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Montag, 20. August 2012 – Die feuilletonistische Epoche

Hello, Freunde der Barmherzigkeit,

Bischöfe sind Meister der Barmherzigkeit, unternehmen alles, um fremden Menschen zu helfen. Am liebsten fremden Kindern, die weit entfernt in Bangalore in Steinbrüchen arbeiten. Dazu müssen sie erst zu den Kindern fliegen, um sich persönlich ein Bild zu machen.

Zu diesem guten Zweck müssen sie erster Klasse fliegen, damit sie die Sitze zu Klappliegen umfunktionieren können, um zur Ruhe zu kommen, denn sie führen ein entbehrungsreiches Leben. Macht Summa summarum 7000 Euro aus dem Klingelbeutel. Bevor sie fremde Menschen lieben, lieben sie sich selbst.

Der katholische Bischof von Limburg mit dem aparten Namen Tebartz-van Elst lässt sich direkt neben dem Limburger Dom einen neuen Bischofssitz bauen, der nur 5,5 Millionen kostet. Zum Komplex gehören eine Privatkapelle für den geadelten Klerus und ein eigener Raum zur Aufbewahrung von Reliquien.

Bischöfe sind Meister der Barmherzigkeit zu sich selbst und zu morschen Knochen und Körperteilen von Heiligen – so die Definition der Reliquien.

 

Eine ähnliche Reliquien- und Heiligenverehrung, aber eher unter jungen Knochen, findet heuer in den Medien statt. Gestatten, sein Name ist Schirrmacher und sein Prophet Jakob Augstein. Man glaubt, Jakob porträtiere seinen Vater Rudolf, den Journalisten der Journalisten der Nachkriegszeit, wenn er schreibt,

der „Themen-Kapitalist“ setze auf „Akkumulation von Fantasie, sei ein Spekulant der Ideen und Entwürfe“.

Die Gen-Debatte, die Altersdebatte, die Internet-Debatte, die Finanzmarkt-Debatte: all diese Debatten habe der Ideenspekulant nicht erfunden, aber geprägt. Seit 10 Jahren bestimme er, „worüber wir sprechen und was wir denken“. Er sei ein Menschenfresser, charmant und gefährlich. Er benutze Menschen und demütige sie. Alle Kollegen beneideten ihn und würden ihn am liebsten mit der Schaufel erschlagen.

Es werde viel debattiert, doch erst wenn Er sich eines Themas erbarme und einen Bestseller darüber schriebe, debattiere die BRD, Europa, ach was, die Welt, seine epochenprägenden Platitüden.

Er kämpfe für die Revolution der „Dritten Kultur“ – was waren noch einmal die ersten beiden? –, für den Dialog zwischen „Gedanken und Gewerken, in dem die technologische Avantgarde mit dem Rest der Gesellschaft über Ziele und Risiken, Verantwortung und Ohnmacht, Herrschaft und Glauben, Menschenbilder und Identitäten streitet.“

Ohne Revolutionen am laufenden Band geht’s nicht. Dass das Netz eine Revolution sei und „nach einer Revolution die Dinge im Ernst anders sein werden als vorher“, das habe Er vor andern begriffen. Deshalb habe Er „sich selbst und uns allen“ ein Programm für die kommenden Jahre, pardon Jahrzehnte geschrieben.

Und das lautet: In Amerika – das kann nur in Silikon Valley sein, wo bereits komplementäre Geniedarsteller wie Gumbrecht und Diekmann bei der Avantgarde des Universums hospitieren – verkünde ein Genie namens Ray Kurzweil unter dem Beifall des amerikanischen Publikums, „dass noch zu unseren Lebzeiten die Computer den menschlichen Verstand übersteigen werden, und in Deutschland kennt man noch nicht mal seinen Namen Europa soll nicht nur die Software von Ich-Krisen und Ich-Verlusten, von Verzweiflung und abendländischer Melancholie liefern. Wir sollten an dem Code, der hier geschrieben wird, mitschreiben.“

Das klingt wie die neuapostolische Parusie des Heilands unter anonymen Bedingungen. Womit wir die Reihenfolge der Avantgarde rankingmäßig geordnet hätten: a) amerikanischer Kurzweil, b) deutscher Langweil c) smarter Hagiograph von Kurzweil und Langweil.

Jetzt dämmert uns allmählich das mediale Großkonzept Augsteins und warum er erst mit BILD-Blome den epochalen Dialog zwischen Gewerke und Gewürge einübt, bevor er sich an Ihn ranmacht, um gemeinsam das Projekt der Zukunft auszuhecken: die Alpha-Allianz aus FAZ, BILD, FREITAG und SPIEGEL, die den Deutschen beibringen wird, nicht länger dem Code der Welt hinterher zu hecheln.

Dieses grandiose Vordenkerblatt der Dritten Kultur jenseits von Ich-Krisen, Ich-Verlusten und abendländischer Melancholie wird – Sensation – nicht mehr von Menschen geschrieben werden. Sondern von denkenden Rechnern, die die ganze Menschheit, selbst Schirrmacher & Augstein, meilenweit überrunden werden.

Wie aber kann es sein, grübelt die nachhinkende Derrieregarde, dass nicht-, kaum- oder schlechtdenkende Menschen Maschinen aus der Leere ihres Kopfes erfinden, die ihre Erfinder im Denken überragen?

Kommen wir hier dem Geheimnis der Genesis auf die Spur, als ein Schöpfer den Menschen aus dem Nichts erschuf, der ihn sofort überrundete, sodass jener ihn eine Unheilsgeschichte lang stauchen musste, damit er seine Überlegenheit bis heute nicht bemerkt?

(Jakob Augstein im FREITAG: Wir töten, was wir lieben)

Die „dritte Kultur“ ist weniger die Versöhnung und Vermittlung der natur- und der geisteswissenschaftlichen Kultur. Sie will mehr. Sie will die zweite Schöpfung sein, die die erste in den Schatten stellen wird. Der Mangel der ersten war die Unfähigkeit des Schöpfers, die Überlegenheit seiner Geschöpfe neidlos anzuerkennen.

Bei der zweiten Schöpfung werden die Schöpfer der Maschinen diesen Fehler nicht mehr wiederholen, sie werden ihre eigenen Erfindungen wie Göttergestalten anbeten. Die Evolution geht unaufhaltsam ihren Gang, vom Alpha- zum Omegamenschen, wie Jesuit Teilhard de Chardin bereits in den 50ern auf dem Berg Patmos voraussah.

Neid, das vergisst man in frömmeren Zeiten gern, ist allererst die Eigenschaft der Götter, die es schwer ertragen, wenn naseweise Menschen sich ihnen gleichstellen. Als der Schöpfer anerkennen musste, dass der Mensch – es war nicht der brave Mann, sondern die vorwitzige Eva, die von dem Baum aß, der klug machte – ihm gleich geworden war, bestrafte er die frechen Empörer mit Verbannung aus dem Paradies, damit es jenen nicht zu wohl in ihrer Haut werde.

Nicht die Kleinen sind neidisch, sondern die Großen, Starken und Mächtigen, die Angst haben und zittern, dass die Kleinen sie einholen und überholen.

Um diese Angst und Eifersucht der Eliten, Autoritäten und Eltern zu dämpfen, haben dieselben die Schulen erfunden, um die unbestechliche Intelligenz der Kinder spätestens zum Eintritt ins Gymnasium auf Minuswachstum zu stellen.

Inzwischen haben es die Starken geschafft, den gelben Neid allen Schwachen in die Schuhe zu schieben, die es nicht ertrügen, wenn der Nachbar im Cadillac vorfahre.

Neid – oder Gerechtigkeit? So etwa klingt‘s in allen Talkshows, die Aristoteles nicht gelesen haben, bei dem Neid das korrektive Motiv zur Herstellung der Gerechtigkeit war.

Die Dritte Kultur soll die Kultur der neidlosen Neugötter werden, die devot auf dem Bauche vor ihren Produkten liegen werden – und schon lange dort bäuchlings liegen. Bislang konnten die Produkte mit dem IQ ihrer Erfinder nicht mithalten. Doch es tut sich was im Bereich der cleveren Maschinen.

Beim Schach kriegt kein Kasparow mehr einen Fuß in die Tür. Solange das mit mathematischer Kombinatorik zu tun hat, lässt sich’s noch leicht abwinken: einseitig begabte Vollidioten, diese luftgekühlten Elektroniker. Die Japaner sind viel weiter mit ihren menschenähnlichen Robotern, die mit Kindchenschema bereits in Altersheimen ihren christlichen, pardon, zenbuddhistischen Dienst tun.

Der Vorsprung der Japaner beruht auf ihrem nicht-dualistischen Weltbild. Der prinzipielle Gegensatz zwischen Stoff und Geist, Denken und Materie ist ihnen unbekannt. Ihre vielfältige Robotergemeinde ist für sie keine Götterschar, vor der man Kotau machen muss, auch keine leblosen Materieverbindungen, sondern eine Art niedliche Stiefgeschwister, mit denen man fast schon knuddeln und scherzen kann.

Ganz anders die dualistische Geniekultur des christlichen Westens, die nicht gleichberechtigt gradeaus, sondern hymnisch nach oben oder verächtlich nach unten gucken muss. So bei Kurzweil, Schirrmacher & Co.

Zwischen Amerika und Deutschland gibt es noch immer einen cultural lag, also einen Mangel an Gleichzeitigkeit. Die Amerikaner haben die Nase natürlich vorne, die Deutschen, wie schon seit dem 30-jährigen Krieg, immer stramm hinterher.

Während die Amerikaner sich – nicht ohne Selbstergriffenheit – als Kooperateure der Evolution verstehen, verstehen sich die Schirrmachers als Propheten der zweiten Reihe, mit welcher Rolle sie demütig vorlieb nehmen. Geschieht ihnen doch recht, dass die Nachkommen der jüdischen Genies nun den Ruhm von Gods own country vermehren und lange nicht mehr den des Landes der gehabten Vorsehung.

Kooperateure der Evolution heißt nicht, auf Du und Du mit dem amerikanischen Weltgeist. Das konnten wir beim Netz-Philosophen Weinberger feststellen. Einerseits schwoll er vor Stolz ob des grenzenlos befreienden Mediums, andererseits duckte er sich anbetend vor der globalen Vernetzung, die er aus Sand und Staub in den Stand einer allmächtigen Matrix-Göttin erhob.

Warum hat Sokrates keinerlei „Schanzen“ – so Beckenbauer für Chancen – in Amerika? Weil er nur Mäeut für ordinäre Menschlein war. Während die Amerikaner eine nagelneue Welt mit nagelneuen Göttern aus ihrem Kopf entbinden wollen.

Was Schirrmacher und sein Prophet Augstein in ihrer Verachtung der Ich-Krisen und abendländischen Melancholie nicht wissen, hängt mit ihrer biblischen Ignoranz zusammen. Der moderne Höhepunkt des fiebrigen Fortschritts war schon Propheten und Psalmsängern des Alten Testaments bekannt, die sich nicht genug darüber ereifern konnten, die Machwerke der Menschen zu verhöhnen:

„Die Götzen der Heiden“ – heute die der Frommen – „sind Silber und Gold, ein Machwerk von Menschenhänden. Sie haben einen Mund und können nicht reden, haben Augen und können nicht sehen. Sie haben Ohren und hören nicht, auch ist kein Odem in ihrem Mund. Ihnen werden gleich sein, die sie machen, alle, die auf sie vertrauen.“ ( Altes Testament > Psalmen 135,15 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/psalm/135/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/psalm/135/“>Ps. 135,15 ff)

Hier haben wir die beiden dualistischen Extreme der biblischen Kultur von anno jesajahu bis anno domini schirrmacheri vor uns (Betonung auf dem letzten e).

Dort wird jede autonome Fähigkeit des Menschen zur blasphemischen Hybris erklärt, weil sie eine Abnabelung von Gott bedeutet.

Hier wird jede Fähigkeit des Menschen zur Promovierung desselben zum creator omnipotens genutzt.

Prophete links, Prophete rechts, Diabolus links, Deus rechts: der Mensch in der Mitte wird zerquetscht.

Gerade die Minderwertigkeitsprobleme der geisteswissenschaftlichen Kultur führen zu einer eigenartigen Kompensation: wenn man den ganzen Tag nur mit folgenlosem Geist- und Buchstabengedöns vorlieb nehmen muss und Mars-Projektile fliegen derweilen kühl an der Redaktionsstube vorbei, ohne dass man ein einzig Schräublein drehen durfte, ja, da blickt man schon des öfteren bleich aus der Wäsche ob der eigenen Bedeutungslosigkeit.

Also muss man sich wenigstens als Voyeur der ersten Klasse – gemeinhin Prophet genannt – gebärden und mit einem besonders intimen Einblick ins Räder- und Geniewerk der Amerikaner aufwarten.

Aber auch hier bleibt die obligate Kinderfrage: Onkel Schirrmacher, was haben Maschinen – und seien sie in Zukunft noch so denkfähig, was beim derzeitigen Stand der Menschheit nicht sonderlich schwer ist – mit der Bewältigung von Papas Ich-Krisen zu tun?

Sollen etwa die neuen Superdenker als nächste evolutive Therapeutenklasse eingesetzt werden im Kampf gegen Burnout und die von Freud konstatierte Überidentität des Todestriebs mit noch töteren Maschinen?

Schon vor Jahrzehnten begannen die Amerikaner, den Menschen selbst da durch Maschinen zu ersetzen, wo es vielleicht besser gewesen wäre, auf Fleisch und Blut nicht ganz zu verzichten. Da gab es die Lerncomputer à la Skinner, heute stehen diese Dinger im Keller jeder anspruchsvollen Schule und konditionieren einstaubend vor sich hin.

Danach wollten sich die Therapeuten nicht lumpen lassen und Gesprächstherapeut Rogers hielt seinen mechanisch spiegelnden Fragenkatalog für so simpel, dass dieser sogar von einer repetierenden Papagei-Maschine herunterzurattern wäre.

Ob diese Therapiemaschinen inzwischen zur heutigen Therapeutengeneration mutiert sind, die bekanntlich nur die Frage stellen kann: Was fühlen Sie, wenn Sie sich authentisch anfühlen, hat die empirische Sozialforschung noch nicht erfasst. (Diskrete Mitteilungen bitte an die Redaktion.)

Überflüssige Zwischenbemerkung über die gruppendynamische Situation der deutschen Gazettenschreiber. Jeder Kenner des lustigen Göttergeschlechts weiß, wann die Unsterblichen ihre besten Tage hinter sich haben. Nämlich dann, wenn sie sich übermäßig einzuseifen und gleichzeitig zu meucheln beginnen. Wenn ihr Radius der Aufmerksamkeit nicht mehr weiter reicht als bis an den Tellerrand ihrer inzestuösen Befindlichkeiten.

Pünktlich zu den Bayreuther Schicksalsklängen haben Götterdämmerung und das gegenseitige Götterschlachten in den oberen Medienetagen begonnen. Wobei es keinen wesentlichen Unterschied macht, ob man mit Dolch im Gewande oder mit überzuckerten Lobsprüchen à la Augstein kommt. Mit letzteren man den Konkurrenten noch wirksamer aus dem Wege räumen kann als mit ordinärem Messerwetzen.

Das weiß der umtriebige Augstein und spielt geschickt die FAZ gegen die SZ aus, in der Hoffnung, beide Zeitungen zum Absaufen zu bringen, die er sodann als Retter in der Not zum Trostpreis aufkaufen und zu einem neuen Imperium zusammenpuzzeln kann. Jakob will endlich seinen Vater Rudolf mit einem Superprojekt in den Schatten stellen.

Mit seinen Lobtiraden hat er den Silberrücken Schirrmacher schon degradiert, frei nach Nietzsche: wer lobt, stellt sich über den Gelobten. Jakob ist der perfekte Vatermörder, nicht umsonst rühmt er die zweifelhafte Tugend der bedenkenlosen Brutalität beim FAZ-Herausgeber.

Auffällig ist der professionelle Spaltblick des Nachwuchsstars: alles, was er an Merkel moniert, lobt er bei Schirrmacher über den grünen Klee. Wenn Merkel ihre konservativen Denkinstrumente verrät und hemmungslos dem Ruf der Macht folgt, könnte Jakob die Pastorentochter an die Wand klatschen.

Doch quod licet Vati, non licet Mutti. Bei Vater Schirrmacher rühmt er bedenkenlos, was die von Macht unbefleckte Mutti sich niemals leisten darf. Wenn Mutti der siegreichen Geschichtsmacht hinterherläuft und sich von ihrem wehenden Mantelzipfel mitreißen lässt, ist es Pfui, wenn Vati dasselbe tut, ist es Hui.

Sollte es um unser Vaterland wirklich so schlecht bestellt sein, dass ein hechelnder Feuilletonist des Zeitgeistes den Deutschen das Denken vorschreibt, sollten wir schleunigst die Konsequenzen ziehen und lieber zur Angela, der Mutter Courage eines neuen Mutterlandes überlaufen. Es muss schon eine Riesentat sein, nach mehreren Finanzkrisen dem Kapitalismus die innige Freundschaft zu kündigen. Fragt sich nur, wie lange?

Womit wir zum Fazit kommen. Kurzweil, der Amerikaner, Schirrmacher und Augstein, die Deutschen, sie alle folgen den siegreichen Elementen der Geschichte wie ein Jagdhund der Blutspur. Wer sich rechtzeitig den triumphierenden Mächten der Zukunft beigesellt, gehört zu den finalen Gewinnern der Geschichte.

Die deutschen Intellektuellen lernen und lernen nichts. Hermann Hesse, Zauberer des Anfangs, schrieb ihnen schon vor Dekaden ins Stammbuch:

„Die Vorliebe für die sogenannte Geschichtsphilosophie gehört für uns zu den Hauptkennzeichen jener Epoche geistigen Tiefstandes und politischer Machtkämpfe größeren Umfangs, die wir zuweilen das „kriegerische Jahrhundert“ – heute müssten wir das wirtschaftliche und technologische Jahrhundert hinzufügen – „meistens aber die feuilletonistische Epoche nennen. Auf den Trümmern jener Epoche, aus der Bekämpfung und Überwindung ihres Geistes – oder Ungeistes – entstand unsere jetzige Kultur“.

Doch leider: hier irrte Hesse. Die jetzige, die „dritte Kultur“ der heutigen Feuilletonisten liegt ungebrochen im Bann einer omnipotenten Geschichte, die für alle denkt und für alle entscheidet.

Noch immer macht Geschichte den Menschen, der Mensch nicht die Geschichte.