue, der dritte auf die autonome Ethik der Griechen, eingepackt in verschiedene Philosophien.

Diese Klüfte vertiefen sich noch dadurch, dass Europa eine wesentlich hellenistischere – und damit demokratischere – Politethik für sich gewählt hat als die einst prächtige amerikanische Demokratie, die Europa von seinen Blutsünden gerettet hat.

Inzwischen ist vieles im Verfall. War Demokratie für die eingewanderten angelsächsischen „Sekten“ eine wahre Ergänzung ihres Glaubens – sie waren biedere Handwerker und keine gelehrten Althistoriker –, so hatte sich in der Nachkriegszeit das Bewusstsein über die Unverträglichkeit zwischen Athen und Jerusalem verschärft.

Europa hatte sich in der Aufklärung wesentlich mehr von der Heiligen Schrift gelöst als die amerikanischen Ursiedler. Als nach dem Zweiten Weltkrieg sich der neue und uralte Gedanke des Universalismus breit machte, die Gesetze der allgemeinen Menschen- und Völkerrechte für alle Nationen galten, hielten die Frommen erst noch still, denn sie bildeten sich ein, ihre heilige Moral sei selbst universalistisch.

Wer der ganzen Welt plakativ das Heil verkündet, will noch lange nicht, dass diese vollständig errettet werde. Die einen sollen selig werden, die anderen verlorengehen.

Der gelegentlich universalistisch scheinende Anspruch des Herrn entpuppt sich, näher besehen, als dualistischer Partikularismus, welcher zwischen Auserwählten und Verworfenen absolut unterscheidet.

Das war ein Kompromiss der Frommen mit den Hellenen, um deren Universalismus mit ihrem Auserwähltheitsglauben zu versöhnen. Doch der Versuch misslang: entweder bringt der Erlöser Heil für alle oder er unterscheidet zwischen Erlösten und Verworfenen.

Im Verlauf der abendländischen Entwicklung kam es zu einem unablässigen Annäherungs- und Abstoßungsspiel zwischen heidnischer Autonomie-Aktivität und demütiger Offenbarungs-Passivität.

Heute kennen die Intellektuellen nur noch oberflächlich die ungekürzten Worte der Schrift. Gewiss, sie haben ihre Lieblingsstellen, mit denen sie glauben, nachweisen zu können, dass beide Quellen im Grunde nur das Gute und Friedliche in der Welt wollen.

Kommt noch hinzu, dass Kenntnisse über die Griechen immer mangelhafter werden, die Worte der Prediger aber noch immer in allen Medien herumgereicht werden. So ist es verständlich, dass heidnisches Selbstbewusstsein und christliche Unterwürfigkeit sich immer mehr miteinander vermischen.

Ein „normaler“ Demokrat versteht sich heute problemlos als stolzer Athener wie als demütiger Christ.

Die Gegenwart ist nicht mehr gebildet genug, um in diesem Chaos durchzublicken. Das Vorrecht der Bildung ist längst der ignoranten Habgier der Wirtschaftskapitäne gewichen.

Ökonomen wissen nichts über die Welt – außer über Zins, Zinseszins und Investitionskredite. Über alles andere schauen sie hochmütig hinweg. Experten können sie sich kaufen, wenn sie welche nötig haben. Zur Qualitätsgestaltung des Lebens braucht man sie nicht.

Nehmen wir die Frage: Woher kommt das Geld? Diese Frage wird immer dann gestellt, wenn über die „Schuldenbremse“ debattiert wird. Kann sich der Staat immer mehr Schulden erlauben, um seine Armen zu unterstützen?

Natürlich nicht, ist die Standardantwort der Neoliberalen. Wenn aber die Wirtschaft in den Keller rutscht, kann auch der Finanzminister nicht mehr genug Geld in der Welt auftreiben, um die BASF zu unterstützen.

Reiche dürfen immer reicher werden, die Armen müssen immer mehr an den Rand der Gesellschaft abrutschen?

Das Argument der Ökonomie lautet stets: uns braucht man lebensnotwendig. Die Armen aber liegen den öffentlichen Kassen nur auf der Tasche.

Ein anderes Argument, um die Schuldenbremse für überflüssig zu erklären, lautet grundsätzlicher:

Geld ist Schöpfung aus Nichts. Das klingt theologisch. Ist Ökonomie eine Unterabteilung der Offenbarung?

Wenn Geld eine Schöpfung aus Nichts und ergo beliebig vermehrbar ist – wo läge dann die Notwendigkeit einer Schuldenbremse? Bleibt also zuhause mit eurer schwäbischen Hausfrau, die penibel aufpasst, was ihr Geldbeutel erlaubt und was nicht.

Was machen wir mit zwei Schöpfungen aus dem Nichts? Die Schöpfung der Natur und die Schöpfung des Geldes – passen die zwei zueinander?

Naturwissenschaftler würden sagen: es gibt weder eine Schöpfung, noch ein Nichts. Auch Natur musste nicht erschaffen werden, denn sie ist von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Von Geld wollen wir erst gar nicht reden. Wie lange lebten die Völker mit der Natur zusammen, ohne jedwedes Geld auf dem Bankkonto?

Geld ist nur ein Mittel, um Kultur- und Naturprodukte zu tauschen. Qualität tauscht sie in Quantität, um den Tauschverkehr zwischen denen, die haben und jenen, die brauchen, zu ermöglichen.

Geld an sich ist absolut wertlos, nur wenn es eingetauscht werden kann in Nützliches oder Verführerisches, wird es notwendig.

Und das soll eine Schöpfung aus Nichts sein?

Und wie sollen diese beiden Schöpfungen miteinander zusammenhängen? Wird Schöpfung Nr. Zwo eines unbestimmten Tages die Schöpfung Nr. drei überflüssig machen? Kommt endlich eine Schöpfung Nr. 4 hinzu, die als KI-Schöpfung alles Bisherige verspeisen wird, um eine universelle Gesamtschöpfung zustande zu bringen?

Müssen wir nicht langsam unserem Verdacht nachgeben und die Vermutung äußern: ist Ökonomie überhaupt eine in sich schlüssige, logisch-zusammenhängende Wissenschaft – oder nur eine übermäßig komplizierte Stoppel- und Klebearbeit vieler Jahrhunderte, zu keinem anderen Zweck, als die systematischen Löcher zu kleben, um den trügerischen Anschein der Ratio zu erwecken?

Wer Interpretationen von Adam Smith liest, muss zu seinem Erstaunen erfahren, dass Smith sowohl ein feinfühliger Moralist war wie ein moderner Begründer der Wirtschaft als Maschinengewerbe, das keinerlei Moral benötigt, um Heil und Segen über die Menschheit zu bringen?

Jedes Argument ist erlaubt, das eine schwache Stelle der Ökonomen schnell übertünchen kann. Wer aber die Argumente insgesamt zusammenbringen will, um eine rationale Einheit herzustellen, der guckt in die Luft.

Kann es sein, dass die ach so stolze Wirtschaftswissenschaft nur eine mühsam verklebte Bruchbudentechnik ist, die nur ahnt, wann der nächste Gesamtzusammenbruch stattfinden wird? Aber keinerlei Garantien über die Festigkeit ihrer Behauptungen bieten kann?

Es muss ja Gründe haben, warum Ökonomiestudenten in ihrem Studium nichts erfahren über die vielen Philosophien, die hinter ihren riesigen Zahlenketten zusammengenagelt sind.

Hier ein bisschen Aristoteles, dort ein bisschen Thomas von Aquin, dann Hobbes oder Kant, nein Kant bestimmt nicht. Letztlich wird alles zur Hegelei: was wirklich ist, ist vernünftig, was vernünftig, wirklich. Es kann gar keine Unvernunft unter dem Regiment des Weltgeistes geben!

Welche Finanzkatastrophe wurde vorhergesehen – damit die Verantwortlichen die Bevölkerungen warnen konnten? Immer wieder ereignen sich außerordentliche Geldzusammenbrüche und niemand schreit Vorsicht!

Blind laufen die Völker hinter den Prognosen ihrer Blindenführer her. Und immer wieder sind sie erstaunt, wenn die gleichen Katastrophen die globale Wirtschaft schädigen.

Vorsicht: diese Zusammenbrüche sind keine Popper’schen Falsifikationen mit dem Resultat: jetzt müssen wir uns zusammenrappeln, um unsere Fehler wahrhaftig auszurotten. Nein, der Glaube an das unverwüstliche Geld und die Vorteile des Fortschritts scheinen unausrottbar.

Welcher Geist hat demnach die Oberherrschaft über die tolle abendländische Entwicklung übernommen? Der rationale Geist der Griechen oder der blinde Glaubensgeist der Erlöser?

In Amerika wütet zunehmend der apokalyptische Geist der Gläubigen, die davon überzeugt sind, dass der Herr schon vor der Türe steht.

In Europa gibt’s keinen eschatologischen Glauben mehr an das nahende Ende der Welt. Erstaunt verfolgen die Europäer die gefährlichen Spielereien der Gewaltigen, aber ohne jedes Verständnis für den heilsgeschichtlichen Glauben der Akteure.

Inzwischen kommt die Dritte Welt hinzu, die bislang abgehängt war, aber jetzt immer mächtiger wird. Die kennen keine eschatologischen Märchengeschichten. Welchem Ziel streben sie zu?

Die Deutschen ruhen auf jeden Fall im Schoß der Weltvernunft. Was auch immer sie tun und sei es auch der wirrste Müll-Kompromiss der Geschichte: sie sind felsenfest überzeugt von der Rationalität ihres Tuns.

Seht sie euch an, die Gesichter der Wirklichen und Vernünftigen: sie sollen fähig sein, sich im Gang des Objektiven Geistes zu irren? Da sei Gott vor!

Fortsetzung folgt.