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Natur brüllt! LXXXIV

Tagesmail vom 31.05.2024

Natur brüllt! LXXXIV,

„Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner, indem er erkennt, was gut und böse ist; nun aber – daß er nur nicht seine Hand ausstrecke und auch vom Baum des Lebens nehme und esse und ewig lebe! 23 So schickte ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, damit er den Erdboden bearbeite, von dem er genommen war. 24 Und er vertrieb den Menschen und ließ östlich vom Garten Eden die Cherubim[7] lagern und die Flamme des blitzenden Schwertes, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen.“

Hier hat Gott dem Menschen das ewige Leben verboten – und somit dem Menschen ein köstliches Ziel in Aussicht gestellt: das Verbotene dennoch anzupeilen, wird zum geheimen Endziel des menschlichen Tuns.

Geheim? Das Geheime ist seit gestern überwunden. Trumps triumphale Missachtung der Gebote hat ein neues Zeitalter eröffnet: jagt den Baum der Natur aus eigner Kraft, dann könnte ihr auf den wirklichen Baum des Lebens verzichten.

Seitdem begann die Missachtung der lebendigen Natur: aus eigener Intelligenz – unabhängig von Baum und Strauch – wollte der Mensch ein ewiges Leben erlangen.

Damit waren die Grundziele der Heilsgeschichte festgelegt: Natur ist gut zum Essen, zum Wissen taugt sie nichts und muss ignoriert werden.

Seitdem wird Natur vom Menschen zu niederen Zwecken ausgerottet, die Intelligenz zum ewigen Leben hingegen – somit zur perfekten Gottgleichheit – muss der Mensch selbst aufbringen. Wo kann man am besten beobachten, wie der Mensch sich erkenntnismäßig von der Natur befreien will? Bei Kant, der alle apriorische Erkenntnis der Natur vorschreibt.

Hier entsteht eine Konkurrenz zwischen der Natur – und dem gespaltenen Menschen, der sich a) von der Natur ernährt und b) sich unabhängig von ihr seine immer gottähnlichere Intelligenz erschafft.

Bislang endete dieser Weg in der Schuld des Menschen, der sich von Gott erlösen lassen muss, um selig zu werden.

Sündenschuld setzt den Gehorsam des Menschen voraus, das Zugeständnis, dass Gottes Normen unantastbar sind. Wer sie verletzt, muss sterben und in die Hölle fahren.

Werden Gottes Normen aber abgeräumt, kann es keine Schuld mehr geben. Der Mensch wird gottgleich, er gibt sich selbst die Normen, die niemals seine Freiheit beeinträchtigen.

Diesen schuld-freien neuen Menschen nennt der deutsche Philosoph Nietzsche den Übermenschen. Das Ziel der Menschheit ist nicht der schuldbeladene sündige Mensch, der sich in Gottes Arme stürzt und um Befreiung und Erlösung bettelt, sondern der – Übermensch, der keine Götter mehr benötigt und sich nur auf seine eigenen Fähigkeiten verlässt.

„Das Ziel der Menschheit liegt nicht an ihrem Ende: – sondern in ihren höchsten Exemplaren! – dass der große Mensch immer wieder entstehe und unter euch leben könne: – dies sei der Sinn eures Erdenmühens! Dass es immer wieder Menschen gebe, die euch emporheben zu ihrer Höhe, die euch das Gefühl des Verwaistseins nehmen, die euch hineinziehen in ihre Ziele und Aufgaben, die ein neues Leben, einen neuen Schwung in eure Köpfe und Herzen bringen: – dies sei der Preis, um den ihr lebt.“ (Nietzsche)

Wie ist der heutige Zustand der Menschheit? Ein Konglomerat aus Müdigkeit, Einsamkeit, Verlassensein, Nichtwissenwohin beherrscht den Planeten, das sich paradoxerweise in mörderischer Konkurrenz und schrecklichen Kriegen entlädt.

Homo normalis weiß nicht mehr weiter. Nun muss eine Erlösungsfigur erscheinen, die erbärmliche Schuld des jammernden Menschen abräumen und sich selbst zum Gott ausrufen: es ist der Übermensch.

Er ist nur der Erste von vielen, die schon immer davon träumten, von starken und unbekümmerten Vorbildern mitgerissen zu werden, um es zu unerhörter Stärke und übermenschlichen Kräften zu bringen.

Dann ist die Mär von einem fremden Erlösergott vorbei. Jeder wird selbst sein eigener Gott und Erlöser. Jeder bestimmt selbst seine Regeln und seine freie Amoral.

Geht in Amerika nicht das Gefühl der Erleichterung durch die Menge der Geplagten? Was wir in den letzten Jahren erlebten, waren die Geburtswehen des Übermenschen, der die Menschheit den Fesseln eines schuldsprechenden Gottes entriss und ihren eigenen Lebensregeln übergab: macht eure Regeln und Vorschriften selbst; werft eure Schuld in den Abgrund, vergebt euch selbst, kriegt selbst raus, wie man zu unüberwindbarer Kraft gelangt, habt Achtung vor euch und euren freiheitsliebenden Mitmenschen, werft euch in Wollust, Luxus und Überfluss.

Eure Sündenkapitel sind vorbei – jetzt kommt Freiheit, die Freiheit in allen Bereichen. Wer zu dieser Freiheit nicht fähig ist, der muss in den Tiefen des Universums abhandenkommen.

Zwei Jahrtausende voller Schuld, Buße und seelischer Verkrümmung haben wir hinter uns. Nun beginnt ein vollständig neues Kapitel – ohne Schuld, ohne Seelenlast, ohne Reue. Menschen der Erde: wir sind frei, also lasset uns auch wirklich frei sein.

Werft alle Vorschriften in eure überquellenden Kloaken, vergesst alle Moralpredigten böse blickender Autoritäten, zeigt ihnen den Vogel. Und grölt ein neues Lied, das im ganzen Universum erschallt.

Hören wir den Gelehrten: „Tatsache ist, dass die Utopie auf abendländischem Boden durch die christliche Verheißung von der Parusie, von der Vergegenwärtigung des Kommenden, in einer höchst dynamischen Weise angeregt, ermutigt und befreit wurde. Die christliche Erwartung des jetzt schon wirkenden Neuen Menschen hat erst die Imagination des hoffenden Menschen mit ganzer Kraft auf die Zukunft gerichtet. Erst im Zeichen des christlichen Zeit- und Geschichtsbewusstseins haben die Utopien ihre revolutionäre Kraft entwickeln können. Die politischen und sozialen Revolutionen, die alle unter dem Leitbild einer Utopie standen und letzthin all „das Gottesreich mit Gewalt herbeizwingen“ wollten, sind Geschichtsereignisse der christlichen Aera – mögen sie sich noch so antichristlich gebärden. (Ernst Benz, Der Übermensch, 1961)

Ist die neue Aera der Schuldlosigkeit vereinbar mit der übergroßen Sündenschuld traditioneller Theologie? Das Buch von Benz erschien im Jahre 1961, da wehten noch vereinzelte Winde des Dritten Reiches.

Nach der beschämenden Niederlage der Deutschen mussten sie jenseits des Meeres neue Partner suchen – und sie fanden die amerikanische Zukunftstechnologie.

„Wenn heute der Mensch durch die Technik die Natur umformt, neue synthetische Werkstoffe schafft, neue Pflanzen- und Tierarten züchtet und die Evolution selbst zu lenken beginnt – wäre es nicht letzthin ein Armutszeugnis für Gott selbst, wenn dies alles grundsätzlich nur als Rebellion gegen Gott verstanden würde und nicht als Auftrag? Diejenigen, die von der Möglichkeit zukünftiger Vervollkommnung des Menschen überzeugt sind und das Seufzen nach zukünftiger Erneuerung verstehen, der christlichen Verheißung des Menschen näher stehen als diejenigen Theologen, für die nur die Dogmen von der Verderbtheit, Sündhaftigkeit und Unverbesserlichkeit des Menschen gelten.“

Das urchristliche Menschenbild der alten Kirche und das unchristliche Menschenbild der Naturwissenschaften sind durch eine geheimnisvolle Verwandtschaft miteinander verknüpft: durch den Glauben an die Möglichkeit einer schöpferischen Verwandlung des Menschen, an das Über-Sich-Hinausdrängen des Menschen, das jetzt schon als Moment der Unruhe in ihm wirksam und die Ursache seines Elends und seiner Größe ist.“

Hier strömen die messianischen Hoffnungen aller drei Erlöserreligionen zusammen. Putins Spiel mit dem Feuerhammer, Netanjahus Spiel mit den bösen Palästinensern, Xis – vorläufig noch zurückhaltendes – Spiel mit seiner überlegenen Wirtschaftsmacht: alle Übermenschen der Welt sind des Spiels ökonomischer Konkurrenzen müde geworden. Jetzt muss endlich mal aufgeräumt werden.

Nun wollen sie eine Generalreinigung. Weg mit den Stänkereien des ökonomischen Alltags. Der Planet muss aufatmen können. Weg mit den Allzuvielen, die täglich nichts anderes als ihre Portion Hafermilch beanspruchen.

Der Planet muss sich reinigen von den Überflüssigen, die immer nur wollen und nichts bringen und zur Freiheit der Zukunft nichts beitragen.

Wir brauchen Genies. Genies der Technik und des Fortschritts. Wieviel % Genies haben wir? Hallo, ihr lädierten Genies: wehrt euch gegen die Übermacht eurer nichts-bringenden und nur haben-wollenden Massen, die euch immer mehr die Luft abschnüren und das Recht der zukünftigen Freiheit beschneiden.

Was ihr tut, ist nicht gotteslästerlich, im Gegenteil:

„Die moderne Wissenschaft und Technik ist selbst das Ergebnis eines christlichen Gedankens von Gott, Mensch und Universum, denn sie setzt die Welt als geordnete Schöpfung vom Menschen als Bild und Mitarbeiter Gottes voraus.“

Nach Kriegsende war das Christentum klaftertief gespalten zwischen dem Glauben der Sieger und dem der Völkermörder. Also setzten sich die Kirchen zusammen, um eine gemeinsame Zukunftsreligion zu basteln.

Versteht sich, dass die Religion der Gewinner das Rennen machte – nicht ohne gewisse Anleihen aus der deutschen Herrenreligion, die im Krieg der Welt zeigen wollte, wozu eine überlegene Herrenrasse fähig war.

Viele amerikanische Wissenschaftler waren aus Deutschland emigriert und hatten die Erkenntnisse der Einsteins und Heisenbergs in eine schreckliche Atom-Technik umgesetzt.

Aber auch in Deutschland gab es verwegene Zukunftsdenker. Zu ihnen zählte der Raumfahrtforscher Eugen Sänger:

„Aufgabe der Technik ist, die uralten Sehnsüchte und Träume der Menschheit zu erfüllen. Die Träume von ewigem Frühling, ewiger Jugend und ewigem Frieden, die Sehnsüchte nach Schönheit und Wahrheit, nach Götterfreiheit von Mühsal und Mangel, von Raum und Zeit, von Krankheit und Tod, nach gottähnlicher Allmacht, Allgegenwart, Allgüte, nach Allwissen und den tiefsten Abenteuern des Leibes, der Seele und des Geistes. Die Wegweiser zu diesen Zielen sind die Übermenschen. Dem Menschen des Mittelalters würde unsere Lebensweise paradiesisch erscheinen und als Erfüllung aller Träume. Mit der Automatisierung sehen wir Mühsal und Mangel weiter verschwinden, mit den Machtmitteln der Technik Naturgewalten und Krieg immer sicherer unter Kontrolle gelangen. Wir erwarten, dass unsere politischen Führer sich immer mehr verabschieden von ihren Leidenschaften und Egoismen und immer mehr übergehen zur Technik objektivierender Rechenautomaten. Wir erwarten nicht, dass unsere Menschheitsträume von Perioden wunschlosen Glücks sich lähmend auf unseren Planeten niedersenken und die Menschheit in einem Dämmerschlaf wunschloser Zufriedenheit vergehen lassen.“ (ebenda)

Jetzt ist ein halbes Jahrhundert verflossen – und welche Träume sind in Erfüllung gegangen?

In vieler Hinsicht das blanke Gegenteil der kindischen Wunschträume. Die Kriege sind wieder zurückgekehrt, ja, das Ende unserer Zivilisation könnte über Nacht durch die Atomtechnik über uns hereinbrechen.

In einem Buch von Annie Jakobsen wird schonungslos berichtet, was morgen geschehen könnte:

„Nach nur wenigen Stunden des nuklearen Schlagabtauschs würden weite Teile der Nordhalbkugel unbewohnbar sein, die Sonnenstrahlung würde global um siebzig Prozent zurückgehen. Der folgende nukleare Winter würde nach neueren Berechnungen wohl nicht ein Jahr dauern, wie in den Achtzigern geglaubt, sondern wahrscheinlich eher zehn. Es wäre das Ende der Landwirtschaft, das Ende der agrikulturellen Lebensweise, das Ende der menschlichen Zivilisation und vieler Tierarten. Die Kopfzahl der Gattung Homo sapiens, so der Wissenschaftler und Autor Carl Sagan, würde vermutlich auf prähistorisches Niveau sinken, oder darunter.“ (WELT.de)

Als Oppenheimer die erste Atomexplosion beobachtete, fürchtete er, was geschehen könnte – aber gottlob nicht geschah: die Gesamtzerstörung der Erde. Er murmelte Verse aus der Bhagavadgita: „Nun werde ich der Tod sein, der Vernichter der Welten.“

„Er betrachtete die Kernenergie nicht nur als Kriegsmittel, sondern als „neue Beziehung des Menschen zum Universum, die zur Vollendung, aber auch zur Vernichtung der Zivilisation führen könne.“

Ein amerikanischer Politiker sah in der Waffe nicht nur das Mittel, den „Krieg zu beenden“, sondern zugleich eine Waffe, „mit der wir die gesamte Erde zerstören können.“ (Friedrich Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt)

Immer dasselbe Spiel in der Wissenschaft wie in der Theologie. Ungeheure Hoffnungen in beiden Glaubenssystemen – auch die Wissenschaft benutzt ihre empirischen Erkenntnisse, um substanzlose Phantasien zu entwickeln –, und dann fällt alles in sich zusammen.

Auch die heutige KI-Forschung bläht sich in maßloser Weise auf, um ihre Weltrettungsfähigkeiten ins rechte Licht zu stellen. Doch es wird wieder werden, wie es immer war. Wenn Menschen sich den Maschinen ausliefern, werden sie selbst zu solchen.

Schon immer herrschte in der Wissenschaft ein großer Zwiespalt zwischen „Gewissen und Wissen“.

Während Religionen erkenntnislose Projektionen sind, die man glauben kann oder nicht, sind Naturwissenschaften überprüfbare empirische Erkenntnisse, die sich allzuoft in Scheingewissheiten überdehnen. Allzuoft versprechen sie ganzheitliche Lösungen unserer Konflikte, an die man glauben kann – oder nicht.

Wissenschaften liefern isolierte Teilerkenntnisse, die sie oft genug als Gesamtergebnisse anbieten. Religionen bieten Prophetien, die jeder realen Grundlage entbehren.

Der Übermensch ist eine Erfindung des Erlösungsglaubens.

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater. 13 Und was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, auf dass der Vater verherrlicht werde im Sohn. 14 Was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun.“

Übermenschen sind ursprünglich Jesu Jünger, die kraft ihres verliehenen Charismas Wunder zustande bringen können. Aus diesen Glaubensheroen entwickelten sich abendländische Genies, die auf dem Gebiet des Intellekts und der Ästhetik zu erstaunlichen Leistungen fähig waren.

Heute sind sie hochintelligente Maschinisten geworden, die sich in der Gestaltung der menschlichen Zukunft zumeist illusorisch überschätzen.

Was wir heute benötigen, sind keine phantastischen Zukunftsgucker, sondern bodenständige kritische Demokraten, die die Probleme der Menschheit lösen können.

Das Motto des blinden Fortschrittsglaubens könnte das Motto der BASF sein: Wir machen weiter, komme, was da kommen mag. Sollte die Chemiefabrik tatsächlich nach China umsiedeln, wird Ludwigshafen in wenigen Jahren „Brudermüllers Friedhof“ heißen.

Fortsetzung folgt.