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Natur brüllt! LXXXIII

Tagesmail vom 27.05.2024

Natur brüllt! LXXXIII,

Wie weit hat es die Menschheit gebracht? Folgt sie einem geheimen Kurs?

An Über-Ich-Göttern gibt es keinen Mangel, doch die wüten gegeneinander im Himmel und auf Erden.

Ihr Ich, in vielen Jahrhunderten und Kriegen zusammengepfercht, -genagelt und -gehämmert, hat es zu einer gewissen praktikablen Einheit gebracht, die heute wieder auf dem Prüfstand steht.

Die wieder aufgekommenen Kriege zeigen es: gibt es etwa gemeinsame Bewertungsgrundlagen internationaler, militärischer Schlächtereien?

Dem Buchstaben nach: Ja. Da haben wir die UNO-Doktrin oder die Rechtssysteme der Demokratien.

In Wirklichkeit aber sind diese höchst umstritten. In erster Linie geht es nicht um die Beantwortung der Frage: handeln Putin, Chi, Netanjahu – und demnächst Trump – im Sinne des Völkerrechts? Sondern: sollen universale Rechtsprinzipien noch immer das Tun der Völker bewerten?

Wäre es nicht sinnvoller, zurückzukehren in die isolierten Rechtsvorstellungen einzelner Völker – die stolz sind auf ihre eigenen und einzigartigen Rechtssysteme, welche bestimmte Nationen herausheben aus dem Pulk der Vielzuvielen?

Doch wenn wir Glück haben und die Klimakatastrophe wird die Menschheit zur Vernunft anhalten, werden wir – trotz wüster Streitigkeiten – uns wieder auf internationale Gemeinsamkeiten einigen. Es sieht nicht völlig hoffnungslos aus, dass wir uns demnächst nach gleichen Gesichtspunkten bewerten.

Auserwählte Völker werden es dann schwer haben, sich nach denselben Kriterien bewerten zu lassen als universell handelnde Nationen.

China will Taiwan zurück, obgleich die Insel autonom bleiben will.

Putin will zum Cäsaropapismus zurück, um sich zum himmlischen Zaren krönen lassen.

„Das Christentum ist noch nicht wirklich begonnen worden. Es existiert gar nicht. Wir verehren es als Legende … Kosmokratie: das russische Volk als Erlöservolk, als Weltraumvolk, das im Universum siedelt. Der homo kosmonauta tritt an die Stelle des homo faber. Den homo kosmonauta, den kosmosfahrenden, im Kosmos siedelnden Menschen vorzudenken, spirituell vorzubilden und ihm die angemessenen Mittel zu erfinden: das ist das gemeinsame Ziel russisch-religiöser Erfinder im 19. Jahrhundert: von hier führt eine gerade, wenn auch verborgene, Linie zur Gegenwart, zur russischen Weltraumfahrt. Aufgabe des Menschen ist es, nicht nur zu besuchen, sondern auch zu bevölkern alle Welten des Universums. Dazu ist der Mensch geschaffen.

Die große Brüderlichkeit aller Menschen …, das Reich Gottes: es ist vom Menschen hier auf dieser Erde und im Weltraum, der zu kolonisieren ist, zu verwirklichen. Die Geschichte ist bisher im Ganzen die Zerstörung der Natur und die gegenseitige Ausrottung der Menschen. Die moderne Zivilisation ist Mord und Selbstmord, da es ihr an Brüderlichkeit fehlt. Nur Angst, Zwang und Nützlichkeit halten sie zusammen – und alles dient dem Krieg. Die Wissenschaft befindet sich unter dem Joch der Fabrikanten und Kaufleute …Ehedem war Wissenschaft Magd der Theologie, jetzt ist sie die Magd des Kommerzes geworden.

Die Vergottung des Weltalls ist durch aktives Eingreifen des Menschen zu befördern. Auf dieser Erde ist der Mensch verpflichtet zum odium fati, zum Kampf gegen den Tod. Die Auferstehung der Toten ist durch wissenschaftlich-technische und spirituelle Anstrengungen zu erkämpfen.

Die Schwerkraft, die uns an die Erde fesselt, ist zu überwinden. Das Reich des Menschen soll ausgedehnt werden auf alle Welten, alle Sternensysteme, bis das Universum endgültig vergeistigt ist.

Menschengeschick ist es, den Himmel auf die Erde zu bringen. Es geht um die Erlösung der Mutter Erde.“ (alle Zitate aus Friedrich Heer)

Gibt es den kleinsten Unterschied zwischen den Zukunftsvorstellungen des Silicon Valley und den Erlösungsgedanken des zaristischen Reiches? Höchstens in der Klarheit der russischen Welterlösungsgedanken – gegenüber dem szientistischen Geschwurbel der KI-Erschaffer.

Lenin und Stalin setzen die Linie fort:

„Lenin bringt das „Dritte Testament“. (Das Dritte Reich, übernommen von Joachim di Fiores Drittem Reich des Heiligen Geistes.)

Radikaler Messianismus verbindet sich in der frühbolschewistischen Dichtung mit der Vision: der Mensch erlöst sich durch seine Kunst, durch seine Technik die Welt. Russische Sektierer sehen in Lenin den Messias des 20. Jahrhunderts. „Lasset uns in die Erde eintauchen, zusammen mit Feuer, Metall, Gas und Dampf lasst uns Schächte graben, in die großen Tunnels der Welt … Mögen wir der Erde verschmelzen, sie ist in uns und wir sind in ihr. Das Proletariat besteigt als neuer Messias Golgatha und wird – gekreuzigt – auferstehen. Wir erleben die heilige Hochzeit des Himmels und der Erde.“ (erinnert an Novalis, Eichendorff)

Stalin bleibt ein versierter Priesterschüler, übersetzt in Maschinensprache:

„Wir hängen fünfzig oder hundert Jahre hinter den fortgeschrittenen Völkern dieser Erde zurück. Wir müssen das in zehn Jahren nachholen. Entweder tun wir das, oder die andern werden uns zerschmettern.“

Verstehen wir die plötzliche Ungeduld des Möchtegerngläubigen Putin, der nach vielen friedlichen Versuchen, den Westen einzuholen, von der messianischen Ungeduld eingeholt wurde und nun nicht länger zögern wollte, um den Donnerschlag zu liefern?

Warum wird Putins Glauben an die Berufung seines Landes erst jetzt entdeckt? Kann es sein, dass der Westen seinen – bewusst – verkümmerten Restglauben in Putin projiziert, um von seinen eigenen pseudomessianischen Machenschaften abzulenken?

„Im Apparat von Wladimir Putin finden sich immer mehr tiefgläubige Christen. Der Präsident scheint von der Idee angetan zu sein, sein Land in einen »orthodoxen Iran« zu verwandeln – vor allem seit dem Angriff auf die Ukraine. Es scheint ihm sehr zu behagen, Beamte um sich zu wissen, die ihren Präsidenten als Geschenk Gottes betrachten und ihm mit religiöser Ehrfurcht begegnen.“ (SPIEGEL.de)

Zwei vollständig gleiche Geschichtsziele in Ost und West, hübsch getarnt in Algorithmensprache, drapiert mit Raketen und Satelliten.

Fehlt noch – das chinesische Reich Maos.

„China entwickelt früh eine Dialektik, die erstaunlich nah an Hegel und Marx steht. Das Tao, verstanden als Weg, reine Bewegung, Entwicklung, ständiger Wandel, das unaufhörliche Zusammenspiel von Yin und Yang, von Urgegensätzen, die zusammengehören.“

Mao gelingt es, mit Anleihen aus Lenin und Stalin, das chinesische Weltbild zu transformieren in einen „Heilsweg“, der dem abendländischen nahekommt.

„Mao möchte seinen Genossen die blutige und unblutige Kunst der totalen Alchemie lehren: die ars magna, die Große Kunst der Verwandlung von Allem in Alles.“

Heute scheint China ungeheuer fortschrittlich und technisch aufgerüstet. Wer aber will behaupten: das Land habe nicht mehr sein traditionelles ES in sich, das sie in der Weisheit der Alten lenkt? Mao ist überzeugt, dass sein modernes Land einer uralten Tradition dem Abendland in nichts zurücksteht: Die dialektische Weltanschauung entstand sowohl in China als auch in Europa bereits im Altertum.“

„Es gibt kein Ding, das nicht einen Widerspruch in sich enthielte. Wenn es keine Widersprüche gäbe, gäbe es keine Entwicklung des Weltalles.“ Mao fühlt sich dem Westen überlegen, weil er – in dialektischer Tradition – von Dialektik nicht nur spricht, sondern sie politisch anwenden kann. Widersprüche müssen erkannt werden, um sie einer echten Versöhnung zuzuführen.

Die Ideologie des westlichen Silicon Valley kennen wir im Überdruss. Zwar nicht im Zusammenhang mit einer heilsgeschichtlichen Zeitachse, aber als omnipotente Zukunftsträume überragender Genies.

Begnügen wir uns ergo mit Ray Kurzweil, dem prophetischen Überwinder der Sterblichkeit.

„Intelligenz – das wichtigste Phänomen im Universum – kann natürliche Grenzen überwinden und die Welt nach ihrem Bilde umgestalten. In der Hand des Menschen, als menschliche Intelligenz, hat sie uns in die Lage versetzt, die Beschränkungen unseres biologischen Erbes zu überwinden und uns selbst in diesem Prozess zu verändern. Wir sind die einzige Spezies, die dies tut. Das Universum zu erwecken und – indem wir es mit unserer menschlichen Intelligenz in ihrer nichtbiologischen Form durchdringen – über sein Schicksal zu entscheiden, das ist unsere Bestimmung. Die digitalen Gehirne, die wir zukünftig produzieren, werden das Produkt eines Designprozesses sein. Sie werden nicht das zufällige Resultat der biologischen Evolution, sondern auf unserer technologischen Evolution beruhende intelligente Schöpfungen darstellen. Das Universum zu erwecken und – indem wir es mit unserer menschlichen Intelligenz in ihrer nichtbiologischen Form durchdringen – über sein Schicksal zu entscheiden, das ist unsere Bestimmung.“ (Kurzweil, Das Geheimnis des menschlichen Denkens)

Heute schon Deine Pflichtübung in Umwandlung des Universums absolviert? Wie, fragst Du? Wie deutsche Medien und KI-Experten sich eben bemühen, den begriffsstutzigen Neugermanen das futurische Denken beizubringen:

Schon wieder eine Sensation im Schwarzen Loch des Universums. Schon wieder eine phantastische Erfindung aus dem Gehirn eines KI-Geschöpfs. Schon wieder die Niederlage eines naiven ganzheitlichen Denkens.

Was ist der Mensch inzwischen? Keine Einheit mehr aus Körper und Geist, sondern eine Einheit aus Maschine – und Maschine. Er will sich selbst übertreffen und eine unbesiegbare Maschine werden.

Ach, wenn wir daran denken, wie human die Naturwissenschaften einst begannen.

„Dem Menschen, dem Leben dienen, in Dien-mut: der alte Liebig schätzt all seine Arbeit gering gegenüber dem Landwirt, der Brot für die Menge schafft. Wer das Leben und Denken bedeutender europäischer Naturwissenschaftler im 19. Jahrhundert studiert, wird ihre Humanität immer wieder durch eben dies geprägt finden: durch Heiterkeit, innere Ruhe, Urvertrauen. Der Frohsinn, die Lebensfreude von Forschern und Entdeckern steht in schärfstem Kontrast zur Angst und Angstmache, die das Leben und Denken der Wissenschaftler durchzieht: diese sind allermeist Pessimisten, im Gegensatz zu den Optimisten, die an den Fortschritt glauben. Virchow definiert sein Ziel als Humanismus und befasst sich mit der gesamten Wissenschaft des Menschen.“

Wo sind die Wissenschaftler von heute? Ab und zu schauen sie kurz durch die Türspalte, doch schnell sind die wieder weg. Sie sind Berater der Kanzler, doch nie hörten wir vom Inhalt ihrer Gespräche. Sie haben keine Lust mehr, ewig dasselbe anzumahnen, ziehen sich zurück aufs Altenteil und betrachten die stille Natur an der Algarve.

Noch ist Rüpelzeit. Die mächtigsten Rüpel der Welt zertrümmern das Über-Ich der Menschheit, unter dem tosenden Applaus vornehmer Amoralisten. Das ewig schwankende Ich ist längst abhanden gekommen. Und jetzt kommt das Es.

Die Menschheit muss endlich ihr Es ausspucken, um von vorne zu beginnen. Kotz endlich, Menschheit, damit du weißt, was du alles geschluckt und versteckt hast.

Verwandle deine Shitstorms endlich in Glücksstürme, damit du erstaunen kannst über deine Kunst des Lebens, die du in den Tiefen der Meere verschüttet hast.

Du weißt nicht mehr, wie man glücklich sein kann?

Dann schau dir die folgende Sendung an: „Mozart in Havanna“ und du wirst überwältigt werden, wie Melodien und Rhythmen verschiedener Kulturen in wunderbarer Weise zur Einheit verschmelzen. Was du hören wirst, ist die universelle Harmonie, der impulsive Einheitsrhythmus des Menschen mit der Natur. (ARTE)

Diese elysischen Töne wären das Ziel einer Menschheit, die begriffen hätte, wie lebendig sie sein kann, ohne sich mit Sündenarbeit zu quälen. Arbeiten und beglückt die Natur betrachten sind im Garten der Vollendung identisch.

Fortsetzung folgt.