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Montag, 29. Oktober 2012 – Die Lehre von den Letzten Dingen

Hello, Freunde Europas,

Orhan Pamuk, Literaturnobelpreisträger, lebt an der Grenze des europäischen Kontinents am Bosporus und sehnt sich nach Europa. Pamuks Land wurde noch nie von Europäern besiegt, im Gegenteil, die Türken haben jahrhundertelang den Balkan besetzt, standen vor Wien und wären beinahe nach Mitteleuropa vorgedrungen.

Im Jahr 2004 gab es eine Annäherung zwischen der Türkei und der EU, viele Türken begannen von einem Beitritt in den europäischen Staatenverband zu träumen.

Heute sind alle Träume zerstoben. Aus einem einzigen Grund: auf beiden Seiten verstärkt sich der Einfluss der Religionen. Auf der einen Seite der Islam, auf der anderen das Christentum.

„Wenn die Religion die Grenzen Europas markiert, ist das ein unseliger Rückschritt. In der Krise darf der Kontinent nicht zu einem Ort werden, der von Ängsten beherrscht wird“, schreibt Pamuk in einem SZ-Artikel.

Man muss Europa von außen betrachten, um die Anziehungskraft des Abendlandes nicht in der Religion zu sehen, sondern in den Kräften der Aufklärung von der Renaissance über die Französische Revolution bis zur industriellen Revolution. Entscheidend war, dass es säkulare Kräfte waren, die den Slogan „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ beförderten.

Doch Europa befinde sich im Rückwärtsgang, so der Schriftsteller, es entwickele zunehmend Ängste gegen das Einströmen vieler Muslime, das führe zum Errichten von Mauern an den Grenzen Europas, die immer undurchdringlicher werden. „Während der Leitspruch Egalite, Liberte und Fraternite allmählich

in Vergessenheit gerät, wird Europa sich in einen zunehmend konservativen Ort verwandeln, der von religiösen und ethnischen Identitäten beherrscht wird.“

(Orhan Pamuk in der SZ: „Leuchtfeuer der Zivilisation“)

Konservativ ist ein verharmlosendes Wort. Religionen bewahren nichts, außer der eigenen Macht. Sie unterstützen alle Bewegungen, die geeignet sind, ihre finale Weltherrschaft zu erreichen, durch Zerstören aller Kräfte, die sich dagegen stemmen.

Momentan stärken sich die drei Erlösungsreligionen gegenseitig, um sich selbst zu stärken. Gleichzeitig sind sie die schlimmsten Konkurrenten füreinander. Da sie nur an die alleinseligmachende Wahrheit der eigenen Religion glauben, alle anderen Glaubensrichtungen als satanische Gegner betrachten, rüsten sie sich zum baldigen Endkampf der Offenbarungen.

Was die „magnetischen“ Anziehungskräfte Europas betrifft – ihre religionskritischen Bewegungen –, so werden sie als „Vernunft-Totalitarismus“ und „Aufklärungs-Fundamentalismus“ geschmäht. Das liebste Tun „neutraler“ Gazettenschreiber besteht darin, als „Zweifler und Skeptiker“ den Belangen des Heiligen mit Herzblut zu dienen und die Gottlosen zu Hitler-Erben zu erklären, der Führer sei der Vater aller Ungläubigen.

Das geschieht mit der infamen historischen Lüge – die von keinem Blasphemieverbot verhindert wird –, dass das NS-Regime ein antichristliches Unternehmen gewesen wäre.

Es war ein kirchenkritisches, kein christentumskritisches Unternehmen. Die politische ecclesia militans schob die ecclesia patiens beiseite. In Wahrheit wollte das Regime den von den Kirchen verdeckten apokalyptischen Geist der Endzeit in die Tat umsetzen.

Die Lehre von den Letzten Dingen wurde von den Großsekten seit Konstantin und Augustin an den Rand geschoben, die baldige Wiederkehr des Herrn hätte der Macht der Kirchen ein abruptes Ende bereitet. Weshalb das Chiliastische in die kleinen Sekten und religiösen Gruppierungen wanderte, die von den Kirchen mit Feuer und Schwert bekämpft wurden.

Doch immer wieder begann das Endzeitfieber in der Geschichte des Abendlandes aufzulodern, welches den Kirchen Verleugnung des Fiebers nach dem Jüngsten Gericht vorwarf. Die NS-Schergen waren Erben eines tausend Jahre alten Dauerfiebers, das immer aufbrach, wenn die Not das Land oder den Kontinent beherrschte. Besonders das in die Bedeutungslosigkeit abgestürzte Deutschland befand sich in Dauernöten, aus denen es religiös-militant nach seinem Gott und Erlöser rief.

Alle Geschichtsphilosophien des Abendlandes waren nichts als Varianten der Heilsgeschichte, die nach einem strengen Fahrplan einem unwiderruflichen Ende zufuhren.

Selbst Kants Friedensentwurf, der „auf den Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten, Friedens hofft“, nannte er einen „philosophischen Chiliasm“.

Walter Benjamin schrieb in seiner letzten Schrift „Über den Begriff der Geschichte“: „Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert. Und das war gut so.“

Auch Bloch bekannte sich zur chiliastischen Tradition und bezeichnete den „utopisch-rationalen Sozialismus“ als „säkularisierte Weise des tausendjährigen Reichs.“ Bloch selbst war von einem glühenden „chiliastischen Urwunsch“ beseelt.

Klaus Vondung hat in seinem Buch „Die Apokalypse in Deutschland“ viele Beispiele quer durch die deutsche Geschichte bis zur Gegenwart gesammelt. Im Grunde gab es keine Epoche, die nicht das Weltende, das Jüngste Gericht und den Ausblick in die Ewigkeit erhoffte – mit Auslöschen aller Andersgläubigen und Andersdenkenden.

„Es ist auffällig, wie viele Gemeinsamkeiten manche moderne Texte mit antiken Apokalypsen aufweisen.“ Die Szenarien sind stets dieselben: die alte Welt ist voller Elend, Schmerz und Tod, die neue ist vollkommen, eine Welt des Glücks, der Freude und des Lebens.

Es herrscht ein scharfer schwarz-weißer Dualismus. Die alte Welt ist verdorben und böse, die neue rein und gut. Es gibt keine Vermittlung zwischen der alten und neuen Welt, kein Lernen aus der Geschichte, keine Erklärung des „Bösen“ aus den Bedingungen der abendländischen Biografie. Es gibt nur radikalen Umschwung, abrupte Revolution, totale Erneuerung und absolute Vernichtung des Alten.

In den jüdischen und christlichen Apokalypsen bewirken Gott, sein Sohn oder engelgleiche Furien die Erneuerung. In „säkularen“ Apokalypsen wird es zunehmend der Mensch, der im Dienste seines Geschichtsgottes die selbsterfüllende Prophezeiung exekutiert.

Die Säkularisierung bedeutet keine Veränderung des endzeitlichen Inhalts, nur den Austausch der Instrumente und eine höhere Beteiligung geistbegabter Auserwählter im Dienste der Vorsehung, des Himmels, der Evolution.

Alle antipäpstlichen „Sekten“ des Mittelalters, Luthers „Komm Herr, ach komme bald“, Thomas Münzers Endreich-Visionen, die Bauernerhebungen, die religiöse Lyrik von Andreas Gryphius im Weltuntergang des 30-jährigen Krieges, der schwäbische Pietismus, Fichte, Schelling, Hegel, Marx, sämtliche Evolutionsbewegungen entstammten negativen oder positiven Endreichs-Ideen des jüdisch-christlichen Millenarismus.

In seinem Buch „Das Ringen um das Tausendjährige Reich“ schreibt Norman Cohn: „Vom Ende des elften bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts hat sich in Europa immer wieder die Sehnsucht der Besitzlosen und Ausgebeuteten nach der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen mit Phantasievorstellungen von einem neuen irdischen Paradies, einer von Leid und Sünde gereinigten Welt, einem Königsreich der Auserwählten verbunden.“

Doch damit war dieser Strom noch lange nicht versiegt. Zwischen 1807 und 1813, der Niederlage Preußens gegen Napoleon und dem Beginn der Befreiungskriege, als die deutsche Not wieder einmal am höchsten war, entwarf Ernst Moritz Arndt, den die Nationalsozialisten als Vorläufer ihrer Bewegung betrachteten, sein apokalyptisches Szenario.

Die Ereignisse der Zeit deutete er als Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Als Entscheidungskampf, als „letzten heiligen Krieg“, der nicht nur über das Schicksal Deutschlands, sondern der ganzen Welt entscheiden wird. Napoleon war kein politischer Gegner, sondern „Regent der Finsternis und Feind der Söhne des Lichts, als „Teufel auf höllischem Thron“, also „vollkommen böse“.

Das deutsche Vaterland habe er so korrumpiert – selbst viele Deutsche –, dass alles Alte zertrümmert werden müsse, „damit das Neue werden könne“. Das Neue bedeute nicht nur äußerliche Neugestaltung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung, sondern die „neu werdende Geburt der Zeiten“, nichts weniger als „Erlösung“.

In seinem „Letzten Wort an die Deutschen“ schreibt er wie der Seher Johannes auf Patmos, der Verfasser des letzten Buches des Neuen Testaments: „O heilige Begeisterung meiner künftigen Geschlechter, süßes Glück und süßer Trost in einer Zeit, die den irdischen und kurzsichtigen Menschen ebensoviel mit gespenstischen, als wirklichen Schrecken ängstigt! Kommen wird die Zeit, wo der gebildete und veredelte Mensch, der jetzt nur noch Irrtum und Elend, reiches Wissen und armes Leben hat, in wahrhaft geistiger Größe und Sicherheit als der Gott und Herr der Erde einhergehen wird.“

Der letzte Satz hätte ausgereicht, um die politischen Erlöserpläne der Nationalsozialisten zusammenzufassen. Am deutschen Wesen sollte die Welt genesen, war keine vereinzelte Stimme eines verwirrten Provinzlers.

Goldhagen hatte Recht, als er den Judenhass der Nationalsozialisten tief in der Geschichte der Deutschen suchte. Dabei übersah er noch die durchgängig apokalyptische Bewegung, die den Endsieg der Christen über die primär Auserwählten Jahwes erhoffte.

Aus dem „Wunder“ einer nahe herbeigekommenen Endzeit wurde mehr und mehr das politische Programm fast aller unterdrückten Völker und wirtschaftlichen Klassen. Die Gedanken eines „universalen, von der ganzen Menschheit zu erreichenden Endzieles“ wurden aus der „Sphäre des Wunders und der Transzendenz in die der natürlichen Erklärung und der Immanenz versetzt“, schrieb Ernst Troeltsch am Anfang des 19.Jahrhunderts.

Nach 1945 nahm Karl Löwith die Spur auf und untersuchte in „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ die theologischen Voraussetzungen der gesamten abendländischen Geschichtsphilosophie, ausgehend von der Bibel über Orosius, Augustin, Joachim di Fiore, Bossuet, Vico, Voltaire, Condorcet und Turgot, Proudhon, Hegel, Marx bis Burckhardt, den väterlichen Mentor Nietzsches.

Die Philosophie der Geschichte, schreibt Löwith, ist „ganz und gar abhängig von der Theologie, dh, von der theologischen Ausdeutung der Geschichte als eines Heilsgeschehens.“ Ergo könne Geschichte keine Wissenschaft sein. Der Glaube an den Fortschritt habe den Glauben an die biblische Vorsehung ersetzt. (In Deutschland nicht, da war Fortschritt identisch mit dem Glauben an die Vorsehung.)

Löwiths Philosophie war eine radikale Kritik an jeglichem Geschichtsglauben, an einem von oben gegebenen Sinn der Geschichte. Selbst der radikale Atheismus ziehe, in nachchristlichen Zeiten, seine Stärke aus dem christlichen Glauben. Mit anderen Worten, das Credo steckt uns noch in allen Knochen, wir können uns so kirchen- und glaubensfremd einschätzen wie wir wollen.

Es gäbe nur eine Chance, so Löwith, sich dem eschatologischen Zeitdenken zu entziehen und das wäre ein wiedergewonnenes Vertrauen in die griechische Theorie einer kreisförmigen Bewegung.

Das war lange vor der ökologischen Bewegung, die schon aus naturphilosophischen Gründen die lineare Geschichte der Erlöser verabschieden und zum zirkulären Denken der Griechen zurückkehren müsste.

Zurück? Das ist die Falle der linearen Fortschrittler und grenzenlosen Wachstumsfetischisten, die genüsslich zu sagen pflegen: Ein Zurück gibt es nicht. Wir sind dazu verdammt, immer nach vorne in die unbekannte Zukunft zu laufen.

Das sind wir nicht. Wir müssen nicht zeitlich zurück, sondern bei den Früheren lernen. Wenn wir Geschichte ernst nehmen, ist sie ein vollständiges Kompendium aller möglichen menschlichen Weisheiten, Irrtümer, Verbrechen und Katastrophen. Wer diesen Schatz nicht hebt unter der Devise: alles prüfet, das Beste behaltet, der ist unrettbar – genial. Der will lieber auf eigene Faust untergehen, als bei anderen in die Lehre zu gehen.

Der neue Ton der Eliten steht auf Demut, doch in den wichtigsten Angelegenheiten des Überlebens werden die Lehren der Vergangenheit in endzeitlicher Stupidität verschmäht. Der Mensch lernt nichts aus der Geschichte, sagte Hegel. Kunststück, das Ende der Geschichte war bei ihm schon in Raum und Zeit erschienen.

Wer Geschichte verschmäht, oder noch schlimmer, Geschichte studiert, aber alles Lernen verwirft, das Frühere nur relativiert und historisiert, der ähnelt dem Quidam (=Jedermann) Goethes:

„Ein Quidam sagt, ich bin von keiner Schule,

Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;

Auch ich bin weit davon entfernt,

Dass ich von Toten was gelernt.

Das heißt, wenn ich ihn recht verstand,

Ich bin ein Narr auf eigne Hand.“

Hat Goethe Recht, sind fast alle Historiker und Intellektuelle der Gegenwart Narren auf eigne Hand, da sie nicht das Wahre und Gute, sondern das Eigene, noch nie Dagewesene, Gespreizte und Skurrile suchen. Mit einem Wort: das Neue.

Das dogmatisch Neue ist die Absage an alle Schätze der Erkenntnis der Vergangenheit. Bildung, die Kenntnis des Vergangenen, wird zur Afterbildung, zur kompletten Verblendung.

Weshalb den alten Schrott lernen, sagt sich die Jugend zu Recht, wenn alles für die Katz war? Wer darf sich wundern, dass die Bildung in der Schule immer mehr zum Nonsens-Unternehmen wird?

Erneut leben wir in Letzten Zeiten. Die biblizistischen Amerikaner ohne Scheu, die Europäer in pseudoaufgeklärter Verdrängung, die Deutschen mit typischen Reaktionsbildungen. Entdecken sie den „Alarmismus“ der Ökologiebewegung, höhnen sie, die Deutschen seien unrettbare Apokalyptiker.

Sie können nicht zwischen anerzogenen Endzeitreflexen und realen Bedrohungen unterscheiden. Haben sie den chiliastischen Komplex in der frommen Seele der Spätgeborenen entdeckt, lachen sie befreit auf: falscher Alarm bei Grünen und Klimawarnern. Entwarnung auf der ganzen Linie! Die Endzeitpropheten kommen und gehen, die Welt, sie bleibt bestehen.

Wenn der Club of Rome sich in seinen anfänglichen Prognosen ein wenig irrte, ist für die Nachgeborenen das Urteil klar: alles neurotischer Unfug. Schickt die Umweltwarner auf die Couch.

In Deutschland gibt’s nur Hü und Hott, Schwarz und Weiß, der alte Dualismus der Religion, übertragen auf Wahrnehmungsprobleme. Entweder ökologischer Untergang – oder Verleugnung aller Warnsignale, die nur Panikmache wären.

Besonders interessant ist das Phänomen der „unendlich vielen Grautöne“ als differenziert gemeinte Realitätswahrnehmung. Oder als explizite Vermeidungsstrategie des dualistischen Alles oder Nichts.

Doch wie gewonnen, so zerronnen. Übertragen auf Erkenntnisprobleme, wird daraus die wütende Auslöschung von Richtig-Falsch oder Wahr-Unwahr.

Man darf nichts mehr entschieden für falsch halten, schon wird man als Schwarz-Weiß-Denker eingestuft. Aus der sinnvollen Absicht, die vielen realen Mischungen aus Wahr und Unwahr zu erkennen, wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Selbst gefährliche demokratie- und menschenfeindliche Umtriebe dürfen nicht mit „Ausgeschlossen, völlig unmöglich“ abgeschmettert werden.

Der gut gemeinte Differenzierungswille kippt um in die Unfähigkeit, unmissverständlich Position zu beziehen und seine Meinung ohne Wenn und Aber auf der Agora zu äußern. Aus Angst vor doktrinärer Borniertheit sagen Deutsche – nicht zuletzt aus Trotz gegen ihren Herrn – nicht mehr Jaja und Neinnein, sondern dogmatisch Jein Jein.

Entweder hasserfüllter Antisemitismus oder ängstlich-devoter Philosemitismus, keine durchmischte Kritik. Die Kategorie des Verstehens steht unter Schwächeverdacht. Das „Böse“ wird noch böser, wenn man sich weigert, das Menschliche im Bösen zu verstehen. Hier sieht man plötzlich keine unendlich vielen Grautöne mehr, hier wird draufgeschlagen, dass die Funken der Rechtschaffenheit und der politischen Korrektheit sprühen.

Man könnte von fehlgeleiteter Dialektik oder verfaultem Hegelianismus sprechen. Was unvereinbar ist, wird harmonisiert; was vereinbar, zum kontradiktorischen Widerspruch erklärt. Folgerichtigkeit wird als Nötigung empfunden, alle Logik zum Instrumentenkasten des Totalitären erklärt.

Der postromantischen Verliebtheit in den irrationalen Widerspruch, der dem Leben erst die Würze geben soll, entspricht der Hass auf die glasklare Konklusion des Eins und Eins ist Zwei. Germanische Hartschädel lassen sich nicht gerne eines Denkfehlers überführen.

Wer gestern das sogenannte Gespräch zweier Philosophen im ZDF gesehen hat – Precht contra Lindner –, wird die deutsche Unfähigkeit zu einem geschliffenen Streitgespräch bemerkt haben. Zwei synchrone Monologe halten sie bereits für einen Dialog.

Der apokalyptische Ton, bei uns in Europa unterdrückt, bestimmt ganz unverhüllt die gesamte amerikanische Außenpolitik, der wir in Bündnistreue folgen müssen. Amerika will den Weg des triumphalen Heils in Gottes Paradies weitergehen, ist aber von nationalen Ängsten besessen, den Status der Auserwähltheit zu verlieren und den Weg ins Verderben zu gehen.

Dieselben Kategorien beherrschen die Politik Israels, des engsten Verbündeten Amerikas. In wachsend bedrohlichem Maß bestimmen eschatologische Ultras die Innen- und Außenpolitik des Landes, die von Norman Cohn so beschrieben wird: „Sämtliche Völker, die je über Israel herrschten, werden dem Schwert verfallen, während Angehörige der übrigen Völker Israel dienen werden.“

Sollten die Ultras eines Tages die Macht übernehmen, müssten sich – wenn Cohn Recht hätte – die Deutschen warm anziehen. Die Tage der Freundschaft wären dann gezählt.

Nun verstehen wir den tiefsten Grund der wachsenden Ablehnung universeller Menschenrechte im heilsgeschichtlichen Westen. Nach den Heiligen Schriften kann am Ende der Geschichte nur eine Religion den Endsieg für sich entscheiden. Die anderen müssen untergehen. Fragt sich nur: wer ist der wahre Liebling des Gottes, der seine Kinder durch Teile und Herrsche auserwählt und verwirft?

Nicht das Allgemeine und Menschenverbindende dominiert die jetzige Weltpolitik, sondern das Trennende und Ausschließende.

Der Nationalismus, schreibt Vondung, wird aus dem Geist der Apokalypse geboren. „Der eschatologische Gedanke vermag die Zeitlichkeit der Zeit zu beherrschen, die ihre eigenen Geschöpfe verschlingt.“ (Löwith)