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Tagesmail

Montag, 23. Januar 2012 – Brennende Liebe

Hello, Freunde Ägyptens,

die von Mubarak verbotenen, im Westen dämonisierten, Islamisten haben die Wahl überragend gewonnen. Die westlich-liberale Tahrirgruppe kam nur auf zwei Prozent.

Das islamische Gegenstück zu den Ultra-Orthodoxen in Jerusalem sind die Salafisten, die gen Saudi-Arabien ausgerichtet sind. Die Islamisten wollen eine Demokratie mit religiösen Elementen, die Scharia ist für sie eine Verpflichtung zur Gerechtigkeit, kein mittelalterliches Hackebeilchenprogramm. Eine Koalition mit den salafistischen Hardlinern kommt für sie nicht in Frage, ihr Vorbild ist die Türkei. Insgesamt wohl eine Art islamische CDU. Nun müssen sie – unter Beobachtung – liefern.

Sarko in Nöten. Der sozialistische Kandidat Hollande hat Chancen, den ausgelaugten Bruni-Gatten abzulösen. Er will die verlorene Würde Frankreichs retten: „Jede Nation hat eine Seele, die Seele Frankreichs ist die Gleichheit. Für die Gleichheit hat das Volk mit der Revolution von 1789 die Privilegien abgeschafft.“ (Kleine Fehlleistung der WELT: im Text steht „angeschafft“.)

Mit gutem Beispiel will er vorangehen und die Bezüge des Präsidenten und aller Regierungsmitglieder um 30% kürzen. Doch den französischen Traum eines von Generation zu Generation wachsenden Wohlstands will er nicht aufgeben. Unendliches Wachstum oder was? „Es ist dieser Traum, den ich mit neuem Zauber beleben will“.

Und wachstumskritisches Ökodenken gibt’s auch nicht bei den französischen Sozis? Das wird ein fauler Zauber, der auch den Gedanken der Gleichheit in Mitleidenschaft ziehen wird. Gleichheit muss für Menschen und Natur gelten, der reduzierte Blick auf die Franzosen ist nationalistischer Unsinn.

300. Geburtstag eines Philosophen auf dem Thron. Nach Stoiker Mark Aurel, seinem römischen Vorbild, erst der zweite und bislang letzte, zumal nach Ministrant Wulff sich schon

ein veritabler Pfarrer namens Gauck warmläuft.

Kein einziger Vorbild-Rufer rief nach einem Philosophen, Habermas ist zu alt, Sloterdijk ein Rudolf Steiner-Verschnitt. Bleibt nur noch Otfried Höffe, sonor sprechender Kantianer, der sich in der FAZ mit einem Artikel über den Großen Fritz im Lichte deutscher Denker in Erinnerung ruft.

Den Religionen ging der Flötenspieler, der deutsch wie ein Wagenkutscher sprach, dafür französisch umso besser, tatsächlich an den Kragen, dem absoluten Staat umso weniger. Jeder soll nach seiner Facon selig werden, heißt noch lange nicht, jeder soll nach seiner politischen Facon hier auf Erden selig werden. 

Ein aufgeklärter Absolutismus ist eine Beleidigung für die Aufklärung, die in der Generation Voltaire noch lange nicht demokratisch war. Erst ab der zweiten Generation Diderot, der den Preußen bejubelte, entdeckten die scharfzüngigen Kritiker allmählich das Volk, das treibende zukünftige Element der Revolution.

Auch Seiteneinsteiger Rousseau war kein Bewunderer der Meute, sondern trat für gelenkte Demokratie unter der Herrschaft eines allgemeinen Willens ein. Putin könnte sich in Rousseau wiedererkennen, wenn er ihn denn kennt.

Kant war Friedrich-Verehrer und, wie sein Vorbild, auch kein Demokrat, sondern trat für einen funktionierenden Rechtsstaat ein, alles Weitere käme dann wie von selbst.

Diese Lostrennung eines institutionalisierten Rechts von den Menschen, die solche Institutionen garantieren und mit Leben füllen müssen, geistert noch heute in der politischen Debatte herum, wenn deutsche Professoren – deren Lieblingsmonsterworte Konstituierung und Institutionalisierung sind – bei ausländischen Demokratieversuchen patriarchalisch daran erinnern: Hauptsache, das  Rechtssystem funktioniert, das Volk soll sich damit zufrieden geben. Übertriebener Demokratismus sei von Übel.

In Höffes Artikel kommen alle typisch deutschen Gelehrten-Blindheiten vor. Dass Platons Plädoyer für Philosophenkönige der Ursprung des europäischen Faschismus war, muss man hierzulande nicht mehr zur Kenntnis nehmen, zumal der Name Popper eh nirgendwo mehr auftaucht. So wird die verhängnisvolle deutsche Platonverehrung ungerührt weitergeschrieben.

Für so viel ideologische Unterstützung können sich die medialen und wirtschaftlichen Platoniker bedanken, die sich des Volkes erbarmen, indem sie ihm gnädig sagen, wo’s lang geht.

In seinem berühmten Aufsatz über die Frage: Was ist Aufklärung? zitiert Kant Friedrichs Zynismus. „Räsonniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt, nur gehorcht!“ Für Höffe alles andere als ein Zynismus, sondern eine berechtigte Forderung und Erinnerung, dass weder „Amtsinhaber noch Bürger ihre entsprechenden Pflichten im Namen der Meinungsfreiheit verletzen dürfen.“ Damit rede Kant „nicht einem Rest an Autoritätsgläubigkeit das Wort.“

Doch, tut er, und nicht nur zu einem Rest, sondern volle Kanne. Kant hielt nichts vom Mitspracherecht der Meute und reduzierte das sapere aude auf Selbstdenken, Selbsthandeln war nicht vorgesehen.

Dass Selbstdenken ohne Selbsthandeln auf Dauer unmöglich ist, scheint Höffe in bester deutscher Innerlichkeitshaltung entgangen zu sein. Offenbar ist er Spätromantiker und huldigt dem Lied: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?“ Solange subversive Gedanken in der innerlich unsterblichen Seele verbleiben, hat kein Despot Probleme mit der Aufklärung.

Der kantisch-friederizianische Patriarchalismus liegt bei Höffe in guten Händen. Dass eine Demokratie nicht nur aus Pflichten, sondern auch aus Rechten besteht – kein Hinweis im obrigkeitsfreundlichen Artikel. Meinungsfreiheit ja, solange sie keine von Gott gegebenen Ämter betrifft. Wulff ist praktizierender Kantianer und Friederizianer.

Whistleblowing wäre bei Sekundant Höffe eine pflichtvergessene Amtsverletzung, selbst wenn ein Krämerladen noch kein Amt ist. Könnte aber bei dieser devoten Haltung noch werden. Dass nach Kant, ab den Romantikern und Hegel, Aufklärung in toto in Verschiss geriet, von Schopenhauer und Nietzsche gar nicht zu reden, fällt bei einem deutschen Philosophen gar nicht mehr auf. Schließlich wollte er in festrednerischem Goldton an Friedrich erinnern, nicht über Demokratiedefizite der deutschen Philosophie aufklären. Deutsche Gelehrte stellen sich vor die deutsche Philosophie wie Starjuristen vor den Bundespräsidenten.

„Polen müsse man verspeisen wie eine Artischocke“, hatte Polenfeind Friedrich geäußert. Heute liegt ein Großteil des ehemaligen preußischen Reichs auf polnischem Boden. In einem interessanten Artikel beschreibt die TAZ eine beginnende Annäherung junger polnischer Historiker an „ihren“ Friedrich, obgleich er unermessliches Leid über ihr Land gebracht hat.

Ein eindrucksvolles Beispiel für die heute dringend notwendige Integration Europas aus seinen geistigen Wurzeln. Europa kann nur zusammenwachsen, wenn seine Bürger sich dran erinnern, dass es nicht nur den Euro gibt, der eine kleine Weile die Nationen zusammenführte und sie nun in täglicher Beschleunigung gegeneinander führt. „Fällt der Euro, fällt Europa“, dieser denkwürdige Satz einer Frau Merkel gehört schon zur Grabrede des kollabierenden Kontinents.

In welchem Maß die deutsche Theologie die gedanklichen Grundlagen des Judenhasses in Nazideutschland lieferte, zeigt der ZEIT-Artikel über den protestantischen Neutestamentler Otto Michel, der in der Nachkriegszeit seine braune Vergangenheit verschwieg, sich gar als Widerständler ausgab und sich zum Freund des Judentums stilisierte.

Michel steht stellvertretend für die gesamte christliche Theologie und beide Kirchen, denen es mit Hilfe ihres Gottes wunderbar gelang, ihre Vergangenheit ins Gegenteil zu beschönigen. Selbst das Stuttgarter Schuldbekenntnis kam nur auf Druck der Alliierten und amerikanischer Kirchen zustande und sollte schnellstens wieder in der Schublade verschwinden.

Die Bekennende Kirche war ganz und gar nicht frontal gegen Hitler eingestellt, sondern protestierte nur gegen einzelne kirchenkritische Maßnahmen der Schergen. Selbst bei Wikipedia steht: „Eine einheitliche Opposition gegen das NS-Regime bildete die Bekennende Kirche nicht.“

Niemöller war selbst beim Führer vorstellig, um ihn – ganz nach dem Motto: wenn das der Führer wüsste – über die Schandtaten seiner untergeordneten Organe zu informieren. Im KZ genoss er als „persönlicher Gefangener des Führers“ nicht wenige Vorteile.

Die NSDAP beruhte auf einem „positiven Christentum“, tatkräftig unterstützt von den „Deutschen Christen“, zu denen die überwiegende Mehrheit der Kirchenmitglieder gehörte. Darunter die damals federführenden Theologen Emanuel Hirsch, Paul Althaus und Gerhard Kittel, dessen Lehrstuhl besagter Otto Michel eine Zeitlang innehatte. (Nachzulesen im Buch des amerikanischen Historikers Robert P. Ericksen: „Theologen unter Hitler“)

Seit 1933 forderte Kittel die Vernichtung der Juden, „falls sich das Judenproblem nicht ausreichend lösen lassen würde“. Das Totschlagen der Juden war für Kittel offenbar kein Verstoß gegen das „Liebet eure Feinde“. Wenn man Töten und Lieben als kompatibel betrachtet, darf man sich über den Liebesfuror der Christen nicht wundern.

Wer Feinde lieben will, muss Feinde haben. Und wenn er keine hat, muss er sie schaffen. Nirgendwo steht geschrieben: versuch, keine Feinde zu haben oder sie zu deinen Freunden zu machen. Im Gegenteil, das Lieben dient den Frommen nur, um sich himmlische Bonuspunkte zu verdienen. Der Feind hingegen dient nur als  Objekt, um „feurige Kohlen auf sein Haupt zu sammeln.“ ( Altes Testament > Sprüche 25,21 f / http://www.way2god.org/de/bibel/sprueche/25/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/sprueche/25/“>Spr. 25,21 f)

Die feurigen Kohlen wurden zur Agenda der SS-Schergen, bestens von bibelfesten Professoren instruiert und angeheizt. Da kann es nur eine makabre Richtigleistung der Wiedergeborenen sein, wenn sie im Stuttgarter Schuldbekenntnis formulieren: „Wir haben nicht brennend genug geliebt.“ Doch, haben sie. Bei solch klaren feurigen Bekenntnissen muss man noch immer die stets wiederkehrende Frage hören: Wie konnte ein gebildetes Volk wie die Deutschen ein solches Elend über die Menschheit bringen? Antwort: weil es seine Feinde brennend liebte.

Wie sehr die Wahrheit über Michel auch noch heute verschleiert wird, zeigt seine geglättete Biografie in Wikipedia.