Kategorien
Tagesmail

Natur brüllt! XCV

Tagesmail vom 08.07.2024

Natur brüllt! XCV,

Nein, wir sind noch nicht verloren.

England widersetzt sich dem Verhängnis.

Frankreich hat die Französische Revolution nicht ganz vergessen.

Es gibt noch andere Staaten, die sich dem angeblichen Zeitgeist in den Weg stellen.

Doch was macht Deutschland? Es hat Lust auf Urlaub.

Den Neugermanen gefällt es nicht, wo sie leben, wie sie leben und wohin ihre Reise gehen soll.

Treffen wir uns nächstes Jahr in der Südsee? Gibt es einen einzigen deutschen Film, in dem unsere Landsleute nicht zur Flucht aus dem trüben Germanien aufgefordert werden?

Schaut, ist das keine herrliche Aussicht? Dieser Blick aufs Meer? Diese himmlische Ruhe? Diese ewige Sonne – äh, was? Sonne sofort streichen, sie muss aus dem lüsternen Katalog des Fortschritts entfernt werden.

Die Sonne ist zum Symbol des höllischen Feuers verkommen.

Nicht bei Ullrich Fichtner, der den Fortschritt in himmlischem Licht strahlen sieht:

„Die künstliche Intelligenz ist eine Wundertüte, in der Forscher, Unternehmer und Konsumenten Antworten auf bislang unlösbare Fragen finden und sogar Antworten auf Fragen, die wir uns erst in Zukunft überhaupt stellen werden. Hoch spezialisierte Einzeldisziplinen erkennen, wie sie zusammenhängen und sich gegenseitig verstärken. Wer sich heute mit Wissenschaftlerinnen und Forschern unterhält, spürt eine Aufbruchstimmung, die zur gefühlten gesellschaftlichen Dauerdepression nicht passt. Es ist wirklich verrückt: Während Populisten allerorten den Diesel noch einmal anwerfen und zu nostalgischen Kaffeefahrten in ein nationales Gestern einladen, arbeitet eine höchst diverse wissenschaftliche Weltgemeinschaft an den zukünftigen Möglichkeiten der Menschheit. Die Folge wird, wenn nicht alles täuscht, eine multiple industrielle Revolution sein, in deren Verlauf sich auch das Selbstbild des Menschen verändern wird. Es gehört zur menschlichen Grundausstattung, Veränderungen zuerst als Gefahr für das Bestehende wahrzunehmen, und zwar ganz egal wie schlecht das Bestehende sein mag. Es werden besorgte Fragen nach Ethik und Moral gestellt.“ (SPIEGEL.de)

Das ist das Evangelium des Fortschritts, erzählt von seinem Propheten Ullrich.

„Die Kirchenväter entwickelten aus der jüdischen Prophetie und der christlichen Eschatologie eine Theologie der Geschichte, die sich an dem überhistorischen Geschehen von Schöpfung, Inkarnation, Gericht und Erlösung orientiert. Der moderne Mensch dachte sich eine Philosophie der Geschichte aus, indem er die theologischen Prinzipien im Sinne des Fortschritts säkularisierte und auf eine ständig wachsende Zahl von empirischen Kenntnissen anwendete. Für Karl Löwith steht fest, dass nicht die klassische Tradition, sondern die biblische Überlieferung den Ausblick in die Zukunft eröffnet hat als den Horizont einer künftigen Sinneserfüllung.“ (Rapp, Fortschritt)

Welch unfasslicher Fortschritt, die heidnische Antike abgewürgt zu haben. Damit hatte es das Abendland geschafft, die Fesseln des Wahren, Schönen und Guten abzustreifen – und dem Herold des Neuen, dem aus der Pfalz stammenden Trump, die Wege zu bereiten.

Bis zur Aufklärung war Athen das Vorbild der Europäer. Athen, die Urdemokratie, wurde zum Urbild des politischen Zusammenlebens:

„Alle Bewohner lebten mehr oder weniger unter den gleichen Bedingungen. Manche Bürger waren reich, aber sie bauten sich keine prächtigen Paläste. Es war ein öffentliches Ärgernis, als Alkibiades die Wände seines Hauses mit Gemälden schmückte. Athen war eine Demokratie und die Reichen scheuten sich, durch Prunk und Verschwendung aufzufallen. Der Marktplatz, die Pnyx, wo die Volksversammlung zusammentrat, die Gerichtshöfe und das Ratsgebäude waren die Orte, wo die Athener ihre Zeit verbrachten. Nirgendwo sonst gab es eine so vollkommene Freiheit der Gedanken und der Rede. In das private Leben und die Verrichtungen des Bürgers, in sein Denken und Reden mischte sie sich nicht ein, sondern ließ einen jeden so leben, wie er mochte.“ (Rostovtzeff, Geschichte der Alten Welt)

Dazu kam eine vollendete Kultur und eine blühende Wirtschaft. Welch ein Unsinn von Marx, den Griechen den Kapitalismus zu entwenden, der in Athen gezügelt war und unter Solon die Reichen ärmer und die Armen reicher gemacht hatte. Gerechtigkeit gehörte zu den Grund-Forderungen arbeitsamer, kreativer und ethisch hochstehender Bürger.

Wer begleitete die politischen Ereignisse in zeitnaher Reflexion mit durchschlagender Wirkung, die wir noch heute nachempfinden können? Tragödie, Komödie und die Satyre.

Gegenwärtig sind es die modernen Medien, die weder reflektieren noch eine klare Meinung, geschweige denn eine tiefsinnige Kritik zu bieten haben.

Moderne Medien wollen neutral und objektiv sein, ob aber Neutralität für Wahrheit bürgt, ist ihnen wurscht. Links und rechts pendeln sie am Zeitgeist entlang, erwecken den Eindruck, alles besser zu wissen, obwohl sie nicht im Geringsten imstande sind, ihre Besserwisserei zu beweisen.

In echten Demokratien gibt es keine neutral-unbeteiligten Wesen, in modernen allemal.

Medienberichterstattung von heute ist trostlos: „Eine Wahl kann die Gesellschaft tief spalten“. Ja, ist diese nicht schon seit Jahrhunderten bis auf die Knochen gespalten?

„Die Wahl kann zu neuen Richtungsentscheidungen führen“. Tja, sind Demokratien nicht dazu erschaffen worden, eine Polis gemäß der Meinung ihrer Bewohner in wahre Richtungen zu führen?

Sind kapitalistische Demokratien nicht von Geburt an gespaltene Klassengesellschaften? Gab es nicht schon immer Arme und Reiche, Mächtige und Gesindel?

Wie war es in Athen?

„An der Stimme eines Einzelnen konnte Leben und Tod der Höchsten und Besten seiner Mitbürger hängen. Jeder Einzelne hatte seine Stimme zu schwierigen politischen Fragen abzugeben – Fragen, die oft das Dasein des Staates betrafen. Eine jede Entscheidung rief Kritik und Spott, Hass und Bosheit hervor. Kein Bürger konnte seinem Anteil an der Verantwortung entgehen. Der Berufspolitiker war noch unbekannt. Was uns als Wahrheit erscheint und andere überzeugt, wird durch einen Vorgang logischer Besinnung zutage gefördert. Daher kommt es vor allem auf die Fähigkeit an, logisch zu denken und zu folgern, mit einem Wort, andere zu überzeugen.“

Bei uns ist logisches Denken unbekannt und schon gar nicht ein Mittel der Überzeugung. Wer andere überzeugen will, weil er glaubt, es besser zu wissen, bleibt ein eingebildeter Tölpel.

Sokrates hätte nicht die geringste Chance gehabt, zum philosophischen Mittelpunkt der Agora zu werden, geschweige zum wichtigsten Denker des Abendlands – wenn seine Überzeugungskraft nicht so mitreißend gewesen wäre.

„In der Tätigkeit des Sokrates lag etwas Aufreizendes und Herausforderndes. Es gab wenig Bürger, denen er nicht gezeigt hätte, wie wenig sie wussten, wie unzulänglich sie dachten und wie unbegründet ihre Ansichten waren.“

Bei uns gibt es Wettkampf und Konkurrenz in allen Dingen, besonders im Reich- und Mächtigwerden, aber niemals in demokratischer Klugheit und logischer Klarheit.

Da beschütze uns die Postmoderne, die die objektive Wahrheit ans Kreuz gehängt und die Logik im Marianengraben versenkt hat. Fichtner ist ein Anbeter des Fortschritts, doch wer es nicht ist, den bedauert er als trostlosen Dummkopf.

Er bewundert nicht die politische Mündigkeit des Einzelnen, sondern nur die Intelligenz der Maschinen und der Wissenschaft. Ob die Menschheit in der Lage ist, die Intelligenz ihrer Geschöpfe zu übernehmen, ist dem Propheten Ullrich gleichgültig.

Sollten die KI-Roboter noch so klug werden, dass sie den Menschen am Zügel hinter sich herschleifen – was soll’s?

Damit setzt Fichtner die mündige Demokratie aufs Spiel. Der autonome Mensch scheint ihm gleichgültig zu sein. Nur die Intelligenz seiner Maschinen betet er an.

Was Lewis Mumford schon vor vielen Jahren als Mythos Maschine präzise analysiert hat, wird von Ullrich Fichtner als Leiche aus dem Grab gehoben.

Fichtners Bewunderung einer allmächtigen Intelligenz lässt ihn die Verwüstung und Ausrottung des ganzen Planeten vollständig ignorieren. Die Maschine wird’s schon richten.

Während Mumford der Naturwissenschaft seit Galilei den Vorwurf machte, „ein riesiges Gebiet der realen Welt, aus dem Bereich der exakten Wissenschaften ausgeschlossen zu haben,“ bestätigt Fichtner die tödliche Ignoranz seiner Algorithmen: „Nur Kadaver und Skelette waren geeignete Kandidaten für wissenschaftliche Behandlung.“

Damit begingen die Naturwissenschaftler, deren Ruhm heutzutage grenzenlos ist, Fehler der umgekehrten Art wie die Kirchenväter, „die jedes Interesse an der natürlichen Welt unterdrückt hatten, um sich auf das Schicksal der menschlichen Seele in der Ewigkeit zu konzentrieren.“

Zweifellos hatten die neuen Naturwissenschaftler, besonders im Kampf gegen die Kirche, Geniales und Bewundernswertes geleistet. Doch im Trubel der Ereignisse übersahen sie, dass sie noch in hohem Maße von eben jenem Geist der Kirchenväter infiziert waren, die sie selbst bis aufs Messer bekämpft hatten.

„Galilei hat in aller Unschuld das historische Erstgeburtsrecht des Menschen aufgegeben: die der Erinnerung werte akkumulierte Kultur. Indem er die Subjektivität verwarf, exkommunizierte er das zentrale Subjekt der Geschichte, den mehrdimensionalen Menschen.“

Prophete Fichtner verachtet die doofen Menschen – außer den Maschinengenies, die nur ein Ziel zu haben scheinen: den Menschen abzuschaffen und an seine Stelle tote Maschinen zu stellen. Denn wenn niemand mehr da ist, die leblosen Geschöpfe des Menschen in Bewegung zu setzen, bleiben sie mausetot.

Bliebe dem gottgleichen Erschaffer nur übrig zu sagen:

Siehe, die Maschine ist worden wie unsereiner, dass er weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht seine Hand ausstrecke und auch vom Baum des Lebens breche und ewig lebe.

Genau dies tut er längst, um ewig zu leben. Längst ist der Mensch kein Geschöpf der Natur mehr, sondern ein gottgewordener Übermensch. Marquis de Sade und Friedrich Nietzsche sind die Paten des Fichtner’schen Fortschrittsgottes.

„Es gibt eine Religion des Bösen bei de Sade. Gott schafft und erhält die Welt durch das Böse. Im Bösen leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“

„Im „Gespräch zwischen einem Priester und einem Sterbenden“ schreibt de Sade: „Die Natur ist grausam, mörderisch, sie zerstört, tötet, es gibt keinen Gott.“ In der Kirche sieht de Sade eine Sekte, eine durch und durch unfromme Macht, die den Menschen schändet und vergewaltigt im Namen ihres Götzen, den sie „Gott“ nennt. Gegen den Gott-Götzen der Christen, gegen „Thron und Altar“, gegen die Tugend, wie sie von der Kanzel gepredigt wird, verkündet de Sade die totale Erhebung des Menschen. Sade denkt diese Erhebung zu Ende, bis zur totalen Erhebung des Menschen, zum totalen Verbrechen, zur totalitären Diktatur. Worin offenbart sich die höchste Potenz, die Vollmacht des Menschen? Im Verbrechen, im Morden, in der Unterwerfung anderer Menschen, in ihrer Verwendung anderer Menschen als „Material“.“

(Alle Zitate in Heer, Europa, Mutter der Revolutionen)

„Man muss also die religiösen Schimären durch den äußersten Terror ersetzen“. Wenn das niedere Volk die Furcht vor der zukünftigen Hölle verloren hat, muss es diese Hölle hier auf Erden fürchten.

Ein Jahr später, 1798, wird Malthus eine in wissenschaftlicher Form eingekleidete verwandte Doktrin im sogenannten „Sozialdarwinismus“ oder „Neudarwinismus“ entwickeln.

Dazu erklärte Nietzsche: „Die Schwachen und Kranken sollen zugrunde gehen.“ Das Christentum vertritt die Schwachen, ist also das übelste Laster!

„Es gibt nur ein Recht der Natur, das Recht des Stärkeren. Reue ist widervernünftig, Mitleid ist Sünde schlechthin.“

Auf dem Boden des Neudarwinismus wächst auch der Neoliberalismus. Nur die Besten und Tüchtigsten haben das Recht zu überleben. Darwin gehörte zu den Ideengebern Hayeks.

Bei Marquis de Sade ermordet ein Minister seinen Vater, schändet seine Tochter und ruft begeistert: „Ich habe Vatermorde begangen und Inzest, ich habe gemordet und prostituiert, ich habe Sodomie getrieben.“ Saint-Fond verrät seinen Plan, Frankreich zu verwüsten, er will zwei Drittel der Bevölkerung aushungern, indem er alle Lebensmittel aufkauft.

Fazit: „Die alten Männer und Mächte in Alteuropa sind Menschenfresser oder Kannibalisten.“ Gibt es irgendjemanden, der nicht auch an Trump denken müsste?

Hinzu kommt die Ächtung der Erinnerung. Fichtnerisch: „Sagt die Kaffeefahrten ins Gestern ab.“ Biblisch: „Gedenket nicht mehr der früheren Dinge und des Vergangenen achtet nicht.“

Biblisch zählt allein die Annäherung an das apokalyptische Ende, alles andere ist Tand.

Die heutigen Verehrer des Fortschritts sind – vielleicht wissen sie es nicht – unbewusste Vernichter der Menschheit. Nicht durch die eigene Hand, aber durch eigene perfekte Maschinen.

Was sie sich nicht zutrauen, trauen sie ihren superintelligenten Maschinen zu. Der Wiederholung dieser Epoche nähern wir uns wieder. Ethik wird sabotiert, Vernunft eliminiert.

Dann gibt es keine Begrenzungen mehr, um eine moralfreie und naturzerstörte Welt zu schaffen. Verehrer des Neuen, freut euch auf eure neue Schöpfung, auf die Schöpfung eurer Maschinen: sie werden widerstandslos euren Auftrag ausführen.

Fortsetzung folgt.