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Montag, 23. Juli 2012 – Geist und Natur

Hello, Freunde der Gerechtigkeit,

in fast allen europäischen Ländern haben die Reichen mehr Geld als der Staat Schulden. Auch in Deutschland, Italien und Frankreich. In Deutschland besitzen 10% aller Reichen 61% des Volksvermögens.

Wenn die Reichen nur 10% mehr Steuern bezahlen würden, würde das eine Summe von 230 Milliarden einbringen. Die große Masse der Bevölkerung würde verschont.

Bisher wurden die Reichen extrem von Steuern entlastet, die Hauptlast lag auf den Armen und Mittelschichten. Durch die Rettungspakete profitieren die großen Vermögen, die kleinen Immobilienbesitzer werden aus ihren Wohnungen getrieben. Viele Reiche deponieren ihre Gelder in Steueroasen. (Ulrike Herrmann in der TAZ)

In Spanien wurde die Immobiliensteuer in vielen Gemeinden um 10% angehoben. Das bringt etwa eine Milliarde Euro. Die katholische Kirche ist ausgenommen. Müsste sie auch Steuern zahlen, würde das 1,5 Milliarden einbringen. Die Kirche ist wie immer auf der Seite der Reichen und blutet das Volk aus.

In Deutschland nicht anders. Sie denkt gar nicht daran, für Gerechtigkeit einzutreten und die Reichen zur Kasse zu bitten. Dann wäre sie selbst fällig. Gläubige schützen ihre Kirche wie pädophile Opfer ihre elterlichen Peiniger. Man schämt sich für seine Autoritäten und deckt den Mantel der Liebe über sie.

Die Kirche profitiert vom Glauben, dass sie sozial, gerecht und reichenkritisch sei. Das war sie nie und wird es nie sein. Die Schäfchen der Kirche sind

wie Kinder, die ihre depressiven und arbeitsunfähigen Eltern versorgen, ihre Hausarbeit übernehmen, die kleineren Geschwister betreuen, die Alten trösten und ihnen Medikamente verabreichen.

Hunde trösten ihre Herrchen dafür, dass sie sie schlagen mussten. Die Welt lebt vom Langmut und der unermesslichen Hingabefähigkeit der Schwachen und Getretenen.

 

Auf amerikanische Amokläufe reagieren Deutsche unisono: Waffen weg, die Waffenlobby begrenzen. Wer sich legal im nächsten Waffengeschäft Tötungsmaschinen besorgen kann, der wird es auch tun. In New York kann man an der Straßenecke keine Zigaretten kaufen, aber sich mit Sturmgewehren eindecken. Selbst die amerikafreundliche BILD ist empört.

In Amerika herrscht die Meinung, der Staat solle sich aus dem Leben der Bürger heraushalten. Auch ihre Gesundheit ginge den Staat nichts an. Deshalb der große Widerstand gegen das staatliche Gesundheitsprogramm. Bei Deutschen und Amerikanern hat sich noch nicht herumgesprochen, dass der Staat sie selber sind, die die Probleme der Gemeinschaft nach Gesetzen regeln, die sie mehrheitlich beschließen.

Die amerikanische Waffenindustrie wird von Amoklauf zu Amoklauf stärker. Je mehr geschossen wird, je mehr steigt das Bedürfnis, sich selbst zu bewaffnen.

Zu Recht aber sagt die Lobby, nicht Waffen schießen, sondern die Besitzer der Waffen. In einer pazifistischen Menschheit könnte man Atomraketen mit rotem Abschussknopf an jeder Straßenkreuzung installieren – es würde nichts passieren.

Die Frage nach den Ursachen der psychischen Militarisierung der Bevölkerung wird nie gestellt. Bei uns gibt es nicht so viele Morde wie in Amerika, aber noch zu viele. Wer keine Pistole hat, hat ein Messer. Das Waffenproblem ist das eine, die wahren Ursachen der Friedlosigkeit sind das andere. Nach ihnen wird nicht mehr gefragt, auch in Deutschland nicht.

Es ist zum Naturgesetz geworden, dass Menschen sich untereinander im Kriegszustand befinden. Die Rolle der kollektiven Kunst, der massenpsychologischen Hauptfaktoren wie Werbung, Fernsehen, Medien wird nicht mehr befragt.

Bei uns darf die Kunst gar nicht moralisch sein, sonst ist sie langweilige Moralpredigt im erschlichenen Kostüm der Kunst. Kunst muss die Faszination und die Abgründe des Bösen, das Geheimnisvolle, Unauslotbare und Irrationale – den emotionalen Humus des Bösen – zur Darstellung bringen.

Wäre es sinnvoller, die charismatische Darstellung des Bösen zu verbieten? Verbieten des Unerwünschten ist immer der Kollaps einer Gesellschaft, die noch halbwegs den Begriff Mündigkeit buchstabieren kann. Wer verbietet, verrät das letzte Vertrauen in die Gesellschaft, sich durch Aufklärung fortzuentwickeln.

Warum aber gibt es keine Debatten um die zwanghafte Fixiertheit der Traumfabrik Hollywoods auf Grausamkeiten der exquisitesten Art und Weltuntergänge vom Feinsten? Woher rühren die unersättlichen Kollektiv-Phantasien des Zerstörens und Ausrottens? Die Hassorgien auf das gelungene Leben?

Die Welt hat sich Machtmittel der außerordentlichen Art und von eminenter Reichweite zugelegt. Bei uns sind Waffen verpönt, mit denen man Menschen mit Leichtigkeit beschädigen und auslöschen kann. Doch die wirksamsten Waffen, das Leben anderer zu ruinieren, stehen auch bei uns an erster Stelle: die Waffen der Ökonomie.

Das normale Grundgesetz des Kapitalismus lautet: wer Erfolg hat, soll gewinnen. Wer nicht, soll Bankrott machen. (Schließlich kommt Bank-rott von verrotteter Bank.) Das ist das eherne Gesetz des wirtschaftlichen Darwinismus, das die Evolution in ihrer Güte und Fürsorglichkeit für uns ausgebrütet hat.

Die mächtigsten Institutionen sind von dieser Regel ausgenommen, sie beanspruchen, über dem normalen Gesetz zu stehen. Wenn man will: Banken sind Religionen unter den Mächten der Welt. Für sie müssen Sonderkonditionen eingeräumt werden. Sie sind unkaputtbar und wachsen von Kollaps zu Kollaps.

Man kennt die Geschichte des Religionsgründers Jesus, der sich dem Tod und der Hölle auslieferte und ihnen seine Unkaputtbarkeit vor Augen führte. Je mehr er gequält und gemartert wurde, je mehr demonstrierte er seine Qualität als unüberwindlicher Herrscher des Universums. Unersetzliche Institutionen müssen immer gerettet werden, denn sie sind too big to fail.

Die Analogie zu Taufe und Beschneidung liegt auf der Hand. Was dem irdischen oder ewigen Heil dient, ist zu wichtig für die Menschheit, als dass es wie das Ordinäre behandelt werden dürfte. Das Außerordentliche ist unersetzbar und muss außer-ordentlich – außerhalb der Ordnung – behandelt werden.

Alles Heilige ist per definitionem too big to fail, womit bewiesen, dass Banken und Kirchen in derselben heiligen Liga spielen und Sonderrechte einfordern dürfen. Mit diesen nicht sterben und verrotten könnenden Superwaffen kann man viele Menschen entwürdigen, beschädigen, arm und elend machen, ja durch Mangel zu Tode bringen.

Wenn man Waffen verbieten will, damit nicht jeder intelligente, isolierte, vor Gewaltphantasien berstende High-School-Absolvent das nächste Kino zu einem Armageddon machen kann, müsste man noch viel dringlicher die finanziellen Bazookas in Börsen und Spekulationsgeschäften in die Luft sprengen, damit Afrika nicht weiter von Leuten mit großen Geldbörsen ausgeraubt, aufgekauft und ausgeplündert wird und die eigene Bevölkerung ins Gras beißen muss.

Gegen die Waffen der Finanzbörsen haben die Deutschen nichts einzuwenden. Jedem vor Ehrgeiz zerfressenen Wicht bläst man hier in die Ohren, er solle sich auf schnellstem Weg jene Finanzwaffen besorgen, BWL studieren, ins Mammongeschäft einsteigen, um in der Welt eine Sonderrolle zu spielen. Das geht nicht ganz so einfach wie der Erwerb einer Kalaschnikow, ist aber mindestens genau so legal.

Zudem wird man von allen beklatscht, wenn man Erfolg hat, in den Vorstand einer Bank einrückt und Geldgeschäfte in derart riesigen Ausmaßen tätigt, dass man nicht die geringste Ahnung haben kann, welche Folgen sie auf der Welt haben werden. Wobei es Lebensmittelspekulanten völlig schnuppe ist, welches Elend sie anrühren. Wenn sie tun, was ihres Berufes ist, ist die Sache gerechtfertigt.

I do my job. Das ist die calvinistische Variante des lutherischen Satzes: jeder bleibe in dem Stand, in den Gott ihn berufen. Der calvinistische Stand besteht nicht darin, ein ganzes Leben lang Körbe zu flechten, sondern ein Leben lang Money zu machen.

 

Also, woher das Böse? Erst mal ein paar Kinderfragen. (Leute, die nur komplex können, bitte ein paar Takte weghören.)

Hat jeder Mensch die gleichen Anlagen zum Gut- und Bösesein? Steckt in jedem Menschen ein Breivik, ein Aurora-Amokläufer? Hatte Thomas Mann Recht, von Bruder Hitler zu sprechen? Steckt in jedem Menschen auch ein Gandhi?

Wenn man die gewöhnlichen Gazettenartikel liest, hört man die Botschaft: „Jeder Mann (Frauen sind wieder außen vor!) kann in den „Killermodus“ kommen. Moral und Erziehung dämmen die Instinkte nur ein.“ So der Neuropsychologe Thomas Ebert in der BZ.

Neuropsychologen sind die Theologen von heute. Gleichgültig, welche Fragen man hat, Theologen gucken in den Himmel, Gehirnforscher in das Gehirnkastl und, schwupps, wissen sie über alles Bescheid.

Der Gehirnexperte Gerhard Roth weiß zwar noch nicht alles, aber sicher in Kürze. Er weiß auf jeden Fall, dass bei Gewalttätern jenes Areal, welches für Schmerz und Empathie zuständig ist, kaum reagiert. Doch dieses Manko sei nicht angeboren. Umwelteinflüsse könnten das Gehirn verformen.

Neulich hörte man von Beschneidungsfans, dass Knaben von acht Tagen noch schmerzunempfindlich seien. Sollten sie etwa die Anlage zum Terrorismus per Erbsünde mitgebracht haben?

Descartes war der Meinung, dass Tiere schmerzunempfindliche Maschinen sind, weswegen man sie getrost quälen und torturieren könnte, sie spürten eh nichts. Auf diesem Weg erfahren wir, dass Knäblein immerhin schon das Niveau von Tieren erreicht haben – wozu nicht alle Ebenbilder Gottes fähig sind.

Wenn aber nicht angeboren, sollte man sich nicht der Umwelt annehmen und ihr ins Gehirn schauen? Ist Umwelt nicht die konkrete Gesellschaft mit konkreter Geschichte, konkreter Religion? Sind die verschiedenen Gesellschaften nicht ganz verschieden? Macht es keinen Unterschied, ob ich in den Clan der Bushs in Amerika hineingeboren werde oder in einen Indiostamm am Amazonas?

Indem man immer nur abstrakt von Umwelt spricht, gehen die kleinen Unterschiede verloren. Dann müssten Gehirnforscher und Anthropologen sich vielleicht mit spezieller Geschichte beschäftigen und könnten nicht einfach von dem Menschen sprechen. Dann wären sie aber keine Naturwissenschaftler mehr, sondern Geisteswissenschaftler und gehörten zu den erbärmlichen talking sciences.

Dem Artikelschreiber fällt gar nicht auf, dass die beiden Neuropsychologen diametrale Aussagen machen. Für den einen kommt das Böse aus der Umwelt und ist nicht angeboren. Für den andern muss es angeboren sein, denn die Umwelt könne es dämpfen. Jederzeit aber könnte es wieder aktiviert werden.

Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat erneut ein berühmt-berüchtigtes Nazi-Polizeibataillon untersucht und festgestellt, dass nur wenige Polizisten die Beteiligung an Massenerschießungen verweigert hätten. „Gut und Böse waren von den Nazis längst umdefiniert.“

Es wird immer mysteriöser. Folgen wir Roth, hätte Hitler gar nichts umdefinieren müssen. Er musste nur ungeprägten Gehirneigenschaften seinen Stempel aufdrücken – vorausgesetzt, die Polizisten waren noch jung und nur vom NS-Ungeist infiziert. Wären sie älter und von der Vor-Hitlerzeit geprägt gewesen, dann wären sie umgepolt worden.

Folgen wir Elbert, hätte Hitler nur die Stimme der Natur frei legen müssen, von einer Umpolung des Menschen könnte gar keine Rede sein. Sollte Hitler etwa im Einklang mit der Natur …? Dann müsste die Natur eindeutig böse, ja nationalsozialistisch gewesen sein.

Hurra, die christliche Zivilisation ist gerechtfertigt, wenn sie die böse Natur jeden Tag zur Raison und das angeborene Böse zum Dämpfen bringt.

Zufälligerweise gibt’s einen hochinteressanten Artikel in der WELT über Zwillingsforschung. Man erinnere sich jener legendärer Zwillingsforschungen, wo man per Zufall getrennte Zwillinge untersuchte und feststellte: obgleich sie in ganz verschiedenen Umwelten aufwuchsen, waren sie in vielen Punkten in verblüffender Übereinstimmung. Ein paar statistische Rechnereien und das Ergebnis lag auf dem Tisch: 80% angeboren, der klägliche Rest umwelt-geprägt.

Alle Eltern atmeten erleichtert auf, dass sie nur noch zu 20% am Elend ihrer verkommenen Brut schuldig sein konnten. Das war ein Persilschein für alle Pädagogen wie schon seit Erfindung der angeborenen Erbsünde nicht mehr: hier jedoch mit dem Siegel der Wissenschaft.

Nun kommt die neueste Zwillingsforschung auf ganz andere Ergebnisse. Schon im Mutterleib sollen die süßen Kleinen verschiedene Wege gehen, obgleich die Umwelt die identische ist. Schuld daran ist der Vorgang der Methylierung, der die DNA der Zwillinge schon im Bauch der Mutter verschieden prägt.

Ist denn das die Possibility? Der eine Zwilling erlebt was anderes als der andere? Sollte dieser frühreife Nachwuchs schon im zartesten Alter profilierungssüchtig sein? Oder sollte das unreifste Lebewesen bereits ein individuum ineffabile sein – ein unvergleichliches Einzelstück aus dem unendlichen Repertoire der Natur? (Pia Heinemann in der WELT)

Dann wäre jener von Selbsthass gezeichnete amerikanische Lehrer endgültig widerlegt, der seinen Erziehungsobjekten ins Gesicht schleuderte, sie seien nichts Besonderes. Ihm und seinen Kollegen wäre das Kunststück gelungen, die von Mutter Natur gelieferten Unvergleichlichkeiten per High-School in ordinäre Fabrikware des homo americanus zu verschandeln.

Damit keine Missverständnisse entstehen, das Unvergleichliche der Natur ist nicht identisch mit dem „Besonderen“ der kapitalistischen Drillindustrie. Letzteres ist völlig uniformiert und muss tun, was alle Ehrgeizzerfressenen der kapitalistischen Besonderungseliten schon immer tun mussten: reich und mächtig werden und dafür sorgen, dass die Reichen und Mächtigen bis zur Wiederkunft des Messias die Peitsche schwingen.

Das Unvergleichliche zeichnet sich nicht dadurch aus, dass es etwas Besonderes und Außer-Ordentliches sein will. Diese Demonstration hat es nicht nötig. Am liebsten vergleicht es sich mit anderen Unvergleichlichen, erkennt sich in ihnen, streitet und versöhnt sich mit ihnen. Um es mit dem Herrn zu sagen: Wer es fassen kann, fasse es.

Doch was hat diese geheimnisvolle Methylierung mit der Mutter zu tun, die im Artikel zur anonymen Umgebung degradiert wird? Sollte es etwa so sein, dass die Mutter sehr verschiedene Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle hat – die sie in chemische Stoffe verwandelt, um sie den werdenden Menschlein in verschiedenen Dosierungen mitzuteilen?

Wir wissen nicht, wie der „Geist“ die „Natur“ prägt, zumal der Geist selbst Natur ist, weder jenseitig-unnatürlich, noch materiell-geistlos. Die Materialisten wollten der Natur die Gedanken austreiben; der Idealismus – die Theologie im philosophischen Kittel – dem Geist die Natur.

Wir wissen aber, dass Geist und Natur eine Einheit bilden, wenn auch in verschiedenen „Sprachen“ und „Methoden“. Und also wissen wir, dass wir durch Geist frei und durch Gesetze der Natur gebunden und ein Wechselspiel aus Freiheit und Naturgesetz sein müssen. Das weiß doch jedes kleine Kind. Die Gehirnforscher sollten sich mal mit ihren Kindern unterhalten, damit sie was Vernünftiges zu hören kriegen.

Doch was wissen wir jetzt über Herkunft, Ausmaß und Beschaffenheit des Bösen – und seine methylierende Wirkung auf das Gute? Da stehen wir nun betroffen: der Vorhang zu und alle Fragen offen.