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Montag, 24. September 2012 – Utopieverbot

Hello, Freunde Libyens,

die Warner haben zu früh gewarnt, der arabische Frühling ist noch nicht unter der Wüstensonne verdorrt.

Die Libyer wehren sich energisch gegen salafistische Milizen, die mit Hilfe eines Filmchens die demokratischen Errungenschaften der Revolution zurückdrehen wollen. Auf unzähligen Demonstrationen forderten Tausende einen fairen Staat, eine einheitliche Polizei und Armee und das Ende der Milizen.

„Mit dem Mord an US-Botschafter Stevens war das Maß nun voll, die Bürger haben – leider auch mit Gewalt – ihre Forderungen durchgesetzt und nicht auf die Regierung gewartet. Das ist Bürgerrevolution Teil zwei“. (Mirco Keilberth in der TAZ)

Der Virus der Freiheit ist angekommen. Das zeigt sich am Phänomen der Binnendifferenzierung. Der trügerische Schein despotischer oder religiöser Einheitlichkeit ist verschwunden. Der Konflikt wird nicht als Außen-Innen-, sondern als Innen-Innen-Konflikt erlebt und durchgefochten.

Der Sammelbegriff „Islamismus“, schreibt Karim El-Gawhary in der TAZ, habe ausgedient. Bisher wurde er sowohl auf gemäßigt-konservative Parteien wie auf ultrareligiöse Salafisten angewendet.

Doch jetzt ist die längst überfällige Spaltung eingetreten. Es gehe nicht mehr um Orient gegen Okzident, es gehe um freie Bürgergesellschaft gegen religiösen Fanatismus. In Ägypten, Libyen und Tunesien verlaufe die Front

zwischen Mehrheit der Gesellschaft und fanatischen Minderheiten. „Jetzt kommt der arabische Sommer“, hieß es hoffnungsfroh in Bengasi.

Es war eine neue Art arabischer Wutbürger, dem die Milizen weichen mussten. Auch in Tunesien gibt’s eine härtere Gangart gegen die Koran-Fundamentalisten. Ghannouchi, Chef der konservativen Ennhahda-Partei, erklärte die Salafisten zu einer Gefahr für Sicherheit und Freiheit des Lebens. In Ägypten derselbe Vorgang.

 

Während die gesellschaftliche Entwicklung im Orient dabei ist, die Religion zu zähmen, läuft es bei uns in die entgegengesetzte Richtung. Einheitsphantasien zwischen Protestanten und Katholiken machen die Runde. Man will zusammenrücken und sich stärken. Die Tage werden kälter, die Gehörnten stehen vor der Tür.

Lutheraner beneiden die Weltmacht des Vatikans, das eindrucksvolle Gepränge seiner bunten Soutanen. Papisten wissen sich in Glanz und Gloria zu inszenieren.

Katholiken beneiden die Protestanten um ihre Nähe zum Bundespräsidenten-Sessel, auf den sie keine Chance haben. Im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts hatte Bismarck den katholischen Würdenträgern illoyales Verhalten vorgeworfen. Im Zweifelsfall würden sie dem Papst folgen und nicht dem Willen der nationalen Regierung.

Die Volkskirchen nähern sich unauffällig den radikalen Biblizisten in ihren Reihen. Mehr als 2500 Fundi-Christen demonstrierten am Samstag in Berlin gegen Abtreibungen. Es war die bisher machtvollste Demonstration fundamentalistischer Jesus-Anhänger in der Hauptstadt. Es gab Slogans wie „Gegen Abtreibung und Euthanasie“.

Gleichwohl gab es Unterstützung für die rechten Jesuaner durch namhafte CDU-Politiker wie Kauder und Vertreter des Vatikans wie Kardinal Meisner, der noch nie Probleme hatte, das Selbstbestimmungsrecht der Frauen mit Nazimorden in Verbindung zu bringen.

Auch die Evangelikalen suchen verstärkt die Nähe zu den etablierten Kirchen. Jeder Eingriff des Menschen in Gottes Schöpfung, lehren sie, sei Sünde. Das Lebensrecht des Ungeborenen stehe über dem der Frau.

Offensichtlich ernähren sich die Nachkommen der Pietisten nur von Luft und Gottes Wort, benutzen weder Auto noch U-Bahn, alles andere wären Eingriffe in die unberührbare Schöpfung. Machet euch die Erde untertan, aber so, dass niemand etwas merkt.

(Jennifer Stange in der TAZ: Kreuze vorm Kanzleramt)

 

Äthiopiens Entwicklung steht vor einer entscheidenden Weichenstellung. Es geht nicht in Richtung Demokratie, obgleich das Land schon viel Hilfe von westlichen Staaten erhalten hat. Das Vorbild heißt China.

Nicht nur in Äthiopien, in ganz Afrika werden die Chinesen immer einflussreicher. Es könnte sich eine ähnliche Entwicklung wie im Kalten Krieg anbahnen. Eine Hälfte des Planeten für den Westen, die andere für den Osten. Nur, dass die Front nicht zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern zwischen kapitalistischem Sozialismus auf altchinesischer Grundlage und kapitalistischem Kapitalismus auf christlicher Grundlage verläuft.

Die Attraktivität des Westens schwindet. Nun auch auf seinem bislang stärksten Terrain: der Wirtschaft. Die Krisen zeigen, dass nicht mal die Kapitalisten ihr ureigenes Handwerk beherrschen. Vielleicht sind Sozialisten doch die besseren Experten im Geldmachen, Naturschänden und in zukunfts-festen Phantasmagorien? (Wolbert G.C.Smidt in der TAZ: Kafka kam bis Addis Abeba)

Es geht um das Phänomen der globalen Konvergenz. Die Blöcke und Systeme nähern sich einander an und treffen sich in der Mitte. Die totalitären Systeme öffnen sich und überlassen ihrer Bevölkerung immer mehr Spielräume – auch in Kuba –, die westlichen Staaten nähern sich Orwell‘schen Überwachungsstaaten, die vor Menschenrechtsverletzungen nicht zurückschrecken.

Das Internet vermittelt dem abgeschiedensten Volk einen Blick in die Welt. Ein Schmetterlingsflügelschlag in Peking, ein cineastisches Machwerk in Kalifornien, und die ganze Welt wird von den Folgen dieser Peanuts überflutet.

Anders als es im Kalten Krieg schien, können die Blöcke nicht mehr apart nebeneinander stehen. Keine Mauern sind mehr in der Lage, die Menschheit voneinander zu trennen. Der allgemeine Wettbewerb, die planetarische Vernetzung aus Wirtschaft, Technik und Lebensgefühl strömt wie ein riesiger Tsunami rund um die Erde und egalisiert alle nationalen Sonderwege und uralten spezifischen Gewachsenheiten.

Die konvergente Entwicklung ist eine Chance und eine Gefahr. Die Chance besteht im Zusammenwachsen, im Ablegen der Fremdheiten, in der Möglichkeit einer universellen Weltkultur. Die Gefahr besteht in der Generalisierung des Trennenden und einer universellen Machtballung in Form einer weltweiten Hierarchie.

Was bislang unverbunden nebeneinander lag, könnte in Zukunft vertikal untereinanderliegen. Die Konflikte sind keine Unterschiede mehr zwischen Orient und Okzident, China und dem Westen, Demokratien und Despotien, sondern zwischen koalierenden Machteliten – gestützt durch Geld, Militarismus und Religion – und dem planetarischen Pöbel, der keinerlei Chancen mehr besitzt, die neue Planetokratie zu stürzen.

Die Eliten der Welt sind sich vertrauter als die jeweiligen Völker. Die Gewerkschaften haben in der Globalisierung der Arbeiterschichten versagt und unterstützen bornierte Nationalinteressen. Die eigene Jacke ist ihnen näher als die chinesische Hose.

Die Jetset-Schichten sprechen dieselbe Sprache der Macht, haben dieselben Ziele der Macht und sind wesentlich pragmatischer und unideologischer, als sie nach außen zu erkennen geben.

Der geografische Kampf zwischen Ost und West, Nord und Süd und verfeindeten Regionen geht seinem Ende entgegen. Der totale Triumph der hierarchischen Vertikale ist das Ziel schrumpfender Eliten über die Vielzuvielen, die in Bälde zu nichts mehr nütze sein werden. Nicht mal mehr zu sklavenartigen Lakaien, denn es wird genügend intelligente und servile Roboter geben.

Die nationalen Scheren verwachsen immer mehr zur unaufbrechbaren Globalschere, wo wenige exklusive Zentren der Macht in ausgewählten, nach allen Seiten verpanzerten Erdidyllen den belanglosen Rest degenerierter Mehrheiten nach Belieben unterdrücken werden. Diese Utopien der Mächtigen müssen nicht formuliert oder ausgesplaudert werden, sie sind der heutigen Entwicklung immanent. Orwells 1984 wäre eine Idylle gegen sie.

Man muss nur eins und eins zusammenzählen, um aus den Gesetzen der Gegenwart die „offene“ Zukunft zu errechnen, die alles andere als offen ist. Wenn wir uns nicht widersetzen, verengen sich die Perspektiven täglich mehr und vermindern sich die Freiheitsgrade. „Offenheit“ ist zum Geheimkürzel des Gegenteils geworden.

Da fügt es sich, dass die Massen keine humanen Visionen als Gegenentwürfe aufstellen dürfen. Jedes volkstümliche Schlaraffenland wird als Arkadien der Faulen und Trägen geächtet – auch von Kant, dem protestantischen Anbeter der kategorischen Maloche. Oder es wird als unbefugtes Utopisieren unter Totalitarismusverdacht gestellt. Mit dem theologischen Argument, wer den Himmel auf Erden errichten will, werde die Hölle etablieren.

Hayek und Popper beziehen sich dabei auf Hölderlins Sätze aus Hyperion: „Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“

Auch der edle Griechenfreund Hölderlin war kein Freund der Demokratie. Das kümmert heute keinen Germanisten in demokratisch finanzierten Hochschulen. Selbst Popper ist nicht aufgefallen, dass Hölderlin den autoritären Staat des Absolutismus im Sinn hatte.

Heute noch kann man Bischöfe wie Huber mit Verachtung vom Staat sprechen hören, der sich erdreiste, den Kindern in der Schule Moral zu predigen. Moral ist heilig und darf nur von Sprechern des Himmels in bekenntnis-borniertem Religionsunterricht verabreicht werden.

Priester aller Konfessionen haben es verstanden, den demokratischen Staat als kaltes Ungeheuer und technisches Machtinstrument zu disqualifizieren. Dass Demokratie eine moralische Anstalt ist, die alle Menschen als gleich wertvoll und würdig betrachtet, ignorieren sie – oder verfälschen diese Vernunftmoral in ein Geschenk des Himmels. (Hier treffen sie sich mit Dabbelju und seinen Betbrüdern, die sie sonst nicht genügend verachten können.)

Bei uns genügt Gott im Vorwort und die ganze Verfassung muss gottebenbildlich sein. Das kann nur sagen, wer bereits auf Erden im Zustand himmlischer Verzückung ist.

In einer lebendigen Demokratie gibt es keinen Staat, sondern nur demokratische Einrichtungen. Das Volk entscheidet sich, wie es sich mit Hilfe der Politik gegenseitig zu erziehen gedenkt. Moralfreie Politik und Wirtschaft gibt es nur in Dax-Gehirnen.

Demokratie ist eine Lern- und Moralgemeinschaft, die sich mit Argumenten streitet, zusammenrauft, Kompromisse schließt und mehrheitlich entscheidet. Ist sie das nicht, ist sie keine Volksherrschaft.

Der Staat „darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann“, so Hölderlin. Dabei denkt er an Liebe und Geist. Hier zeigt sich, dass der wackere Schwabe nur an Zwangsstaaten denkt, doch die Athener Polis nicht zur Kenntnis genommen hat. Bestünde eine Demokratie nur aus Leuten, die man zum gesetzmäßigen Verhalten zwingen muss, könnte sie einpacken. Demokratisches Handeln aus Überzeugtheit kommt bei Hölderlin nicht vor.

Freiheit ist Einsicht ins Recht oder ins Gesetz, und eben keine neoliberale Kraftmeierei, die über Tische und Bänke springt. Ist denn der Himmel eine Demokratie, dass man ihn auf die Erde holen sollte?

Joachim di Fiore war der erste, der den Himmel auf die Erde holte. Er war Theologe und kein Demokrat. Der Himmel auf Erden bei di Fiore ist die theologische Extremisierung der platonischen Politeia, also ein theokratischer Faschismus.

Hätte Hölderlin den mittelalterlichen Italiener gemeint, wäre seiner Kritik zuzustimmen. Hat er aber nicht. Er denkt an den säkularen Staat, der sich erkühnt, den Menschen glücklich zu machen.

Glück ist nicht nur verboten und dem Menschen auf Erden unerreichbar, es macht – wie bei Kant – die irdische Kreatur vollständig kreativ- und handlungsunfähig. „Glücklich sein, heißt schläfrig sein im Munde der Knechte.“ Glück scheint nur Herren vorbehalten, die sich Schläfrigkeit leisten können.

Man fragt sich, wie eine Mußegesellschaft, die das Glück des irdischen Lebens pries, zur genialsten und kreativsten Gesellschaft Europas werden konnte.

Bei aller Graecomanie blieb der Freund Hegels und Schellings ein Theologe, der es für Sünde erachten musste, den Menschen im irdischen Jammertal das Glück zu bescheren. Glück ist kontraproduktiv, erwirtschaftet keine „Werte“, die man summieren kann. Wären Menschen glücklich auf Erden, würden ihre „vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern“, wie Kant formulierte.

Nur Unglück macht produktiv. Eine zufriedene Gesellschaft würde ökonomisch untauglich werden. Also muss die moderne Gesellschaft unter Unglück, Depressionen und Erschöpfungszuständen gehalten werden, dass die Pflicht zur Maloche nicht verloren geht. Schon assistiert der moderne „Glücksforscher“, dass er Glück generell für überbewertet halte, ohne dass er zwischen Lustorgien und angstfreier Sorglosigkeit penibel unterscheiden würde.

Nach Hayek sollte der Mensch sich aus dem Kopf schlagen, sein Schicksal auf Erden für machbar zu halten. Dazu reiche sein Grips nicht aus. Die ganze Evolution sei nie auf dem Verstand des Menschen gewachsen, sondern habe sich über seinen beschränkten Verstand hinweg entwickelt. Die gesellschaftliche Ordnung ist „nie rational konstruiert oder bewusst gemacht worden, sondern in einem Entwicklungsprozess gewachsen, in dem sich langsam das Erfolgreiche durchgesetzt hat und imitiert wurde.“ (Hayek: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit)

Der Mensch wird von übermenschlichen Mächten dominiert, die nicht das Richtige, sondern das Erfolgreiche auf den Weg gebracht hätten. Diese Prozesse könne der Mensch nur imitieren. Durch Lernen und Erkennen sein Schicksal bestimmen – sei Wahnwitz.

„Diese ganze Vorstellung, dass der Mensch bereits mit einem Verstand ausgestattet ist, der fähig ist, sich eine Zivilisation auszudenken, und sich daran gemacht hat, diese zu schaffen, ist grundlegend falsch“, so Hayek definitiv.

Obwohl Popper begeisterter Sokratiker war, an die Lernfähigkeit des Menschen durch Versuch und Irrtum glaubte, auch an dessen Kompetenz, Schritt für Schritt seine Verhältnisse zu verbessern, unterwarf er sich in der Frage des Utopieverbots seinem großen Freund und Gönner.

Utopieverbot ist Glücksangst und Paradiesverbot. Aus eigener Kraft darf der Mensch den Sündenfall nicht rückgängig machen und in hybrider Selbstüberschätzung den Garten Eden zurückerobern wollen.

Der Garten Eden jedoch war kein Geschenk des Himmels, sondern die Erfindung des Matriarchats, die sich ein illusionärer Supermann, Gott genannt, in einem fiktiven Himmel widerrechtlich aneignete und seit diesem Ideenraub dem Menschen mit fürchterlichen Drohungen verbietet, die Einheit mit der Natur in autonomer Kraft anzustreben.

Den Ohnmächtigen wird mit allem Aufwand an Gelehrsamkeit und priesterlicher Raffinesse eingebläut, dass sie für immer utopie- und glücksunfähig seien. Während die Majorität der Menschheit inzwischen verinnerlicht hat, dass sie zu dumm und dämlich sei, menschliche Verhältnisse auf Erden einzurichten – läuft der Triumphzug der Eliten unbehindert und in Höchstgeschwindigkeit in ihre utopische Zukunft: in die der grenzenlose Beherrschung des Planeten.

Das doppelte Ziel des Zuges bleibt unausgesprochen, obgleich es vor aller Augen liegt: das neue Paradies für die Erwählten, die ewige Misere für die Verdammten. Was man verbergen will, muss man nur öffentlich machen.

Wenn wir nicht beginnen, gemeinschaftlich zu beratschlagen, wie wir in Eintracht zusammen leben können, wird man uns in Kürze Utopien servieren, bei denen uns die Augen übergehen werden.